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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Particularismus des Rheinischen Landtags.
Strome der öffentlichen Meinung fortgerissen, da sie ja als blos be-
rathende Körperschaften gar keine Verantwortung trugen. Der preußische
Landtag erklärte kurzab: die Reform des materiellen Strafrechts sei erst
möglich, wenn zu gleicher Zeit das Strafverfahren umgestaltet würde, und
die nämliche Ansicht ward auch auf anderen Landtagen laut.

Nur die Rheinländer gingen ihres eigenen Weges; verwöhnt durch
die unerschöpfliche Nachsicht der Regierung, wollten sie auch jetzt noch an
ihrem ausländischen Sonderrechte festhalten. Offenbar sühnte die Krone nur
eine alte schwere Unterlassungssünde, indem sie endlich das Strafgesetzbuch
vorlegte; denn ohne Einheit des Strafrechts kann auf die Dauer weder ein
geordneter Staat bestehen noch ein starkes politisches Gemeingefühl sich
ausbilden; das Gewissen des Volks mußte irr werden an allem Rechte,
wenn im Rheinlande andere Strafen verhängt wurden als in Westphalen.
Kein denkender Mann am Rhein durfte sich dieser Einsicht verschließen,
und zum Ueberfluß hatte der König mehrmals feierlich versichert, daß er
der Provinz ihr hergebrachtes Gerichtsverfahren unter allen Umständen
erhalten würde. Es bestand also gar kein vernünftiger Grund zu einem
Kampfe wider das neue Strafgesetzbuch, das in vielen Bestimmungen
milder, menschlicher war als der harte Code penal. Aber die Legende, daß
die Freiheit des Rheinlands mit dem rheinischen Rechte stehe und falle,
stand schon unumstößlich fest. Einstimmig beschloß der Düsseldorfer Landtag
die Krone zu bitten: sie möge für das Rheinland allein ein neues Straf-
gesetzbuch auf Grund des Code Napoleon ausarbeiten lassen. Die Bitte
war nicht allzu schlimm gemeint, sie entsprang unwillkürlich dem naiven
Sondergeiste der Provinz; doch sie klang fast ebenso staatsfeindlich wie die
Adresse des Posener Landtags, und das Aergerniß verschlimmerte sich noch,
als die Stände, ihres Beschlusses froh, am 4. Juli ein großes Festmahl
veranstalteten. Da ward in der Lust des Weines keck, fast höhnisch aus-
gesprochen, diese Feier gelte dem Siege des rheinischen Rechts über das
preußische, und nach einem heftigen Wortwechsel verließ der Oberpräsident
v. Schaper sammt den übrigen Beamten den Festsaal.

Der König war empört über "diese unanständigen Auftritte"; es
wurmte ihn gar zu tief, daß gerade die Polen und die Rheinländer, die
er doch neben den Altpreußen stets bevorzugt hatte, sich ihm widersetzten.
Im ersten Zorne ließ er (18. Juli) eine Cabinetsordre veröffentlichen,
welche das Beamtenthum vor der Theilnahme an solchen werthlosen De-
monstrationen warnte: "sie sind nur im Stande Lärm zu erzeugen, ohne
irgend einen Einfluß auf die Sache, auf Meine Entschließung und auf
den Gang Meiner Regierung üben zu können." Die Rheinländer nahmen
diese Rüge sehr übel auf; nach Landesbrauch konnten sie gar nicht be-
greifen, warum man die beim Becher gesprochenen Worte so auf die Gold-
wage legte; und nun wurden ihnen auch noch die Freudenfeste, die sie für
ihre heimkehrenden Abgeordneten vorbereitet hatten, durch die Behörden

Particularismus des Rheiniſchen Landtags.
Strome der öffentlichen Meinung fortgeriſſen, da ſie ja als blos be-
rathende Körperſchaften gar keine Verantwortung trugen. Der preußiſche
Landtag erklärte kurzab: die Reform des materiellen Strafrechts ſei erſt
möglich, wenn zu gleicher Zeit das Strafverfahren umgeſtaltet würde, und
die nämliche Anſicht ward auch auf anderen Landtagen laut.

Nur die Rheinländer gingen ihres eigenen Weges; verwöhnt durch
die unerſchöpfliche Nachſicht der Regierung, wollten ſie auch jetzt noch an
ihrem ausländiſchen Sonderrechte feſthalten. Offenbar ſühnte die Krone nur
eine alte ſchwere Unterlaſſungsſünde, indem ſie endlich das Strafgeſetzbuch
vorlegte; denn ohne Einheit des Strafrechts kann auf die Dauer weder ein
geordneter Staat beſtehen noch ein ſtarkes politiſches Gemeingefühl ſich
ausbilden; das Gewiſſen des Volks mußte irr werden an allem Rechte,
wenn im Rheinlande andere Strafen verhängt wurden als in Weſtphalen.
Kein denkender Mann am Rhein durfte ſich dieſer Einſicht verſchließen,
und zum Ueberfluß hatte der König mehrmals feierlich verſichert, daß er
der Provinz ihr hergebrachtes Gerichtsverfahren unter allen Umſtänden
erhalten würde. Es beſtand alſo gar kein vernünftiger Grund zu einem
Kampfe wider das neue Strafgeſetzbuch, das in vielen Beſtimmungen
milder, menſchlicher war als der harte Code pénal. Aber die Legende, daß
die Freiheit des Rheinlands mit dem rheiniſchen Rechte ſtehe und falle,
ſtand ſchon unumſtößlich feſt. Einſtimmig beſchloß der Düſſeldorfer Landtag
die Krone zu bitten: ſie möge für das Rheinland allein ein neues Straf-
geſetzbuch auf Grund des Code Napoléon ausarbeiten laſſen. Die Bitte
war nicht allzu ſchlimm gemeint, ſie entſprang unwillkürlich dem naiven
Sondergeiſte der Provinz; doch ſie klang faſt ebenſo ſtaatsfeindlich wie die
Adreſſe des Poſener Landtags, und das Aergerniß verſchlimmerte ſich noch,
als die Stände, ihres Beſchluſſes froh, am 4. Juli ein großes Feſtmahl
veranſtalteten. Da ward in der Luſt des Weines keck, faſt höhniſch aus-
geſprochen, dieſe Feier gelte dem Siege des rheiniſchen Rechts über das
preußiſche, und nach einem heftigen Wortwechſel verließ der Oberpräſident
v. Schaper ſammt den übrigen Beamten den Feſtſaal.

Der König war empört über „dieſe unanſtändigen Auftritte“; es
wurmte ihn gar zu tief, daß gerade die Polen und die Rheinländer, die
er doch neben den Altpreußen ſtets bevorzugt hatte, ſich ihm widerſetzten.
Im erſten Zorne ließ er (18. Juli) eine Cabinetsordre veröffentlichen,
welche das Beamtenthum vor der Theilnahme an ſolchen werthloſen De-
monſtrationen warnte: „ſie ſind nur im Stande Lärm zu erzeugen, ohne
irgend einen Einfluß auf die Sache, auf Meine Entſchließung und auf
den Gang Meiner Regierung üben zu können.“ Die Rheinländer nahmen
dieſe Rüge ſehr übel auf; nach Landesbrauch konnten ſie gar nicht be-
greifen, warum man die beim Becher geſprochenen Worte ſo auf die Gold-
wage legte; und nun wurden ihnen auch noch die Freudenfeſte, die ſie für
ihre heimkehrenden Abgeordneten vorbereitet hatten, durch die Behörden

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[261/0275] Particularismus des Rheiniſchen Landtags. Strome der öffentlichen Meinung fortgeriſſen, da ſie ja als blos be- rathende Körperſchaften gar keine Verantwortung trugen. Der preußiſche Landtag erklärte kurzab: die Reform des materiellen Strafrechts ſei erſt möglich, wenn zu gleicher Zeit das Strafverfahren umgeſtaltet würde, und die nämliche Anſicht ward auch auf anderen Landtagen laut. Nur die Rheinländer gingen ihres eigenen Weges; verwöhnt durch die unerſchöpfliche Nachſicht der Regierung, wollten ſie auch jetzt noch an ihrem ausländiſchen Sonderrechte feſthalten. Offenbar ſühnte die Krone nur eine alte ſchwere Unterlaſſungsſünde, indem ſie endlich das Strafgeſetzbuch vorlegte; denn ohne Einheit des Strafrechts kann auf die Dauer weder ein geordneter Staat beſtehen noch ein ſtarkes politiſches Gemeingefühl ſich ausbilden; das Gewiſſen des Volks mußte irr werden an allem Rechte, wenn im Rheinlande andere Strafen verhängt wurden als in Weſtphalen. Kein denkender Mann am Rhein durfte ſich dieſer Einſicht verſchließen, und zum Ueberfluß hatte der König mehrmals feierlich verſichert, daß er der Provinz ihr hergebrachtes Gerichtsverfahren unter allen Umſtänden erhalten würde. Es beſtand alſo gar kein vernünftiger Grund zu einem Kampfe wider das neue Strafgeſetzbuch, das in vielen Beſtimmungen milder, menſchlicher war als der harte Code pénal. Aber die Legende, daß die Freiheit des Rheinlands mit dem rheiniſchen Rechte ſtehe und falle, ſtand ſchon unumſtößlich feſt. Einſtimmig beſchloß der Düſſeldorfer Landtag die Krone zu bitten: ſie möge für das Rheinland allein ein neues Straf- geſetzbuch auf Grund des Code Napoléon ausarbeiten laſſen. Die Bitte war nicht allzu ſchlimm gemeint, ſie entſprang unwillkürlich dem naiven Sondergeiſte der Provinz; doch ſie klang faſt ebenſo ſtaatsfeindlich wie die Adreſſe des Poſener Landtags, und das Aergerniß verſchlimmerte ſich noch, als die Stände, ihres Beſchluſſes froh, am 4. Juli ein großes Feſtmahl veranſtalteten. Da ward in der Luſt des Weines keck, faſt höhniſch aus- geſprochen, dieſe Feier gelte dem Siege des rheiniſchen Rechts über das preußiſche, und nach einem heftigen Wortwechſel verließ der Oberpräſident v. Schaper ſammt den übrigen Beamten den Feſtſaal. Der König war empört über „dieſe unanſtändigen Auftritte“; es wurmte ihn gar zu tief, daß gerade die Polen und die Rheinländer, die er doch neben den Altpreußen ſtets bevorzugt hatte, ſich ihm widerſetzten. Im erſten Zorne ließ er (18. Juli) eine Cabinetsordre veröffentlichen, welche das Beamtenthum vor der Theilnahme an ſolchen werthloſen De- monſtrationen warnte: „ſie ſind nur im Stande Lärm zu erzeugen, ohne irgend einen Einfluß auf die Sache, auf Meine Entſchließung und auf den Gang Meiner Regierung üben zu können.“ Die Rheinländer nahmen dieſe Rüge ſehr übel auf; nach Landesbrauch konnten ſie gar nicht be- greifen, warum man die beim Becher geſprochenen Worte ſo auf die Gold- wage legte; und nun wurden ihnen auch noch die Freudenfeſte, die ſie für ihre heimkehrenden Abgeordneten vorbereitet hatten, durch die Behörden

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/275>, abgerufen am 25.11.2024.