Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.V. 7. Polen und Schleswigholstein. russischen Gesandten Medem mit und fügte hochmüthig hinzu: wenn Preußenwiderspricht, so gehen wir darüber hinweg (nous nous passerons de la Prusse). So rücksichtslos wollte der Czar doch nicht verfahren. Er schrieb seinem Schwager: nach Allem was geschehen müsse man sich freundschaft- lich über die unumgängliche Vernichtung Krakaus verständigen, "um ein- mal für allemal die verbrecherischen Anschläge zu vernichten;" darum solle sein General Graf Berg, ein ehrenhafter, in Preußen wohlbekannter Deut- scher, demnächst nach Berlin kommen.*) Auf Nikolaus' Wunsch kündigte auch Kaiser Ferdinand an, daß er seinen erprobten Unterhändler, den General Ficquelmont in die preußische Hauptstadt absenden wolle, und zu- gleich suchte Metternich das weiche Gemüth seines königlichen Freundes durch einen lehrhaften Brief zu bearbeiten: "Zu meiner moralischen Gestaltung gehört nebst manch anderen Hin- und Abneigungen die Hin- neigung zu den Sachen und die Scheue vor schalen oder gediegen schei- nenden aber in der That leeren Worten. Zu den letzteren gehört heute der Nationalismus und dessen direkte Anwendung auf den Polonismus. Mit den beiden Worten kann der gesammte Stand aller Weltreiche bis zu den kleinsten politischen Körpern nicht nur in Frage gestellt, sondern aus doktrinellen Gründen über den Haufen geworfen werden."**) Als die beiden Bevollmächtigten im April zu Berlin eintrafen, fanden Diesen Rechtsgrund hatte Canitz angegeben, denn er wollte jede Erwäh- *) Czar Nikolaus an König Friedrich Wilhelm, 5. März 1846. **) Schreiben an König Friedrich Wilhelm von Kaiser Ferdinand 29. März, von Metternich 29. März 1846. ***) Canitz, Observations confidentielles, April 1846.
V. 7. Polen und Schleswigholſtein. ruſſiſchen Geſandten Medem mit und fügte hochmüthig hinzu: wenn Preußenwiderſpricht, ſo gehen wir darüber hinweg (nous nous passerons de la Prusse). So rückſichtslos wollte der Czar doch nicht verfahren. Er ſchrieb ſeinem Schwager: nach Allem was geſchehen müſſe man ſich freundſchaft- lich über die unumgängliche Vernichtung Krakaus verſtändigen, „um ein- mal für allemal die verbrecheriſchen Anſchläge zu vernichten;“ darum ſolle ſein General Graf Berg, ein ehrenhafter, in Preußen wohlbekannter Deut- ſcher, demnächſt nach Berlin kommen.*) Auf Nikolaus’ Wunſch kündigte auch Kaiſer Ferdinand an, daß er ſeinen erprobten Unterhändler, den General Ficquelmont in die preußiſche Hauptſtadt abſenden wolle, und zu- gleich ſuchte Metternich das weiche Gemüth ſeines königlichen Freundes durch einen lehrhaften Brief zu bearbeiten: „Zu meiner moraliſchen Geſtaltung gehört nebſt manch anderen Hin- und Abneigungen die Hin- neigung zu den Sachen und die Scheue vor ſchalen oder gediegen ſchei- nenden aber in der That leeren Worten. Zu den letzteren gehört heute der Nationalismus und deſſen direkte Anwendung auf den Polonismus. Mit den beiden Worten kann der geſammte Stand aller Weltreiche bis zu den kleinſten politiſchen Körpern nicht nur in Frage geſtellt, ſondern aus doktrinellen Gründen über den Haufen geworfen werden.“**) Als die beiden Bevollmächtigten im April zu Berlin eintrafen, fanden Dieſen Rechtsgrund hatte Canitz angegeben, denn er wollte jede Erwäh- *) Czar Nikolaus an König Friedrich Wilhelm, 5. März 1846. **) Schreiben an König Friedrich Wilhelm von Kaiſer Ferdinand 29. März, von Metternich 29. März 1846. ***) Canitz, Observations confidentielles, April 1846.
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V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
ruſſiſchen Geſandten Medem mit und fügte hochmüthig hinzu: wenn Preußen
widerſpricht, ſo gehen wir darüber hinweg (nous nous passerons de la
Prusse). So rückſichtslos wollte der Czar doch nicht verfahren. Er ſchrieb
ſeinem Schwager: nach Allem was geſchehen müſſe man ſich freundſchaft-
lich über die unumgängliche Vernichtung Krakaus verſtändigen, „um ein-
mal für allemal die verbrecheriſchen Anſchläge zu vernichten;“ darum ſolle
ſein General Graf Berg, ein ehrenhafter, in Preußen wohlbekannter Deut-
ſcher, demnächſt nach Berlin kommen. *) Auf Nikolaus’ Wunſch kündigte
auch Kaiſer Ferdinand an, daß er ſeinen erprobten Unterhändler, den
General Ficquelmont in die preußiſche Hauptſtadt abſenden wolle, und zu-
gleich ſuchte Metternich das weiche Gemüth ſeines königlichen Freundes
durch einen lehrhaften Brief zu bearbeiten: „Zu meiner moraliſchen
Geſtaltung gehört nebſt manch anderen Hin- und Abneigungen die Hin-
neigung zu den Sachen und die Scheue vor ſchalen oder gediegen ſchei-
nenden aber in der That leeren Worten. Zu den letzteren gehört heute
der Nationalismus und deſſen direkte Anwendung auf den Polonismus.
Mit den beiden Worten kann der geſammte Stand aller Weltreiche bis
zu den kleinſten politiſchen Körpern nicht nur in Frage geſtellt, ſondern
aus doktrinellen Gründen über den Haufen geworfen werden.“ **)
Als die beiden Bevollmächtigten im April zu Berlin eintrafen, fanden
ſie das Auswärtige Amt ſchon wieder in anderen Händen. Miniſter
Bülow war an einem Gehirnleiden unheilbar erkrankt, und General Ca-
nitz, der bereits ſeit Monaten in Berlin weilte um bei den reichsſtändiſchen
Plänen des Königs Rath zu ertheilen, hatte ganz unvermuthet die er-
ledigte Stelle erhalten. Welche boshafte Tücke des Schickſals! Vor Kurzem
erſt hatte Canitz als Geſandter in Wien eine neue Theilung Polens für
unzuläſſig erklärt, und nun mußte er ſelbſt dabei mitwirken. Die Lehren
Metternich’s von der revolutionären Wirkſamkeit des „Nationalismus“ er-
kannte er ebenſo wenig an wie ſein König; doch mußte er zugeben, daß
die Radicalen das Polenthum mißbraucht und gefälſcht hatten, ***) und da
die Wiederherſtellung eines Kleinſtaates, der ſeit einem Menſchenalter die
Pflichten ſeiner Neutralität ſchmählich verletzt hatte, offenbar unmöglich
war, ſo genehmigte Preußen in einem geheimen Protokoll vom 15. April
die Vorſchläge der beiden Kaiſerhöfe. Die Republik Krakau ſollte dem
öſterreichiſchen Staate einverleibt werden, weil ſie ſich ſelbſt vernichtet habe.
Dieſen Rechtsgrund hatte Canitz angegeben, denn er wollte jede Erwäh-
nung des geheimen Vertrags von 1835 vermeiden. In welchem Lichte, ſo
ſagte er ſpäterhin, ſtänden wir vor der Welt da, wenn man erführe, daß
wir die Vernichtung Krakaus ſchon vor elf Jahren beſchloſſen und dieſen
*) Czar Nikolaus an König Friedrich Wilhelm, 5. März 1846.
**) Schreiben an König Friedrich Wilhelm von Kaiſer Ferdinand 29. März, von
Metternich 29. März 1846.
***) Canitz, Observations confidentielles, April 1846.
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