Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
Heimath, dem wichtigsten Industrielande der Monarchie, wenig Zustim-
mung, die böhmischen Fabrikanten fürchteten alle den deutschen Wettbewerb.

Sogar der alternde Metternich empfand dunkel, daß man das ver-
morschte Zollwesen zerbrechen mußte. Er hatte einst den werdenden Zoll-
verein, als es schon viel zu spät war, zu vernichten gesucht. Jetzt gingen
ihm die Augen auf. Als er im Sommer 1841 seinen Johannisberg wieder
besuchte, da fiel ihm auf, wie überall in Deutschland unter dem Schutze
der Handelseinheit Verkehr und Wohlstand emporwuchsen; er ahnte, dieser
Zollverein würde bald unaufhaltsam um sich greifend das ganze Deutsch-
land verschlingen, und nun endlich verfiel er auf die Frage, ob nicht
Oesterreich selbst beitreten solle um Preußen zu überflügeln. Abel und
die anderen clericalen Freunde in München hatten ihn ja so inbrünstig
versichert, ganz Süddeutschland wünsche diesen Beitritt, damit Preußens
Hegemonie ein Gegengewicht erhielte. Doch zu Deutschlands Glück war
Metternich in allen volkswirthschaftlichen Dingen noch immer ebenso un-
wissend, wie vor Jahren da Motz über seine handelspolitische Weisheit spottete.

Alles Ernstes behauptete er: im alten deutschen Reiche "galten gleiche
Handelsberechtigungen für alle Mitglieder desselben"; und ebenso gründ-
lich wie die deutsche Handelsgeschichte kannte er auch die Verfassung des
Zollvereins. Er verlangte lediglich eine Ermäßigung der erdrückenden
Prohibitivzölle als "Anfang einer Einlenkung in das deutsche Zollsystem"
und begriff nicht, daß Oesterreich sich durch diese armselige Reform dem
Zollvereine kaum ebenso weit genähert hätte wie England oder Frankreich.
Hell vor Augen stand ihm nur die Hoffnung, Preußen zu bekämpfen; alles
Andere war unklarer Dilettantismus. In solchem Sinne schrieb er an den
neuen Leiter des Finanzwesens, den Hof-Kammerpräsidenten Kübeck, einen
thätigen, brauchbaren Beamten, der als Plebejer von der öffentlichen Mei-
nung anfangs mit großen Erwartungen empfangen wurde, doch bald genug
zeigte, daß er weder das unsterbliche Deficit beseitigen noch einen schöpfe-
rischen Gedanken finden konnte. Im November 1841 beriethen die Mi-
nister über eine mögliche Annäherung an Deutschland; aber die Entschei-
dung wurde vertagt, denn der alte Todfeind jeder Reform, Erzherzog Lud-
wig führte den Vorsitz, und im Stillen sagte sich Jeder, daß die nicht
deutschen Kronländer solchen Plänen unmöglich folgen konnten. Als Kü-
beck zwei Jahre darauf den Entwurf eines milderen Zollgesetzes vorlegte,
da scheiterte Alles an dem Widerspruche der böhmischen Fabrikanten. Das
alte "taubstumme System" -- so nannte es Canitz -- blieb unwandelbar
im Zollwesen wie in der gesammten Verwaltung.*) Kamen unterweilen
noch einzelne deutsche Verehrer Oesterreichs nach Wien um wegen mög-
licher Handelserleichterungen anzufragen, dann empfing sie Metternich
freundlich; zuletzt fand er doch immer, das sei Ideologie, und Canitz be-

*) Canitz's Bericht, 13. Dec. 1843.

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Heimath, dem wichtigſten Induſtrielande der Monarchie, wenig Zuſtim-
mung, die böhmiſchen Fabrikanten fürchteten alle den deutſchen Wettbewerb.

Sogar der alternde Metternich empfand dunkel, daß man das ver-
morſchte Zollweſen zerbrechen mußte. Er hatte einſt den werdenden Zoll-
verein, als es ſchon viel zu ſpät war, zu vernichten geſucht. Jetzt gingen
ihm die Augen auf. Als er im Sommer 1841 ſeinen Johannisberg wieder
beſuchte, da fiel ihm auf, wie überall in Deutſchland unter dem Schutze
der Handelseinheit Verkehr und Wohlſtand emporwuchſen; er ahnte, dieſer
Zollverein würde bald unaufhaltſam um ſich greifend das ganze Deutſch-
land verſchlingen, und nun endlich verfiel er auf die Frage, ob nicht
Oeſterreich ſelbſt beitreten ſolle um Preußen zu überflügeln. Abel und
die anderen clericalen Freunde in München hatten ihn ja ſo inbrünſtig
verſichert, ganz Süddeutſchland wünſche dieſen Beitritt, damit Preußens
Hegemonie ein Gegengewicht erhielte. Doch zu Deutſchlands Glück war
Metternich in allen volkswirthſchaftlichen Dingen noch immer ebenſo un-
wiſſend, wie vor Jahren da Motz über ſeine handelspolitiſche Weisheit ſpottete.

Alles Ernſtes behauptete er: im alten deutſchen Reiche „galten gleiche
Handelsberechtigungen für alle Mitglieder deſſelben“; und ebenſo gründ-
lich wie die deutſche Handelsgeſchichte kannte er auch die Verfaſſung des
Zollvereins. Er verlangte lediglich eine Ermäßigung der erdrückenden
Prohibitivzölle als „Anfang einer Einlenkung in das deutſche Zollſyſtem“
und begriff nicht, daß Oeſterreich ſich durch dieſe armſelige Reform dem
Zollvereine kaum ebenſo weit genähert hätte wie England oder Frankreich.
Hell vor Augen ſtand ihm nur die Hoffnung, Preußen zu bekämpfen; alles
Andere war unklarer Dilettantismus. In ſolchem Sinne ſchrieb er an den
neuen Leiter des Finanzweſens, den Hof-Kammerpräſidenten Kübeck, einen
thätigen, brauchbaren Beamten, der als Plebejer von der öffentlichen Mei-
nung anfangs mit großen Erwartungen empfangen wurde, doch bald genug
zeigte, daß er weder das unſterbliche Deficit beſeitigen noch einen ſchöpfe-
riſchen Gedanken finden konnte. Im November 1841 beriethen die Mi-
niſter über eine mögliche Annäherung an Deutſchland; aber die Entſchei-
dung wurde vertagt, denn der alte Todfeind jeder Reform, Erzherzog Lud-
wig führte den Vorſitz, und im Stillen ſagte ſich Jeder, daß die nicht
deutſchen Kronländer ſolchen Plänen unmöglich folgen konnten. Als Kü-
beck zwei Jahre darauf den Entwurf eines milderen Zollgeſetzes vorlegte,
da ſcheiterte Alles an dem Widerſpruche der böhmiſchen Fabrikanten. Das
alte „taubſtumme Syſtem“ — ſo nannte es Canitz — blieb unwandelbar
im Zollweſen wie in der geſammten Verwaltung.*) Kamen unterweilen
noch einzelne deutſche Verehrer Oeſterreichs nach Wien um wegen mög-
licher Handelserleichterungen anzufragen, dann empfing ſie Metternich
freundlich; zuletzt fand er doch immer, das ſei Ideologie, und Canitz be-

*) Canitz’s Bericht, 13. Dec. 1843.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0488" n="474"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirth&#x017F;chaft.</fw><lb/>
Heimath, dem wichtig&#x017F;ten Indu&#x017F;trielande der Monarchie, wenig Zu&#x017F;tim-<lb/>
mung, die böhmi&#x017F;chen Fabrikanten fürchteten alle den deut&#x017F;chen Wettbewerb.</p><lb/>
          <p>Sogar der alternde Metternich empfand dunkel, daß man das ver-<lb/>
mor&#x017F;chte Zollwe&#x017F;en zerbrechen mußte. Er hatte ein&#x017F;t den werdenden Zoll-<lb/>
verein, als es &#x017F;chon viel zu &#x017F;pät war, zu vernichten ge&#x017F;ucht. Jetzt gingen<lb/>
ihm die Augen auf. Als er im Sommer 1841 &#x017F;einen Johannisberg wieder<lb/>
be&#x017F;uchte, da fiel ihm auf, wie überall in Deut&#x017F;chland unter dem Schutze<lb/>
der Handelseinheit Verkehr und Wohl&#x017F;tand emporwuch&#x017F;en; er ahnte, die&#x017F;er<lb/>
Zollverein würde bald unaufhalt&#x017F;am um &#x017F;ich greifend das ganze Deut&#x017F;ch-<lb/>
land ver&#x017F;chlingen, und nun endlich verfiel er auf die Frage, ob nicht<lb/>
Oe&#x017F;terreich &#x017F;elb&#x017F;t beitreten &#x017F;olle um Preußen zu überflügeln. Abel und<lb/>
die anderen clericalen Freunde in München hatten ihn ja &#x017F;o inbrün&#x017F;tig<lb/>
ver&#x017F;ichert, ganz Süddeut&#x017F;chland wün&#x017F;che die&#x017F;en Beitritt, damit Preußens<lb/>
Hegemonie ein Gegengewicht erhielte. Doch zu Deut&#x017F;chlands Glück war<lb/>
Metternich in allen volkswirth&#x017F;chaftlichen Dingen noch immer eben&#x017F;o un-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;end, wie vor Jahren da Motz über &#x017F;eine handelspoliti&#x017F;che Weisheit &#x017F;pottete.</p><lb/>
          <p>Alles Ern&#x017F;tes behauptete er: im alten deut&#x017F;chen Reiche &#x201E;galten gleiche<lb/>
Handelsberechtigungen für alle Mitglieder de&#x017F;&#x017F;elben&#x201C;; und eben&#x017F;o gründ-<lb/>
lich wie die deut&#x017F;che Handelsge&#x017F;chichte kannte er auch die Verfa&#x017F;&#x017F;ung des<lb/>
Zollvereins. Er verlangte lediglich eine Ermäßigung der erdrückenden<lb/>
Prohibitivzölle als &#x201E;Anfang einer Einlenkung in das deut&#x017F;che Zoll&#x017F;y&#x017F;tem&#x201C;<lb/>
und begriff nicht, daß Oe&#x017F;terreich &#x017F;ich durch die&#x017F;e arm&#x017F;elige Reform dem<lb/>
Zollvereine kaum eben&#x017F;o weit genähert hätte wie England oder Frankreich.<lb/>
Hell vor Augen &#x017F;tand ihm nur die Hoffnung, Preußen zu bekämpfen; alles<lb/>
Andere war unklarer Dilettantismus. In &#x017F;olchem Sinne &#x017F;chrieb er an den<lb/>
neuen Leiter des Finanzwe&#x017F;ens, den Hof-Kammerprä&#x017F;identen Kübeck, einen<lb/>
thätigen, brauchbaren Beamten, der als Plebejer von der öffentlichen Mei-<lb/>
nung anfangs mit großen Erwartungen empfangen wurde, doch bald genug<lb/>
zeigte, daß er weder das un&#x017F;terbliche Deficit be&#x017F;eitigen noch einen &#x017F;chöpfe-<lb/>
ri&#x017F;chen Gedanken finden konnte. Im November 1841 beriethen die Mi-<lb/>
ni&#x017F;ter über eine mögliche Annäherung an Deut&#x017F;chland; aber die Ent&#x017F;chei-<lb/>
dung wurde vertagt, denn der alte Todfeind jeder Reform, Erzherzog Lud-<lb/>
wig führte den Vor&#x017F;itz, und im Stillen &#x017F;agte &#x017F;ich Jeder, daß die nicht<lb/>
deut&#x017F;chen Kronländer &#x017F;olchen Plänen unmöglich folgen konnten. Als Kü-<lb/>
beck zwei Jahre darauf den Entwurf eines milderen Zollge&#x017F;etzes vorlegte,<lb/>
da &#x017F;cheiterte Alles an dem Wider&#x017F;pruche der böhmi&#x017F;chen Fabrikanten. Das<lb/>
alte &#x201E;taub&#x017F;tumme Sy&#x017F;tem&#x201C; &#x2014; &#x017F;o nannte es Canitz &#x2014; blieb unwandelbar<lb/>
im Zollwe&#x017F;en wie in der ge&#x017F;ammten Verwaltung.<note place="foot" n="*)">Canitz&#x2019;s Bericht, 13. Dec. 1843.</note> Kamen unterweilen<lb/>
noch einzelne deut&#x017F;che Verehrer Oe&#x017F;terreichs nach Wien um wegen mög-<lb/>
licher Handelserleichterungen anzufragen, dann empfing &#x017F;ie Metternich<lb/>
freundlich; zuletzt fand er doch immer, das &#x017F;ei Ideologie, und Canitz be-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[474/0488] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. Heimath, dem wichtigſten Induſtrielande der Monarchie, wenig Zuſtim- mung, die böhmiſchen Fabrikanten fürchteten alle den deutſchen Wettbewerb. Sogar der alternde Metternich empfand dunkel, daß man das ver- morſchte Zollweſen zerbrechen mußte. Er hatte einſt den werdenden Zoll- verein, als es ſchon viel zu ſpät war, zu vernichten geſucht. Jetzt gingen ihm die Augen auf. Als er im Sommer 1841 ſeinen Johannisberg wieder beſuchte, da fiel ihm auf, wie überall in Deutſchland unter dem Schutze der Handelseinheit Verkehr und Wohlſtand emporwuchſen; er ahnte, dieſer Zollverein würde bald unaufhaltſam um ſich greifend das ganze Deutſch- land verſchlingen, und nun endlich verfiel er auf die Frage, ob nicht Oeſterreich ſelbſt beitreten ſolle um Preußen zu überflügeln. Abel und die anderen clericalen Freunde in München hatten ihn ja ſo inbrünſtig verſichert, ganz Süddeutſchland wünſche dieſen Beitritt, damit Preußens Hegemonie ein Gegengewicht erhielte. Doch zu Deutſchlands Glück war Metternich in allen volkswirthſchaftlichen Dingen noch immer ebenſo un- wiſſend, wie vor Jahren da Motz über ſeine handelspolitiſche Weisheit ſpottete. Alles Ernſtes behauptete er: im alten deutſchen Reiche „galten gleiche Handelsberechtigungen für alle Mitglieder deſſelben“; und ebenſo gründ- lich wie die deutſche Handelsgeſchichte kannte er auch die Verfaſſung des Zollvereins. Er verlangte lediglich eine Ermäßigung der erdrückenden Prohibitivzölle als „Anfang einer Einlenkung in das deutſche Zollſyſtem“ und begriff nicht, daß Oeſterreich ſich durch dieſe armſelige Reform dem Zollvereine kaum ebenſo weit genähert hätte wie England oder Frankreich. Hell vor Augen ſtand ihm nur die Hoffnung, Preußen zu bekämpfen; alles Andere war unklarer Dilettantismus. In ſolchem Sinne ſchrieb er an den neuen Leiter des Finanzweſens, den Hof-Kammerpräſidenten Kübeck, einen thätigen, brauchbaren Beamten, der als Plebejer von der öffentlichen Mei- nung anfangs mit großen Erwartungen empfangen wurde, doch bald genug zeigte, daß er weder das unſterbliche Deficit beſeitigen noch einen ſchöpfe- riſchen Gedanken finden konnte. Im November 1841 beriethen die Mi- niſter über eine mögliche Annäherung an Deutſchland; aber die Entſchei- dung wurde vertagt, denn der alte Todfeind jeder Reform, Erzherzog Lud- wig führte den Vorſitz, und im Stillen ſagte ſich Jeder, daß die nicht deutſchen Kronländer ſolchen Plänen unmöglich folgen konnten. Als Kü- beck zwei Jahre darauf den Entwurf eines milderen Zollgeſetzes vorlegte, da ſcheiterte Alles an dem Widerſpruche der böhmiſchen Fabrikanten. Das alte „taubſtumme Syſtem“ — ſo nannte es Canitz — blieb unwandelbar im Zollweſen wie in der geſammten Verwaltung. *) Kamen unterweilen noch einzelne deutſche Verehrer Oeſterreichs nach Wien um wegen mög- licher Handelserleichterungen anzufragen, dann empfing ſie Metternich freundlich; zuletzt fand er doch immer, das ſei Ideologie, und Canitz be- *) Canitz’s Bericht, 13. Dec. 1843.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/488
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 474. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/488>, abgerufen am 22.11.2024.