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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 7. Polen und Schleswigholstein.
sich die Meinung gebildet, daß die Türkei von innen heraus verjüngt, der
christlichen Cultur angenähert werden müsse. Mit Hilfe seines Freundes
Reschid Pascha erreichte er auch einzelne kleine Milderungen der barbarischen
Gesetze: die Folter ward abgeschafft, und der Großherr versprach mindestens,
daß der Uebertritt zum Christenthum nicht mehr mit dem Tode bestraft,
Christenkinder nicht mehr gewaltsam dem Islam zugeführt werden sollten.
Das Alles änderte freilich gar nichts an dem Wesen dieser orientalischen
Theokratie, an der hoffnungslosen Knechtschaft der Rajah-Völker. Die
russenfeindliche liberale Presse Europas aber verherrlichte mit treufleißiger
Begeisterung alle die Wunderthaten der türkisch-englischen Reformpolitik.
Unermeßlich war der Jubel, als ein diplomatisches Prunkmahl abgehalten
wurde im Palaste Beglerbeg, in jenen üppigen Kuppelsälen, wo der Harem
des Padischahs sich morgens in Gegenwart seines erhabenen Gebieters
zu baden pflegte, und der große Elchi den Trinkspruch ausbrachte: die Civi-
lisation und der Fortschritt in der Türkei, die entente cordiale überall,
vornehmlich zwischen Abendland und Morgenland! Nach langen Jahren
erst sollte Stratford selbst erkennen, daß er edle Kraft an ein unmögliches
Unternehmen verschwendet hatte, daß die Sitten des Harems sich mit der
christlichen Cultur doch nicht so leicht vereinigen ließen. Vorläufig behaup-
tete der englische Gesandte am Goldenen Horn eine Herrschaft, die nur
selten durch das Erscheinen eines russischen Generaladjutanten unlieb-
sam gestört wurde. Czar Nikolaus wartete seiner Stunde, da er wohl
einsah, daß seine Diplomaten es mit Stratford's überlegener Persönlich-
keit nicht aufnehmen konnten. Er sagte grimmig: ich thue nichts gegen
den Bosporus so lange England und Frankreich sich ruhig halten; wagen
sie aber etwas "dann werde ich gewiß der erste in Konstantinopel sein und
nicht loslassen".*)

In Deutschland ward das öffentliche Urtheil zugleich berichtigt und ver-
wirrt durch die Fragmente aus dem Orient von dem Tyroler Jakob Fall-
merayer, ein geistreiches Buch, das den allgemeinen Russenhaß noch stärker
aufreizte als vordem Urquhart's Portfolio. "Der Kampf zwischen Licht
und Finsterniß, zwischen persönlicher Freiheit und schmachvollem Russen-
thum, zwischen pfäffisch-demüthiger Niederträchtigkeit und freier sittlicher
Würde" erschien dem Fragmentisten als der Inhalt der neuen Geschichte.
Fallmerayer war auf seinen weiten orientalischen Reisen und durch gründ-
liche Erforschung der byzantinischen Geschichte zu der Ueberzeugung ge-
langt, daß geistliche Allmacht und menschliche Erniedrigung überall zu-
sammengehen -- einer Ansicht, die sich dort in den Landen des Islams
und des Cäsaropapismus allerdings jedem freien Geiste von selber auf-
drängt; er bewunderte Konstantinopel als "die Metropolis des Erdbodens,
wo die Loose für Europas Zukunft geschrieben würden". Der phantastische

*) Rochow's Bericht, 30. Dec. 1846.

V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
ſich die Meinung gebildet, daß die Türkei von innen heraus verjüngt, der
chriſtlichen Cultur angenähert werden müſſe. Mit Hilfe ſeines Freundes
Reſchid Paſcha erreichte er auch einzelne kleine Milderungen der barbariſchen
Geſetze: die Folter ward abgeſchafft, und der Großherr verſprach mindeſtens,
daß der Uebertritt zum Chriſtenthum nicht mehr mit dem Tode beſtraft,
Chriſtenkinder nicht mehr gewaltſam dem Islam zugeführt werden ſollten.
Das Alles änderte freilich gar nichts an dem Weſen dieſer orientaliſchen
Theokratie, an der hoffnungsloſen Knechtſchaft der Rajah-Völker. Die
ruſſenfeindliche liberale Preſſe Europas aber verherrlichte mit treufleißiger
Begeiſterung alle die Wunderthaten der türkiſch-engliſchen Reformpolitik.
Unermeßlich war der Jubel, als ein diplomatiſches Prunkmahl abgehalten
wurde im Palaſte Beglerbeg, in jenen üppigen Kuppelſälen, wo der Harem
des Padiſchahs ſich morgens in Gegenwart ſeines erhabenen Gebieters
zu baden pflegte, und der große Elchi den Trinkſpruch ausbrachte: die Civi-
liſation und der Fortſchritt in der Türkei, die entente cordiale überall,
vornehmlich zwiſchen Abendland und Morgenland! Nach langen Jahren
erſt ſollte Stratford ſelbſt erkennen, daß er edle Kraft an ein unmögliches
Unternehmen verſchwendet hatte, daß die Sitten des Harems ſich mit der
chriſtlichen Cultur doch nicht ſo leicht vereinigen ließen. Vorläufig behaup-
tete der engliſche Geſandte am Goldenen Horn eine Herrſchaft, die nur
ſelten durch das Erſcheinen eines ruſſiſchen Generaladjutanten unlieb-
ſam geſtört wurde. Czar Nikolaus wartete ſeiner Stunde, da er wohl
einſah, daß ſeine Diplomaten es mit Stratford’s überlegener Perſönlich-
keit nicht aufnehmen konnten. Er ſagte grimmig: ich thue nichts gegen
den Bosporus ſo lange England und Frankreich ſich ruhig halten; wagen
ſie aber etwas „dann werde ich gewiß der erſte in Konſtantinopel ſein und
nicht loslaſſen“.*)

In Deutſchland ward das öffentliche Urtheil zugleich berichtigt und ver-
wirrt durch die Fragmente aus dem Orient von dem Tyroler Jakob Fall-
merayer, ein geiſtreiches Buch, das den allgemeinen Ruſſenhaß noch ſtärker
aufreizte als vordem Urquhart’s Portfolio. „Der Kampf zwiſchen Licht
und Finſterniß, zwiſchen perſönlicher Freiheit und ſchmachvollem Ruſſen-
thum, zwiſchen pfäffiſch-demüthiger Niederträchtigkeit und freier ſittlicher
Würde“ erſchien dem Fragmentiſten als der Inhalt der neuen Geſchichte.
Fallmerayer war auf ſeinen weiten orientaliſchen Reiſen und durch gründ-
liche Erforſchung der byzantiniſchen Geſchichte zu der Ueberzeugung ge-
langt, daß geiſtliche Allmacht und menſchliche Erniedrigung überall zu-
ſammengehen — einer Anſicht, die ſich dort in den Landen des Islams
und des Cäſaropapismus allerdings jedem freien Geiſte von ſelber auf-
drängt; er bewunderte Konſtantinopel als „die Metropolis des Erdbodens,
wo die Looſe für Europas Zukunft geſchrieben würden“. Der phantaſtiſche

*) Rochow’s Bericht, 30. Dec. 1846.
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[538/0552] V. 7. Polen und Schleswigholſtein. ſich die Meinung gebildet, daß die Türkei von innen heraus verjüngt, der chriſtlichen Cultur angenähert werden müſſe. Mit Hilfe ſeines Freundes Reſchid Paſcha erreichte er auch einzelne kleine Milderungen der barbariſchen Geſetze: die Folter ward abgeſchafft, und der Großherr verſprach mindeſtens, daß der Uebertritt zum Chriſtenthum nicht mehr mit dem Tode beſtraft, Chriſtenkinder nicht mehr gewaltſam dem Islam zugeführt werden ſollten. Das Alles änderte freilich gar nichts an dem Weſen dieſer orientaliſchen Theokratie, an der hoffnungsloſen Knechtſchaft der Rajah-Völker. Die ruſſenfeindliche liberale Preſſe Europas aber verherrlichte mit treufleißiger Begeiſterung alle die Wunderthaten der türkiſch-engliſchen Reformpolitik. Unermeßlich war der Jubel, als ein diplomatiſches Prunkmahl abgehalten wurde im Palaſte Beglerbeg, in jenen üppigen Kuppelſälen, wo der Harem des Padiſchahs ſich morgens in Gegenwart ſeines erhabenen Gebieters zu baden pflegte, und der große Elchi den Trinkſpruch ausbrachte: die Civi- liſation und der Fortſchritt in der Türkei, die entente cordiale überall, vornehmlich zwiſchen Abendland und Morgenland! Nach langen Jahren erſt ſollte Stratford ſelbſt erkennen, daß er edle Kraft an ein unmögliches Unternehmen verſchwendet hatte, daß die Sitten des Harems ſich mit der chriſtlichen Cultur doch nicht ſo leicht vereinigen ließen. Vorläufig behaup- tete der engliſche Geſandte am Goldenen Horn eine Herrſchaft, die nur ſelten durch das Erſcheinen eines ruſſiſchen Generaladjutanten unlieb- ſam geſtört wurde. Czar Nikolaus wartete ſeiner Stunde, da er wohl einſah, daß ſeine Diplomaten es mit Stratford’s überlegener Perſönlich- keit nicht aufnehmen konnten. Er ſagte grimmig: ich thue nichts gegen den Bosporus ſo lange England und Frankreich ſich ruhig halten; wagen ſie aber etwas „dann werde ich gewiß der erſte in Konſtantinopel ſein und nicht loslaſſen“. *) In Deutſchland ward das öffentliche Urtheil zugleich berichtigt und ver- wirrt durch die Fragmente aus dem Orient von dem Tyroler Jakob Fall- merayer, ein geiſtreiches Buch, das den allgemeinen Ruſſenhaß noch ſtärker aufreizte als vordem Urquhart’s Portfolio. „Der Kampf zwiſchen Licht und Finſterniß, zwiſchen perſönlicher Freiheit und ſchmachvollem Ruſſen- thum, zwiſchen pfäffiſch-demüthiger Niederträchtigkeit und freier ſittlicher Würde“ erſchien dem Fragmentiſten als der Inhalt der neuen Geſchichte. Fallmerayer war auf ſeinen weiten orientaliſchen Reiſen und durch gründ- liche Erforſchung der byzantiniſchen Geſchichte zu der Ueberzeugung ge- langt, daß geiſtliche Allmacht und menſchliche Erniedrigung überall zu- ſammengehen — einer Anſicht, die ſich dort in den Landen des Islams und des Cäſaropapismus allerdings jedem freien Geiſte von ſelber auf- drängt; er bewunderte Konſtantinopel als „die Metropolis des Erdbodens, wo die Looſe für Europas Zukunft geſchrieben würden“. Der phantaſtiſche *) Rochow’s Bericht, 30. Dec. 1846.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 538. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/552>, abgerufen am 22.11.2024.