zwei Drittel verminderte, stieg die englische Einfuhr beständig, die des Leinengarns allein wuchs in fünf Jahren (1840 -- 44) auf mehr als das Dreifache an, von 19,000 auf 62,000 Ctr.
Die Regierung verhielt sich bei alledem fast ganz unthätig; sie glaubte noch lange an die alte Unüberwindlichkeit der schlesischen Leinenwaaren, und als sie von diesem Irrthum endlich zurückkam, da meinten die Geheimen Räthe gleichmüthig, gegen die Naturgesetze der Volkswirthschaft könne man nichts ausrichten. Und doch war grade hier, inmitten eines blutarmen, bis zur Willenlosigkeit ermatteten Volkes fridericianische Bevormundung, durchgreifende Staatshilfe ganz am Platze: der Staat mußte Schutzzölle gewähren, Maschinen ankaufen, Spinnschulen und große mechanische Spin- nereien errichten, wenn diese halbverhungerten Menschen dem englischen Capital nicht erliegen sollten. Merckel aber, der tüchtige, um das Wohl Schlesiens unablässig besorgte Oberpräsident, bemühte sich seit Jahren die neuen Agrargesetze gegen den Widerstand der Grundherren durchzuführen, er lebte und webte in den Emancipationsgedanken der Hardenbergischen Zeiten, Freiheit des Eigenthums und der Arbeitskräfte blieb ihm das Höchste. Die schlesische Hausindustrie war längst frei, sie hatte einen Zunftzwang nie gekannt; Merckel begriff nicht, was der Staat dort noch helfen solle, und wollte von dem Jammer im Riesengebirge nichts hören. Festgebannt in seiner volkswirthschaftlichen Theorie verabsäumte er also seine staatsmän- nische Pflicht und verfiel, gleich vielen seiner besten Amtsgenossen, in eine tragische Schuld, weil er nicht rechtzeitig einsah, daß die befreiende Staats- gewalt in diesem Jahrhundert der wirthschaftlichen Wandlungen auch zu zwingen und zu schützen verstehen mußte. Die Ungunst der Verhältnisse des Weltmarkts und die langjährigen Unterlassungssünden der Regierung hatten jetzt das Elend der schlesischen Leinwandindustrie schon so hoch ge- steigert, daß Schutzzölle allein kaum noch viel helfen konnten.
Auch die neuen, zum Theil sehr leichtfertig gegründeten Baumwoll- spinnereien des Südens verlangten heftig nach stärkerem Schutz, während die Baumwollwebereien den bestehenden Twistzoll, der etwa 6 Procent vom Werthe betrug, schon viel zu hoch fanden. So entbrannte der lange, leidenschaftliche Kampf zwischen Spinnern und Webern. Jeder der ver- bündeten Höfe suchte, wie billig, das in seinem Lande überwiegende Interesse zu begünstigen; die sächsische Regierung trat an die Spitze der Frei- handelspartei, weil die großen Baumwollfabriken des Erzgebirges fast aus- schließlich englisches Baumwollengarn verarbeiteten. Im preußischen Finanz- ministerium bemühte man sich redlich, die beiden feindlichen Interessen gegen einander abzuwägen und entschied sich endlich gegen die Erhöhung der Garnzölle, da Kühne berechnete, daß die Weberei im gesammten Zoll- vereine unvergleichlich mehr Arbeitskräfte beschäftigte als die Spinnerei. Aber so mechanisch, nach Zahlen allein, lassen sich die lebendigen Kräfte der nationalen Wirthschaft nicht abschätzen. Die stark übertriebenen
Forderungen der Schutzzollpartei.
zwei Drittel verminderte, ſtieg die engliſche Einfuhr beſtändig, die des Leinengarns allein wuchs in fünf Jahren (1840 — 44) auf mehr als das Dreifache an, von 19,000 auf 62,000 Ctr.
Die Regierung verhielt ſich bei alledem faſt ganz unthätig; ſie glaubte noch lange an die alte Unüberwindlichkeit der ſchleſiſchen Leinenwaaren, und als ſie von dieſem Irrthum endlich zurückkam, da meinten die Geheimen Räthe gleichmüthig, gegen die Naturgeſetze der Volkswirthſchaft könne man nichts ausrichten. Und doch war grade hier, inmitten eines blutarmen, bis zur Willenloſigkeit ermatteten Volkes fridericianiſche Bevormundung, durchgreifende Staatshilfe ganz am Platze: der Staat mußte Schutzzölle gewähren, Maſchinen ankaufen, Spinnſchulen und große mechaniſche Spin- nereien errichten, wenn dieſe halbverhungerten Menſchen dem engliſchen Capital nicht erliegen ſollten. Merckel aber, der tüchtige, um das Wohl Schleſiens unabläſſig beſorgte Oberpräſident, bemühte ſich ſeit Jahren die neuen Agrargeſetze gegen den Widerſtand der Grundherren durchzuführen, er lebte und webte in den Emancipationsgedanken der Hardenbergiſchen Zeiten, Freiheit des Eigenthums und der Arbeitskräfte blieb ihm das Höchſte. Die ſchleſiſche Hausinduſtrie war längſt frei, ſie hatte einen Zunftzwang nie gekannt; Merckel begriff nicht, was der Staat dort noch helfen ſolle, und wollte von dem Jammer im Rieſengebirge nichts hören. Feſtgebannt in ſeiner volkswirthſchaftlichen Theorie verabſäumte er alſo ſeine ſtaatsmän- niſche Pflicht und verfiel, gleich vielen ſeiner beſten Amtsgenoſſen, in eine tragiſche Schuld, weil er nicht rechtzeitig einſah, daß die befreiende Staats- gewalt in dieſem Jahrhundert der wirthſchaftlichen Wandlungen auch zu zwingen und zu ſchützen verſtehen mußte. Die Ungunſt der Verhältniſſe des Weltmarkts und die langjährigen Unterlaſſungsſünden der Regierung hatten jetzt das Elend der ſchleſiſchen Leinwandinduſtrie ſchon ſo hoch ge- ſteigert, daß Schutzzölle allein kaum noch viel helfen konnten.
Auch die neuen, zum Theil ſehr leichtfertig gegründeten Baumwoll- ſpinnereien des Südens verlangten heftig nach ſtärkerem Schutz, während die Baumwollwebereien den beſtehenden Twiſtzoll, der etwa 6 Procent vom Werthe betrug, ſchon viel zu hoch fanden. So entbrannte der lange, leidenſchaftliche Kampf zwiſchen Spinnern und Webern. Jeder der ver- bündeten Höfe ſuchte, wie billig, das in ſeinem Lande überwiegende Intereſſe zu begünſtigen; die ſächſiſche Regierung trat an die Spitze der Frei- handelspartei, weil die großen Baumwollfabriken des Erzgebirges faſt aus- ſchließlich engliſches Baumwollengarn verarbeiteten. Im preußiſchen Finanz- miniſterium bemühte man ſich redlich, die beiden feindlichen Intereſſen gegen einander abzuwägen und entſchied ſich endlich gegen die Erhöhung der Garnzölle, da Kühne berechnete, daß die Weberei im geſammten Zoll- vereine unvergleichlich mehr Arbeitskräfte beſchäftigte als die Spinnerei. Aber ſo mechaniſch, nach Zahlen allein, laſſen ſich die lebendigen Kräfte der nationalen Wirthſchaft nicht abſchätzen. Die ſtark übertriebenen
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[469/0483]
Forderungen der Schutzzollpartei.
zwei Drittel verminderte, ſtieg die engliſche Einfuhr beſtändig, die des
Leinengarns allein wuchs in fünf Jahren (1840 — 44) auf mehr als
das Dreifache an, von 19,000 auf 62,000 Ctr.
Die Regierung verhielt ſich bei alledem faſt ganz unthätig; ſie glaubte
noch lange an die alte Unüberwindlichkeit der ſchleſiſchen Leinenwaaren,
und als ſie von dieſem Irrthum endlich zurückkam, da meinten die Geheimen
Räthe gleichmüthig, gegen die Naturgeſetze der Volkswirthſchaft könne man
nichts ausrichten. Und doch war grade hier, inmitten eines blutarmen,
bis zur Willenloſigkeit ermatteten Volkes fridericianiſche Bevormundung,
durchgreifende Staatshilfe ganz am Platze: der Staat mußte Schutzzölle
gewähren, Maſchinen ankaufen, Spinnſchulen und große mechaniſche Spin-
nereien errichten, wenn dieſe halbverhungerten Menſchen dem engliſchen
Capital nicht erliegen ſollten. Merckel aber, der tüchtige, um das Wohl
Schleſiens unabläſſig beſorgte Oberpräſident, bemühte ſich ſeit Jahren die
neuen Agrargeſetze gegen den Widerſtand der Grundherren durchzuführen,
er lebte und webte in den Emancipationsgedanken der Hardenbergiſchen
Zeiten, Freiheit des Eigenthums und der Arbeitskräfte blieb ihm das Höchſte.
Die ſchleſiſche Hausinduſtrie war längſt frei, ſie hatte einen Zunftzwang
nie gekannt; Merckel begriff nicht, was der Staat dort noch helfen ſolle, und
wollte von dem Jammer im Rieſengebirge nichts hören. Feſtgebannt in
ſeiner volkswirthſchaftlichen Theorie verabſäumte er alſo ſeine ſtaatsmän-
niſche Pflicht und verfiel, gleich vielen ſeiner beſten Amtsgenoſſen, in eine
tragiſche Schuld, weil er nicht rechtzeitig einſah, daß die befreiende Staats-
gewalt in dieſem Jahrhundert der wirthſchaftlichen Wandlungen auch zu
zwingen und zu ſchützen verſtehen mußte. Die Ungunſt der Verhältniſſe
des Weltmarkts und die langjährigen Unterlaſſungsſünden der Regierung
hatten jetzt das Elend der ſchleſiſchen Leinwandinduſtrie ſchon ſo hoch ge-
ſteigert, daß Schutzzölle allein kaum noch viel helfen konnten.
Auch die neuen, zum Theil ſehr leichtfertig gegründeten Baumwoll-
ſpinnereien des Südens verlangten heftig nach ſtärkerem Schutz, während
die Baumwollwebereien den beſtehenden Twiſtzoll, der etwa 6 Procent vom
Werthe betrug, ſchon viel zu hoch fanden. So entbrannte der lange,
leidenſchaftliche Kampf zwiſchen Spinnern und Webern. Jeder der ver-
bündeten Höfe ſuchte, wie billig, das in ſeinem Lande überwiegende
Intereſſe zu begünſtigen; die ſächſiſche Regierung trat an die Spitze der Frei-
handelspartei, weil die großen Baumwollfabriken des Erzgebirges faſt aus-
ſchließlich engliſches Baumwollengarn verarbeiteten. Im preußiſchen Finanz-
miniſterium bemühte man ſich redlich, die beiden feindlichen Intereſſen
gegen einander abzuwägen und entſchied ſich endlich gegen die Erhöhung
der Garnzölle, da Kühne berechnete, daß die Weberei im geſammten Zoll-
vereine unvergleichlich mehr Arbeitskräfte beſchäftigte als die Spinnerei.
Aber ſo mechaniſch, nach Zahlen allein, laſſen ſich die lebendigen Kräfte
der nationalen Wirthſchaft nicht abſchätzen. Die ſtark übertriebenen
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 469. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/483>, abgerufen am 22.11.2024.
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