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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 3. Enttäuschung und Verwirrung.
war ein rein doktrinäres Bedenken; denn kam der Vereinigte Landtag
einmal zusammen, so mußte er unfehlbar häufig wiederkehren, keine Macht
der Welt konnte dies dann noch verhindern. Endlich scheute der König
die Aufregung der Wahlen, obwohl doch die Erwählung der Vereinigten
Ausschüsse soeben ganz ruhig verlaufen war, und wollte darum die Reichs-
stände durch einfache Zusammenberufung aller Provinziallandtage bilden.

Alle diese Abweichungen von den alten Gesetzen hoffte er aber auf
streng rechtlichem Wege, mit Zustimmung seiner getreuen Stände selbst,
durchzuführen, und stellte daher an den Ministerrath drei Fragen. Er-
stens, kann man den Ständen, wenn man sie auf dem Provinzialland-
tage oder in einem Vereinigten Landtage befragt und ihnen das Steuer-
bewilligungsrecht zugesteht, die Anforderung stellen, daß sie auf die Zu-
stimmung zu Kriegsanleihen verzichten? Zweitens, werden sie sich nicht
für incompetent erklären? Drittens, sind für den Fall eines plötzlich
ausbrechenden Krieges genügende Mittel vorhanden? Die Befragten
waren ebenso sehr verwundert über die halb freigebigen halb kargen Ge-
währungen des Monarchen, wie über die rechtlichen Schwierigkeiten, die
er sich durch seinen künstlichen Plan selbst geschaffen hatte. Ganz ein-
verstanden erklärte sich nur Einer, Geh. Rath von Voß. Die große Mehr-
zahl der Minister, Boyen, Thile, Bodelschwingh, Stolberg, Mühler, Eich-
horn, Savigny, Bülow, ja selbst der greise Präsident des Staatsraths
General Müffling hielten für unmöglich, daß ständische Körperschaften
ihre eigene Macht freiwillig beschränken könnten; sie sagten dem Könige
voraus was nach vier Jahren eintraf: die Vereinigten Provinzialstände
würden sich nicht für befugt halten, in die Rechte des verheißenen Reichs-
tags einzugreifen. Nicht ganz so ablehnend, aber auch nicht zustimmend lau-
teten die Gutachten von Rochow, Alvensleben, Rother, Arnim. Mehrere
empfahlen die Berufung eines gewählten ständischen Ausschusses. Der
Justizminister Mühler wagte sogar die ketzerische Behauptung: "Gegen eine
Verfassungsurkunde des preußischen Staates läßt sich nichts erinnern. Eine
solche Urkunde im Sinne des monarchischen Princips wäre die erste ihrer
Art und würde dann zu den constitutionellen Charten anderer Länder einen
interessanten Gegensatz bilden."

Der alte Rother sogar, der als treuer Diener des verstorbenen Königs
nur dessen letzten Willen auszuführen, nur einen kleinen Ausschuß von
32 Landständen und eben so vielen Staatsräthen zu berufen vorschlug,
fühlte sich doch gedrungen zu der bestimmten Erklärung: die Verwaltung
der Staatsschulden lasse sich ohne irgend eine Mitwirkung von Ständen
auf die Dauer nicht mehr weiterführen. Die Schuld, so führte er aus,
sei seit 1820 um fast 68 Mill. Thlr., bis auf 138,86 Mill. vermindert
worden und werde in einer nahen Zukunft nur noch 100 Mill. be-
tragen. Tiefer aber dürfe sie nicht sinken; sonst triebe man das heimische
Capital in das Ausland oder in Schwindelgeschäfte; darum müsse das

V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung.
war ein rein doktrinäres Bedenken; denn kam der Vereinigte Landtag
einmal zuſammen, ſo mußte er unfehlbar häufig wiederkehren, keine Macht
der Welt konnte dies dann noch verhindern. Endlich ſcheute der König
die Aufregung der Wahlen, obwohl doch die Erwählung der Vereinigten
Ausſchüſſe ſoeben ganz ruhig verlaufen war, und wollte darum die Reichs-
ſtände durch einfache Zuſammenberufung aller Provinziallandtage bilden.

Alle dieſe Abweichungen von den alten Geſetzen hoffte er aber auf
ſtreng rechtlichem Wege, mit Zuſtimmung ſeiner getreuen Stände ſelbſt,
durchzuführen, und ſtellte daher an den Miniſterrath drei Fragen. Er-
ſtens, kann man den Ständen, wenn man ſie auf dem Provinzialland-
tage oder in einem Vereinigten Landtage befragt und ihnen das Steuer-
bewilligungsrecht zugeſteht, die Anforderung ſtellen, daß ſie auf die Zu-
ſtimmung zu Kriegsanleihen verzichten? Zweitens, werden ſie ſich nicht
für incompetent erklären? Drittens, ſind für den Fall eines plötzlich
ausbrechenden Krieges genügende Mittel vorhanden? Die Befragten
waren ebenſo ſehr verwundert über die halb freigebigen halb kargen Ge-
währungen des Monarchen, wie über die rechtlichen Schwierigkeiten, die
er ſich durch ſeinen künſtlichen Plan ſelbſt geſchaffen hatte. Ganz ein-
verſtanden erklärte ſich nur Einer, Geh. Rath von Voß. Die große Mehr-
zahl der Miniſter, Boyen, Thile, Bodelſchwingh, Stolberg, Mühler, Eich-
horn, Savigny, Bülow, ja ſelbſt der greiſe Präſident des Staatsraths
General Müffling hielten für unmöglich, daß ſtändiſche Körperſchaften
ihre eigene Macht freiwillig beſchränken könnten; ſie ſagten dem Könige
voraus was nach vier Jahren eintraf: die Vereinigten Provinzialſtände
würden ſich nicht für befugt halten, in die Rechte des verheißenen Reichs-
tags einzugreifen. Nicht ganz ſo ablehnend, aber auch nicht zuſtimmend lau-
teten die Gutachten von Rochow, Alvensleben, Rother, Arnim. Mehrere
empfahlen die Berufung eines gewählten ſtändiſchen Ausſchuſſes. Der
Juſtizminiſter Mühler wagte ſogar die ketzeriſche Behauptung: „Gegen eine
Verfaſſungsurkunde des preußiſchen Staates läßt ſich nichts erinnern. Eine
ſolche Urkunde im Sinne des monarchiſchen Princips wäre die erſte ihrer
Art und würde dann zu den conſtitutionellen Charten anderer Länder einen
intereſſanten Gegenſatz bilden.“

Der alte Rother ſogar, der als treuer Diener des verſtorbenen Königs
nur deſſen letzten Willen auszuführen, nur einen kleinen Ausſchuß von
32 Landſtänden und eben ſo vielen Staatsräthen zu berufen vorſchlug,
fühlte ſich doch gedrungen zu der beſtimmten Erklärung: die Verwaltung
der Staatsſchulden laſſe ſich ohne irgend eine Mitwirkung von Ständen
auf die Dauer nicht mehr weiterführen. Die Schuld, ſo führte er aus,
ſei ſeit 1820 um faſt 68 Mill. Thlr., bis auf 138,86 Mill. vermindert
worden und werde in einer nahen Zukunft nur noch 100 Mill. be-
tragen. Tiefer aber dürfe ſie nicht ſinken; ſonſt triebe man das heimiſche
Capital in das Ausland oder in Schwindelgeſchäfte; darum müſſe das

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[188/0202] V. 3. Enttäuſchung und Verwirrung. war ein rein doktrinäres Bedenken; denn kam der Vereinigte Landtag einmal zuſammen, ſo mußte er unfehlbar häufig wiederkehren, keine Macht der Welt konnte dies dann noch verhindern. Endlich ſcheute der König die Aufregung der Wahlen, obwohl doch die Erwählung der Vereinigten Ausſchüſſe ſoeben ganz ruhig verlaufen war, und wollte darum die Reichs- ſtände durch einfache Zuſammenberufung aller Provinziallandtage bilden. Alle dieſe Abweichungen von den alten Geſetzen hoffte er aber auf ſtreng rechtlichem Wege, mit Zuſtimmung ſeiner getreuen Stände ſelbſt, durchzuführen, und ſtellte daher an den Miniſterrath drei Fragen. Er- ſtens, kann man den Ständen, wenn man ſie auf dem Provinzialland- tage oder in einem Vereinigten Landtage befragt und ihnen das Steuer- bewilligungsrecht zugeſteht, die Anforderung ſtellen, daß ſie auf die Zu- ſtimmung zu Kriegsanleihen verzichten? Zweitens, werden ſie ſich nicht für incompetent erklären? Drittens, ſind für den Fall eines plötzlich ausbrechenden Krieges genügende Mittel vorhanden? Die Befragten waren ebenſo ſehr verwundert über die halb freigebigen halb kargen Ge- währungen des Monarchen, wie über die rechtlichen Schwierigkeiten, die er ſich durch ſeinen künſtlichen Plan ſelbſt geſchaffen hatte. Ganz ein- verſtanden erklärte ſich nur Einer, Geh. Rath von Voß. Die große Mehr- zahl der Miniſter, Boyen, Thile, Bodelſchwingh, Stolberg, Mühler, Eich- horn, Savigny, Bülow, ja ſelbſt der greiſe Präſident des Staatsraths General Müffling hielten für unmöglich, daß ſtändiſche Körperſchaften ihre eigene Macht freiwillig beſchränken könnten; ſie ſagten dem Könige voraus was nach vier Jahren eintraf: die Vereinigten Provinzialſtände würden ſich nicht für befugt halten, in die Rechte des verheißenen Reichs- tags einzugreifen. Nicht ganz ſo ablehnend, aber auch nicht zuſtimmend lau- teten die Gutachten von Rochow, Alvensleben, Rother, Arnim. Mehrere empfahlen die Berufung eines gewählten ſtändiſchen Ausſchuſſes. Der Juſtizminiſter Mühler wagte ſogar die ketzeriſche Behauptung: „Gegen eine Verfaſſungsurkunde des preußiſchen Staates läßt ſich nichts erinnern. Eine ſolche Urkunde im Sinne des monarchiſchen Princips wäre die erſte ihrer Art und würde dann zu den conſtitutionellen Charten anderer Länder einen intereſſanten Gegenſatz bilden.“ Der alte Rother ſogar, der als treuer Diener des verſtorbenen Königs nur deſſen letzten Willen auszuführen, nur einen kleinen Ausſchuß von 32 Landſtänden und eben ſo vielen Staatsräthen zu berufen vorſchlug, fühlte ſich doch gedrungen zu der beſtimmten Erklärung: die Verwaltung der Staatsſchulden laſſe ſich ohne irgend eine Mitwirkung von Ständen auf die Dauer nicht mehr weiterführen. Die Schuld, ſo führte er aus, ſei ſeit 1820 um faſt 68 Mill. Thlr., bis auf 138,86 Mill. vermindert worden und werde in einer nahen Zukunft nur noch 100 Mill. be- tragen. Tiefer aber dürfe ſie nicht ſinken; ſonſt triebe man das heimiſche Capital in das Ausland oder in Schwindelgeſchäfte; darum müſſe das

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/202>, abgerufen am 24.04.2024.