sich verändert, der feierliche Kirchenbann erschien jetzt in der leichtfertigen Gestalt von Zeitungsartikeln. Gegenerklärungen blieben nicht aus, sie trugen weit mehr Unterschriften, aber meist von Laien; auch manche er- klärte Feinde des Christenthums nahmen theil, um der Kirche doch einmal einen Schlag zu versetzen.
In früheren Zeiten hatte Deutschlands evangelische Kirche unter der milden Leitung ihrer Landesherren solche sektirerische Bewegungen fast immer niederzuhalten vermocht. Es war ihr Ruhm, daß sie die noth- wendigen radicalen Elemente des Protestantismus nicht, wie Englands pharisäische Staatskirche, als Dissenters ausgestoßen, sondern meist lang- müthig ertragen und dadurch immer wieder besänftigt hatte. Jetzt am wenigsten war die Zeit, mit solchen schönen Traditionen zu brechen. Der Rationalismus hatte hundert Jahre lang die Kanzeln beherrscht, er besaß unbestritten ein historisches Recht; nun da er alterte und vermorschte, konnten seine an Geist und Glaubenskraft armen Epigonen der Kirche nicht mehr gefährlich werden. Das deutsche Gewissen rang danach, die neue wissenschaftliche Weltanschauung mit der ewigen Wahrheit des Christen- thums zu versöhnen; selbst der fromme Twesten gestand traurig seinem gleichgesinnten Freunde Perthes: wir Gläubigen haben eigentlich mehr Sehnsucht nach Glauben als wirklichen Glauben. In solchen Tagen des Zweifels und der Gährung, in diesem unverkennbar weltlichen Zeitalter mußte die Kirche sich vor jedem unbedachten Eingriff hüten, werdende Ge- danken und Parteibildungen in Freiheit ausreifen lassen.
Ganz anders empfand König Friedrich Wilhelm. Mit Unrecht warfen ihm die Gegner vor, daß er sich bethören ließe durch das Vorbild der anglikanischen Kirche, deren Schwächen er sehr wohl erkannte. Aus seinen eigensten Gemüthserfahrungen, aus seinem ganzen Sein und Denken vielmehr ergab sich ihm die Ueberzeugung, daß die lebendige Kirche nur aus Gläubigen bestehen dürfe -- ein hohes Ideal, das sich freilich in der Gebrechlichkeit dieser Welt noch nie und nirgends verwirklicht hatte. So lange die gegenwärtige Kirchenverfassung bestand, wollte er, wie sein ge- treuer Thile sich ausdrückte, zwar nicht das centrum auctoritatis, wohl aber das centrum unitatis für die evangelische Landeskirche bleiben; und diese Pflicht des Kirchenhauptes -- oft genug sprach er es gegen Eichhorn aus -- stand ihm unendlich höher als etwa die Sorge für die auswärtige Politik seines Staates. Er meinte im Geiste evangelischer Freiheit zu handeln und seinen irrenden Brüdern selbst einen christlichen Liebesdienst zu erweisen, wenn er ihnen, um sie vor Heuchelei zu bewahren, die Pforte der Kirche zum Austritt weit aufthat. Ihn quälte dabei nur das eine Bedenken, ob man nicht die Versuchung zum Abfall befördere, wenn man das Ausscheiden allzu sehr erleichtere. Daher erklärte Eichhorn den Magdeburger Lichtfreunden von vornherein: sie hätten nur die Wahl, entweder auszutreten oder ihre kirchlichen Reformpläne aufzugeben. In
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 23
Friedrich Wilhelm und die Lichtfreunde.
ſich verändert, der feierliche Kirchenbann erſchien jetzt in der leichtfertigen Geſtalt von Zeitungsartikeln. Gegenerklärungen blieben nicht aus, ſie trugen weit mehr Unterſchriften, aber meiſt von Laien; auch manche er- klärte Feinde des Chriſtenthums nahmen theil, um der Kirche doch einmal einen Schlag zu verſetzen.
In früheren Zeiten hatte Deutſchlands evangeliſche Kirche unter der milden Leitung ihrer Landesherren ſolche ſektireriſche Bewegungen faſt immer niederzuhalten vermocht. Es war ihr Ruhm, daß ſie die noth- wendigen radicalen Elemente des Proteſtantismus nicht, wie Englands phariſäiſche Staatskirche, als Diſſenters ausgeſtoßen, ſondern meiſt lang- müthig ertragen und dadurch immer wieder beſänftigt hatte. Jetzt am wenigſten war die Zeit, mit ſolchen ſchönen Traditionen zu brechen. Der Rationalismus hatte hundert Jahre lang die Kanzeln beherrſcht, er beſaß unbeſtritten ein hiſtoriſches Recht; nun da er alterte und vermorſchte, konnten ſeine an Geiſt und Glaubenskraft armen Epigonen der Kirche nicht mehr gefährlich werden. Das deutſche Gewiſſen rang danach, die neue wiſſenſchaftliche Weltanſchauung mit der ewigen Wahrheit des Chriſten- thums zu verſöhnen; ſelbſt der fromme Tweſten geſtand traurig ſeinem gleichgeſinnten Freunde Perthes: wir Gläubigen haben eigentlich mehr Sehnſucht nach Glauben als wirklichen Glauben. In ſolchen Tagen des Zweifels und der Gährung, in dieſem unverkennbar weltlichen Zeitalter mußte die Kirche ſich vor jedem unbedachten Eingriff hüten, werdende Ge- danken und Parteibildungen in Freiheit ausreifen laſſen.
Ganz anders empfand König Friedrich Wilhelm. Mit Unrecht warfen ihm die Gegner vor, daß er ſich bethören ließe durch das Vorbild der anglikaniſchen Kirche, deren Schwächen er ſehr wohl erkannte. Aus ſeinen eigenſten Gemüthserfahrungen, aus ſeinem ganzen Sein und Denken vielmehr ergab ſich ihm die Ueberzeugung, daß die lebendige Kirche nur aus Gläubigen beſtehen dürfe — ein hohes Ideal, das ſich freilich in der Gebrechlichkeit dieſer Welt noch nie und nirgends verwirklicht hatte. So lange die gegenwärtige Kirchenverfaſſung beſtand, wollte er, wie ſein ge- treuer Thile ſich ausdrückte, zwar nicht das centrum auctoritatis, wohl aber das centrum unitatis für die evangeliſche Landeskirche bleiben; und dieſe Pflicht des Kirchenhauptes — oft genug ſprach er es gegen Eichhorn aus — ſtand ihm unendlich höher als etwa die Sorge für die auswärtige Politik ſeines Staates. Er meinte im Geiſte evangeliſcher Freiheit zu handeln und ſeinen irrenden Brüdern ſelbſt einen chriſtlichen Liebesdienſt zu erweiſen, wenn er ihnen, um ſie vor Heuchelei zu bewahren, die Pforte der Kirche zum Austritt weit aufthat. Ihn quälte dabei nur das eine Bedenken, ob man nicht die Verſuchung zum Abfall befördere, wenn man das Ausſcheiden allzu ſehr erleichtere. Daher erklärte Eichhorn den Magdeburger Lichtfreunden von vornherein: ſie hätten nur die Wahl, entweder auszutreten oder ihre kirchlichen Reformpläne aufzugeben. In
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 23
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Friedrich Wilhelm und die Lichtfreunde.
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Geſtalt von Zeitungsartikeln. Gegenerklärungen blieben nicht aus, ſie
trugen weit mehr Unterſchriften, aber meiſt von Laien; auch manche er-
klärte Feinde des Chriſtenthums nahmen theil, um der Kirche doch einmal
einen Schlag zu verſetzen.
In früheren Zeiten hatte Deutſchlands evangeliſche Kirche unter der
milden Leitung ihrer Landesherren ſolche ſektireriſche Bewegungen faſt
immer niederzuhalten vermocht. Es war ihr Ruhm, daß ſie die noth-
wendigen radicalen Elemente des Proteſtantismus nicht, wie Englands
phariſäiſche Staatskirche, als Diſſenters ausgeſtoßen, ſondern meiſt lang-
müthig ertragen und dadurch immer wieder beſänftigt hatte. Jetzt am
wenigſten war die Zeit, mit ſolchen ſchönen Traditionen zu brechen. Der
Rationalismus hatte hundert Jahre lang die Kanzeln beherrſcht, er beſaß
unbeſtritten ein hiſtoriſches Recht; nun da er alterte und vermorſchte,
konnten ſeine an Geiſt und Glaubenskraft armen Epigonen der Kirche
nicht mehr gefährlich werden. Das deutſche Gewiſſen rang danach, die
neue wiſſenſchaftliche Weltanſchauung mit der ewigen Wahrheit des Chriſten-
thums zu verſöhnen; ſelbſt der fromme Tweſten geſtand traurig ſeinem
gleichgeſinnten Freunde Perthes: wir Gläubigen haben eigentlich mehr
Sehnſucht nach Glauben als wirklichen Glauben. In ſolchen Tagen des
Zweifels und der Gährung, in dieſem unverkennbar weltlichen Zeitalter
mußte die Kirche ſich vor jedem unbedachten Eingriff hüten, werdende Ge-
danken und Parteibildungen in Freiheit ausreifen laſſen.
Ganz anders empfand König Friedrich Wilhelm. Mit Unrecht warfen
ihm die Gegner vor, daß er ſich bethören ließe durch das Vorbild der
anglikaniſchen Kirche, deren Schwächen er ſehr wohl erkannte. Aus ſeinen
eigenſten Gemüthserfahrungen, aus ſeinem ganzen Sein und Denken
vielmehr ergab ſich ihm die Ueberzeugung, daß die lebendige Kirche nur
aus Gläubigen beſtehen dürfe — ein hohes Ideal, das ſich freilich in der
Gebrechlichkeit dieſer Welt noch nie und nirgends verwirklicht hatte. So
lange die gegenwärtige Kirchenverfaſſung beſtand, wollte er, wie ſein ge-
treuer Thile ſich ausdrückte, zwar nicht das centrum auctoritatis, wohl
aber das centrum unitatis für die evangeliſche Landeskirche bleiben; und
dieſe Pflicht des Kirchenhauptes — oft genug ſprach er es gegen Eichhorn
aus — ſtand ihm unendlich höher als etwa die Sorge für die auswärtige
Politik ſeines Staates. Er meinte im Geiſte evangeliſcher Freiheit zu
handeln und ſeinen irrenden Brüdern ſelbſt einen chriſtlichen Liebesdienſt
zu erweiſen, wenn er ihnen, um ſie vor Heuchelei zu bewahren, die Pforte
der Kirche zum Austritt weit aufthat. Ihn quälte dabei nur das eine
Bedenken, ob man nicht die Verſuchung zum Abfall befördere, wenn man
das Ausſcheiden allzu ſehr erleichtere. Daher erklärte Eichhorn den
Magdeburger Lichtfreunden von vornherein: ſie hätten nur die Wahl,
entweder auszutreten oder ihre kirchlichen Reformpläne aufzugeben. In
v. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. V. 23
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/367>, abgerufen am 23.11.2024.
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