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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Neue Wendung in der Literatur.

Die kräftigeren Geister des Jungen Deutschlands selbst hatten sich
längst aus dem verzettelnden Eintagsschaffen hinausgesehnt, sie wendeten
jetzt ihre gereifte und gesammelte Kraft der Bühne zu und mit ihnen
Viele von dem jüngeren Nachwuchs. Bühnengerechte, künstlerisch durch-
dachte Dramen, manche wohl angekränkelt von der nervösen Unruhe der
Zeit, aber manche auch lebendig, aus dem Herzen der Gegenwart heraus
empfunden, brachten dem verfallenen Theater ein frischeres Leben, das
leider durch die Stürme der Revolution nur zu bald zerstört werden
sollte. Auch auf die Dichtung hatte die nationale Begeisterung des Jahres
1840 erstaunlich tief eingewirkt. Ganz so gekräftigt war der deutsche
Nationalstolz freilich noch nicht, wie König Ludwig meinte, als er in einem
wunderlichen Gedichte den "Teutschen seit dem Jahre 40" nachrühmte:
"daß vorüber nun ist die Verblendung." In einem Volke, das noch kaum
die Anfänge einer ernsthaften Parteibildung besaß, konnte der wüste, ziel-
lose Radicalismus nicht völlig aussterben. So schamlos aber wie vor
zehn Jahren wagten sich das vaterlandlose Weltbürgerthum und die
knechtische Vergötterung Frankreichs nur noch selten heraus; die meisten
der jungen Zeitpoeten schwärmten für ein mächtiges Vaterland, sie ahnten
seine große Zukunft, und auch darum erschienen sie achtungswerther als
die Schildknappen Börne's.

An Geist und Empfindung war die Zeit nicht arm; eine heitere
Sinnlichkeit belebte und erwärmte den geselligen Verkehr. Lieblichere
Trachten als damals haben die Frauen in diesem geschmacklosen Jahr-
hundert nie getragen: die Taille saß endlich einmal an der rechten Stelle;
aus dem faltigen, nicht allzu stark aufgebauschten Rock hob sich die Ge-
stalt schlank und leicht empor; das schlicht gescheitelte Haar, die nackten
Arme, der frei, nicht frech entblößte Busen ließen die natürliche Schön-
heit auch schön erscheinen. Von dem berückenden Liebreiz der genialen
Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient und der Herzogin von Sagan,
von den galanten Abenteuern des Fürsten Lichnowsky und des "Lands-
knechts" Schwarzenberg erzählte Jedermann. Wenn die Münchener und
die Düsseldorfer ihre farbenreichen Künstlerfeste hielten, wenn die jungen
lyrischen Dichter in Unkel oder St. Goar oder im Bonner Maikäferbunde
zusammentrafen, um das niemals ausgesungene Lob des Rheines zu singen,
dann wallte die herzhafte Lebenslust fröhlich auf; selbst auf den ungezählten
Zweckessen und politischen Festbanketten erklangen mitten im Phrasen-
schwall zeitgemäßer Stichwörter oftmals die herzbewegenden Reden einer
tiefen, ursprünglichen Begeisterung. Die deutsche Welt glaubte noch an
Ideale. Aber auch die dämonischen Mächte der frechen Unzucht und die
Krankheit des Jahrhunderts, der Größenwahnsinn der halben Talente
fanden freies Spiel in der allgemeinen Anarchie der Geister. Keine Partei
blieb von ihnen verschont. In der Vermessenheit geistigen Hochmuths.
standen die liederlichen Schlemmgesellen des conservativ-liberalen kleinen

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Neue Wendung in der Literatur.

Die kräftigeren Geiſter des Jungen Deutſchlands ſelbſt hatten ſich
längſt aus dem verzettelnden Eintagsſchaffen hinausgeſehnt, ſie wendeten
jetzt ihre gereifte und geſammelte Kraft der Bühne zu und mit ihnen
Viele von dem jüngeren Nachwuchs. Bühnengerechte, künſtleriſch durch-
dachte Dramen, manche wohl angekränkelt von der nervöſen Unruhe der
Zeit, aber manche auch lebendig, aus dem Herzen der Gegenwart heraus
empfunden, brachten dem verfallenen Theater ein friſcheres Leben, das
leider durch die Stürme der Revolution nur zu bald zerſtört werden
ſollte. Auch auf die Dichtung hatte die nationale Begeiſterung des Jahres
1840 erſtaunlich tief eingewirkt. Ganz ſo gekräftigt war der deutſche
Nationalſtolz freilich noch nicht, wie König Ludwig meinte, als er in einem
wunderlichen Gedichte den „Teutſchen ſeit dem Jahre 40“ nachrühmte:
„daß vorüber nun iſt die Verblendung.“ In einem Volke, das noch kaum
die Anfänge einer ernſthaften Parteibildung beſaß, konnte der wüſte, ziel-
loſe Radicalismus nicht völlig ausſterben. So ſchamlos aber wie vor
zehn Jahren wagten ſich das vaterlandloſe Weltbürgerthum und die
knechtiſche Vergötterung Frankreichs nur noch ſelten heraus; die meiſten
der jungen Zeitpoeten ſchwärmten für ein mächtiges Vaterland, ſie ahnten
ſeine große Zukunft, und auch darum erſchienen ſie achtungswerther als
die Schildknappen Börne’s.

An Geiſt und Empfindung war die Zeit nicht arm; eine heitere
Sinnlichkeit belebte und erwärmte den geſelligen Verkehr. Lieblichere
Trachten als damals haben die Frauen in dieſem geſchmackloſen Jahr-
hundert nie getragen: die Taille ſaß endlich einmal an der rechten Stelle;
aus dem faltigen, nicht allzu ſtark aufgebauſchten Rock hob ſich die Ge-
ſtalt ſchlank und leicht empor; das ſchlicht geſcheitelte Haar, die nackten
Arme, der frei, nicht frech entblößte Buſen ließen die natürliche Schön-
heit auch ſchön erſcheinen. Von dem berückenden Liebreiz der genialen
Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient und der Herzogin von Sagan,
von den galanten Abenteuern des Fürſten Lichnowsky und des „Lands-
knechts“ Schwarzenberg erzählte Jedermann. Wenn die Münchener und
die Düſſeldorfer ihre farbenreichen Künſtlerfeſte hielten, wenn die jungen
lyriſchen Dichter in Unkel oder St. Goar oder im Bonner Maikäferbunde
zuſammentrafen, um das niemals ausgeſungene Lob des Rheines zu ſingen,
dann wallte die herzhafte Lebensluſt fröhlich auf; ſelbſt auf den ungezählten
Zweckeſſen und politiſchen Feſtbanketten erklangen mitten im Phraſen-
ſchwall zeitgemäßer Stichwörter oftmals die herzbewegenden Reden einer
tiefen, urſprünglichen Begeiſterung. Die deutſche Welt glaubte noch an
Ideale. Aber auch die dämoniſchen Mächte der frechen Unzucht und die
Krankheit des Jahrhunderts, der Größenwahnſinn der halben Talente
fanden freies Spiel in der allgemeinen Anarchie der Geiſter. Keine Partei
blieb von ihnen verſchont. In der Vermeſſenheit geiſtigen Hochmuths.
ſtanden die liederlichen Schlemmgeſellen des conſervativ-liberalen kleinen

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[371/0385] Neue Wendung in der Literatur. Die kräftigeren Geiſter des Jungen Deutſchlands ſelbſt hatten ſich längſt aus dem verzettelnden Eintagsſchaffen hinausgeſehnt, ſie wendeten jetzt ihre gereifte und geſammelte Kraft der Bühne zu und mit ihnen Viele von dem jüngeren Nachwuchs. Bühnengerechte, künſtleriſch durch- dachte Dramen, manche wohl angekränkelt von der nervöſen Unruhe der Zeit, aber manche auch lebendig, aus dem Herzen der Gegenwart heraus empfunden, brachten dem verfallenen Theater ein friſcheres Leben, das leider durch die Stürme der Revolution nur zu bald zerſtört werden ſollte. Auch auf die Dichtung hatte die nationale Begeiſterung des Jahres 1840 erſtaunlich tief eingewirkt. Ganz ſo gekräftigt war der deutſche Nationalſtolz freilich noch nicht, wie König Ludwig meinte, als er in einem wunderlichen Gedichte den „Teutſchen ſeit dem Jahre 40“ nachrühmte: „daß vorüber nun iſt die Verblendung.“ In einem Volke, das noch kaum die Anfänge einer ernſthaften Parteibildung beſaß, konnte der wüſte, ziel- loſe Radicalismus nicht völlig ausſterben. So ſchamlos aber wie vor zehn Jahren wagten ſich das vaterlandloſe Weltbürgerthum und die knechtiſche Vergötterung Frankreichs nur noch ſelten heraus; die meiſten der jungen Zeitpoeten ſchwärmten für ein mächtiges Vaterland, ſie ahnten ſeine große Zukunft, und auch darum erſchienen ſie achtungswerther als die Schildknappen Börne’s. An Geiſt und Empfindung war die Zeit nicht arm; eine heitere Sinnlichkeit belebte und erwärmte den geſelligen Verkehr. Lieblichere Trachten als damals haben die Frauen in dieſem geſchmackloſen Jahr- hundert nie getragen: die Taille ſaß endlich einmal an der rechten Stelle; aus dem faltigen, nicht allzu ſtark aufgebauſchten Rock hob ſich die Ge- ſtalt ſchlank und leicht empor; das ſchlicht geſcheitelte Haar, die nackten Arme, der frei, nicht frech entblößte Buſen ließen die natürliche Schön- heit auch ſchön erſcheinen. Von dem berückenden Liebreiz der genialen Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient und der Herzogin von Sagan, von den galanten Abenteuern des Fürſten Lichnowsky und des „Lands- knechts“ Schwarzenberg erzählte Jedermann. Wenn die Münchener und die Düſſeldorfer ihre farbenreichen Künſtlerfeſte hielten, wenn die jungen lyriſchen Dichter in Unkel oder St. Goar oder im Bonner Maikäferbunde zuſammentrafen, um das niemals ausgeſungene Lob des Rheines zu ſingen, dann wallte die herzhafte Lebensluſt fröhlich auf; ſelbſt auf den ungezählten Zweckeſſen und politiſchen Feſtbanketten erklangen mitten im Phraſen- ſchwall zeitgemäßer Stichwörter oftmals die herzbewegenden Reden einer tiefen, urſprünglichen Begeiſterung. Die deutſche Welt glaubte noch an Ideale. Aber auch die dämoniſchen Mächte der frechen Unzucht und die Krankheit des Jahrhunderts, der Größenwahnſinn der halben Talente fanden freies Spiel in der allgemeinen Anarchie der Geiſter. Keine Partei blieb von ihnen verſchont. In der Vermeſſenheit geiſtigen Hochmuths. ſtanden die liederlichen Schlemmgeſellen des conſervativ-liberalen kleinen 24*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/385>, abgerufen am 23.11.2024.