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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 3. Enttäuschung und Verwirrung.
Wort!" -- so sagte einer der Redner des Landtags, unter jubelndem Bei-
fall; und Mancher der Rufer dachte dabei an den Citoyen der fran-
zösischen Republik. Der Mehrzahl der Rheinländer gereichte es zu hoher
Genugthuung, daß der Prüß ihrem hartnäckigen Liberalismus endlich doch
so viel nachgegeben hatte; sie glaubten dem Osten auch in ihrem Gemeinde-
leben weit überlegen zu sein, und vernahmen nicht ohne Schadenfreude,
wie der Monarch einigen altländischen Provinziallandtagen, die um Reform
ihrer Landgemeindeordnungen baten, ungnädig erwiderte: er denke nichts
zu ändern an dem geschichtlich erwachsenen Zustande "der Provinzen,
welche das Glück gehabt hätten, daß die Grundlagen ihrer ländlichen
Communalverfassung nicht durch eine revolutionäre Gesetzgebung aufgelöst
worden seien". --

Der König empfand schmerzlich, wie er die Fühlung mit seinem
Volke nach und nach verlor. Es war ein Unheil, daß Preußen in diese
große Krisis seines Verfassungslebens erst eintrat zu einer Zeit, da sich
im übrigen Deutschland schon eine fertige Theorie des allgemeinen con-
stitutionellen Staatsrechts gebildet hatte, und je länger sich jetzt noch die
Entscheidung verzögerte, um so höher mußten die Ansprüche der Libe-
ralen steigen. Dennoch kam der König noch immer nicht in's Reine mit
den Verfassungsplänen, über denen er nun seit vierthalb Jahren brütete.
Nur der Grundgedanke, die Berufung eines großen Vereinigten Landtags
stand ihm unerschütterlich fest; über alles Einzelne wußte er sich noch
keinen Rath, und sein seltsam zerklüftetes Ministerium konnte ihm diesen
Rath nicht bieten. Der Vorsitzende, der Prinz von Preußen erklärte sich
entschieden gegen eine reichsständische Versammlung, die durch Steuer-
verweigerungen die Wehrkraft, die ganze Machtstellung des Staates zu
gefährden drohe. Aus vertraulichen Unterredungen ersah der König, daß
er sich mit dem Bruder so leicht nicht verständigen könne, und der Thron-
folger blieb fortan lange ohne nähere Kenntniß von den weiteren stän-
dischen Plänen des Monarchen. Der Prinz dachte von früh auf ernst
über die jedem Thronfolger gebotene Zurückhaltung, und niemals hätte
er sich dazu herabgelassen, der Führer der conservativen Partei zu werden;
dawider sträubten sich sein Fürstenstolz und seine Königstreue. Trotzdem
konnte es nicht ausbleiben, daß alle Anhänger des alten absoluten Regi-
ments auf ihn als ihr natürliches Haupt blickten. "Es steht", sagte Graf
Arnim traurig, "eine hochachtbare Ueberzeugung an der Spitze des Mini-
steriums, welche es als den ihr gewordenen Beruf betrachtet, das Be-
stehende mit der äußersten Festigkeit zu vertheidigen."*) Das aufgeklärte
Berlin, das den Prinzen bisher wenig beachtet hatte, begann nunmehr
ihn zu beargwöhnen. Auch sein schlichtes soldatisches Wesen und die warme
Verehrung, die ihm das Heer entgegenbrachte, schadeten jetzt seinem Rufe;

*) Graf Arnim, Promemoria, 25. Mai 1845.

V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
Wort!“ — ſo ſagte einer der Redner des Landtags, unter jubelndem Bei-
fall; und Mancher der Rufer dachte dabei an den Citoyen der fran-
zöſiſchen Republik. Der Mehrzahl der Rheinländer gereichte es zu hoher
Genugthuung, daß der Prüß ihrem hartnäckigen Liberalismus endlich doch
ſo viel nachgegeben hatte; ſie glaubten dem Oſten auch in ihrem Gemeinde-
leben weit überlegen zu ſein, und vernahmen nicht ohne Schadenfreude,
wie der Monarch einigen altländiſchen Provinziallandtagen, die um Reform
ihrer Landgemeindeordnungen baten, ungnädig erwiderte: er denke nichts
zu ändern an dem geſchichtlich erwachſenen Zuſtande „der Provinzen,
welche das Glück gehabt hätten, daß die Grundlagen ihrer ländlichen
Communalverfaſſung nicht durch eine revolutionäre Geſetzgebung aufgelöſt
worden ſeien“. —

Der König empfand ſchmerzlich, wie er die Fühlung mit ſeinem
Volke nach und nach verlor. Es war ein Unheil, daß Preußen in dieſe
große Kriſis ſeines Verfaſſungslebens erſt eintrat zu einer Zeit, da ſich
im übrigen Deutſchland ſchon eine fertige Theorie des allgemeinen con-
ſtitutionellen Staatsrechts gebildet hatte, und je länger ſich jetzt noch die
Entſcheidung verzögerte, um ſo höher mußten die Anſprüche der Libe-
ralen ſteigen. Dennoch kam der König noch immer nicht in’s Reine mit
den Verfaſſungsplänen, über denen er nun ſeit vierthalb Jahren brütete.
Nur der Grundgedanke, die Berufung eines großen Vereinigten Landtags
ſtand ihm unerſchütterlich feſt; über alles Einzelne wußte er ſich noch
keinen Rath, und ſein ſeltſam zerklüftetes Miniſterium konnte ihm dieſen
Rath nicht bieten. Der Vorſitzende, der Prinz von Preußen erklärte ſich
entſchieden gegen eine reichsſtändiſche Verſammlung, die durch Steuer-
verweigerungen die Wehrkraft, die ganze Machtſtellung des Staates zu
gefährden drohe. Aus vertraulichen Unterredungen erſah der König, daß
er ſich mit dem Bruder ſo leicht nicht verſtändigen könne, und der Thron-
folger blieb fortan lange ohne nähere Kenntniß von den weiteren ſtän-
diſchen Plänen des Monarchen. Der Prinz dachte von früh auf ernſt
über die jedem Thronfolger gebotene Zurückhaltung, und niemals hätte
er ſich dazu herabgelaſſen, der Führer der conſervativen Partei zu werden;
dawider ſträubten ſich ſein Fürſtenſtolz und ſeine Königstreue. Trotzdem
konnte es nicht ausbleiben, daß alle Anhänger des alten abſoluten Regi-
ments auf ihn als ihr natürliches Haupt blickten. „Es ſteht“, ſagte Graf
Arnim traurig, „eine hochachtbare Ueberzeugung an der Spitze des Mini-
ſteriums, welche es als den ihr gewordenen Beruf betrachtet, das Be-
ſtehende mit der äußerſten Feſtigkeit zu vertheidigen.“*) Das aufgeklärte
Berlin, das den Prinzen bisher wenig beachtet hatte, begann nunmehr
ihn zu beargwöhnen. Auch ſein ſchlichtes ſoldatiſches Weſen und die warme
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*) Graf Arnim, Promemoria, 25. Mai 1845.
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[264/0278] V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung. Wort!“ — ſo ſagte einer der Redner des Landtags, unter jubelndem Bei- fall; und Mancher der Rufer dachte dabei an den Citoyen der fran- zöſiſchen Republik. Der Mehrzahl der Rheinländer gereichte es zu hoher Genugthuung, daß der Prüß ihrem hartnäckigen Liberalismus endlich doch ſo viel nachgegeben hatte; ſie glaubten dem Oſten auch in ihrem Gemeinde- leben weit überlegen zu ſein, und vernahmen nicht ohne Schadenfreude, wie der Monarch einigen altländiſchen Provinziallandtagen, die um Reform ihrer Landgemeindeordnungen baten, ungnädig erwiderte: er denke nichts zu ändern an dem geſchichtlich erwachſenen Zuſtande „der Provinzen, welche das Glück gehabt hätten, daß die Grundlagen ihrer ländlichen Communalverfaſſung nicht durch eine revolutionäre Geſetzgebung aufgelöſt worden ſeien“. — Der König empfand ſchmerzlich, wie er die Fühlung mit ſeinem Volke nach und nach verlor. Es war ein Unheil, daß Preußen in dieſe große Kriſis ſeines Verfaſſungslebens erſt eintrat zu einer Zeit, da ſich im übrigen Deutſchland ſchon eine fertige Theorie des allgemeinen con- ſtitutionellen Staatsrechts gebildet hatte, und je länger ſich jetzt noch die Entſcheidung verzögerte, um ſo höher mußten die Anſprüche der Libe- ralen ſteigen. Dennoch kam der König noch immer nicht in’s Reine mit den Verfaſſungsplänen, über denen er nun ſeit vierthalb Jahren brütete. Nur der Grundgedanke, die Berufung eines großen Vereinigten Landtags ſtand ihm unerſchütterlich feſt; über alles Einzelne wußte er ſich noch keinen Rath, und ſein ſeltſam zerklüftetes Miniſterium konnte ihm dieſen Rath nicht bieten. Der Vorſitzende, der Prinz von Preußen erklärte ſich entſchieden gegen eine reichsſtändiſche Verſammlung, die durch Steuer- verweigerungen die Wehrkraft, die ganze Machtſtellung des Staates zu gefährden drohe. Aus vertraulichen Unterredungen erſah der König, daß er ſich mit dem Bruder ſo leicht nicht verſtändigen könne, und der Thron- folger blieb fortan lange ohne nähere Kenntniß von den weiteren ſtän- diſchen Plänen des Monarchen. Der Prinz dachte von früh auf ernſt über die jedem Thronfolger gebotene Zurückhaltung, und niemals hätte er ſich dazu herabgelaſſen, der Führer der conſervativen Partei zu werden; dawider ſträubten ſich ſein Fürſtenſtolz und ſeine Königstreue. Trotzdem konnte es nicht ausbleiben, daß alle Anhänger des alten abſoluten Regi- ments auf ihn als ihr natürliches Haupt blickten. „Es ſteht“, ſagte Graf Arnim traurig, „eine hochachtbare Ueberzeugung an der Spitze des Mini- ſteriums, welche es als den ihr gewordenen Beruf betrachtet, das Be- ſtehende mit der äußerſten Feſtigkeit zu vertheidigen.“ *) Das aufgeklärte Berlin, das den Prinzen bisher wenig beachtet hatte, begann nunmehr ihn zu beargwöhnen. Auch ſein ſchlichtes ſoldatiſches Weſen und die warme Verehrung, die ihm das Heer entgegenbrachte, ſchadeten jetzt ſeinem Rufe; *) Graf Arnim, Promemoria, 25. Mai 1845.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/278>, abgerufen am 23.11.2024.