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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 9. Der welfische Staatsstreich.
den Syndicus mit der Leitung der Gemeindeverwaltung und betheuerte
die Paragraphen der Stadtverfassung nicht gekannt zu haben. Gesinnungs-
genossen besaß er noch immer nirgends. Sogar seine alten Freunde, die
englischen Hochtorys fanden diese so muthwillig vom Zaune gebrochene
Gewaltthat empörend. Außer Zimmermann, dessen hochmüthige Sprache
mehr erbitterte als überzeugte, wagte nur noch ein Schriftsteller für den
Welfenhof eine Lanze zu brechen: der fanatische, halbtolle Legitimist Graf
Corberon, der in Dahlmann und Stüve Sendboten der internationalen
Propaganda zu erkennen glaubte. Von allen größeren deutschen Zeitungen
hielt allein das Berliner Wochenblatt bei dem Welfen aus; die Zeitschrift
wußte schon nicht mehr, wie dringend sie noch kürzlich vor allen gesetz-
widrigen Verfassungsänderungen gewarnt hatte.

Trotz Alledem schritt Ernst August vorwärts. Bei der Eröffnung des
Staatsrathes, den er sich nach preußischem Muster gebildet hatte, verkündete
sein Stiefsohn Prinz Bernhard zu Solms: unter der glorreichen Regierung
König Ernst August's, in der patriarchalischen christlich-germanischen Mon-
archie sollten "gleich beschirmt die Rechte des Königs von Gottes Gnaden,
des Edlen, des Bürgers und des Bauern, in organischer Gliederung neben
einander jedes in eigener Bahn, Wurzel fassen, blühen und gedeihen".
Und diese Zuversicht war nicht grundlos. Eine leidenschaftliche Volks-
überzeugung, die den Welfen erschrecken konnte, offenbarte sich nirgends.
Sobald die Rechtsgutachten der drei Facultäten erschienen, verweigerten
etwa hundert Osnabrücker Bürger die Steuerzahlung und ließen sich dann
gemüthlich auspfänden. Dabei blieb Alles ruhig. Bei seinen Reisen durch
das Land fand der König überall jubelnden Empfang, und die Depu-
tationen der Provinzialstände, die er sich bestellte, schwelgten in Versiche-
rungen der Unterthänigkeit. Als er die Garnison von Hildesheim ver-
minderte und nachher auf einer Reise draußen vor dem Thore, ohne die
Stadt zu berühren, umspannen ließ, da rotteten sich die kleinen Leute vor
dem Hause des liberalen Bürgermeisters Lüntzel zusammen und sendeten
dem erzürnten Monarchen eine Ergebenheits-Adresse. Die Hildesheimer
Zeitung feierte Ernst August als "den einzig wahren Bürgerkönig", und
selbst Canitz konnte sich der Bemerkung nicht enthalten: dies sei "ein wohl
nicht ganz glücklich gerichteter Lobspruch".*)

Von solchen Philistern stand wenig zu fürchten, und nun zeigte sich
doch, daß der alte Welfe nicht blos ein Tyrann war. In Allem was die
Verfassungsfrage nicht berührte verfuhr er einsichtig und gewissenhaft. An-
spruchslos im täglichen Leben, führte er einen glänzenden, wohlgeordneten
Hofhalt, der durch Malortie's Buch "der Hofmarschall" einen europäischen
Ruf erlangte; trotz allem politischen Groll konnten die Bürger Hannovers
nicht leugnen, daß ihre gute Stadt durch den anwesenden König viel

*) Canitz's Bericht, 16. Dec. 1838.

IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
den Syndicus mit der Leitung der Gemeindeverwaltung und betheuerte
die Paragraphen der Stadtverfaſſung nicht gekannt zu haben. Geſinnungs-
genoſſen beſaß er noch immer nirgends. Sogar ſeine alten Freunde, die
engliſchen Hochtorys fanden dieſe ſo muthwillig vom Zaune gebrochene
Gewaltthat empörend. Außer Zimmermann, deſſen hochmüthige Sprache
mehr erbitterte als überzeugte, wagte nur noch ein Schriftſteller für den
Welfenhof eine Lanze zu brechen: der fanatiſche, halbtolle Legitimiſt Graf
Corberon, der in Dahlmann und Stüve Sendboten der internationalen
Propaganda zu erkennen glaubte. Von allen größeren deutſchen Zeitungen
hielt allein das Berliner Wochenblatt bei dem Welfen aus; die Zeitſchrift
wußte ſchon nicht mehr, wie dringend ſie noch kürzlich vor allen geſetz-
widrigen Verfaſſungsänderungen gewarnt hatte.

Trotz Alledem ſchritt Ernſt Auguſt vorwärts. Bei der Eröffnung des
Staatsrathes, den er ſich nach preußiſchem Muſter gebildet hatte, verkündete
ſein Stiefſohn Prinz Bernhard zu Solms: unter der glorreichen Regierung
König Ernſt Auguſt’s, in der patriarchaliſchen chriſtlich-germaniſchen Mon-
archie ſollten „gleich beſchirmt die Rechte des Königs von Gottes Gnaden,
des Edlen, des Bürgers und des Bauern, in organiſcher Gliederung neben
einander jedes in eigener Bahn, Wurzel faſſen, blühen und gedeihen“.
Und dieſe Zuverſicht war nicht grundlos. Eine leidenſchaftliche Volks-
überzeugung, die den Welfen erſchrecken konnte, offenbarte ſich nirgends.
Sobald die Rechtsgutachten der drei Facultäten erſchienen, verweigerten
etwa hundert Osnabrücker Bürger die Steuerzahlung und ließen ſich dann
gemüthlich auspfänden. Dabei blieb Alles ruhig. Bei ſeinen Reiſen durch
das Land fand der König überall jubelnden Empfang, und die Depu-
tationen der Provinzialſtände, die er ſich beſtellte, ſchwelgten in Verſiche-
rungen der Unterthänigkeit. Als er die Garniſon von Hildesheim ver-
minderte und nachher auf einer Reiſe draußen vor dem Thore, ohne die
Stadt zu berühren, umſpannen ließ, da rotteten ſich die kleinen Leute vor
dem Hauſe des liberalen Bürgermeiſters Lüntzel zuſammen und ſendeten
dem erzürnten Monarchen eine Ergebenheits-Adreſſe. Die Hildesheimer
Zeitung feierte Ernſt Auguſt als „den einzig wahren Bürgerkönig“, und
ſelbſt Canitz konnte ſich der Bemerkung nicht enthalten: dies ſei „ein wohl
nicht ganz glücklich gerichteter Lobſpruch“.*)

Von ſolchen Philiſtern ſtand wenig zu fürchten, und nun zeigte ſich
doch, daß der alte Welfe nicht blos ein Tyrann war. In Allem was die
Verfaſſungsfrage nicht berührte verfuhr er einſichtig und gewiſſenhaft. An-
ſpruchslos im täglichen Leben, führte er einen glänzenden, wohlgeordneten
Hofhalt, der durch Malortie’s Buch „der Hofmarſchall“ einen europäiſchen
Ruf erlangte; trotz allem politiſchen Groll konnten die Bürger Hannovers
nicht leugnen, daß ihre gute Stadt durch den anweſenden König viel

*) Canitz’s Bericht, 16. Dec. 1838.
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[672/0686] IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich. den Syndicus mit der Leitung der Gemeindeverwaltung und betheuerte die Paragraphen der Stadtverfaſſung nicht gekannt zu haben. Geſinnungs- genoſſen beſaß er noch immer nirgends. Sogar ſeine alten Freunde, die engliſchen Hochtorys fanden dieſe ſo muthwillig vom Zaune gebrochene Gewaltthat empörend. Außer Zimmermann, deſſen hochmüthige Sprache mehr erbitterte als überzeugte, wagte nur noch ein Schriftſteller für den Welfenhof eine Lanze zu brechen: der fanatiſche, halbtolle Legitimiſt Graf Corberon, der in Dahlmann und Stüve Sendboten der internationalen Propaganda zu erkennen glaubte. Von allen größeren deutſchen Zeitungen hielt allein das Berliner Wochenblatt bei dem Welfen aus; die Zeitſchrift wußte ſchon nicht mehr, wie dringend ſie noch kürzlich vor allen geſetz- widrigen Verfaſſungsänderungen gewarnt hatte. Trotz Alledem ſchritt Ernſt Auguſt vorwärts. Bei der Eröffnung des Staatsrathes, den er ſich nach preußiſchem Muſter gebildet hatte, verkündete ſein Stiefſohn Prinz Bernhard zu Solms: unter der glorreichen Regierung König Ernſt Auguſt’s, in der patriarchaliſchen chriſtlich-germaniſchen Mon- archie ſollten „gleich beſchirmt die Rechte des Königs von Gottes Gnaden, des Edlen, des Bürgers und des Bauern, in organiſcher Gliederung neben einander jedes in eigener Bahn, Wurzel faſſen, blühen und gedeihen“. Und dieſe Zuverſicht war nicht grundlos. Eine leidenſchaftliche Volks- überzeugung, die den Welfen erſchrecken konnte, offenbarte ſich nirgends. Sobald die Rechtsgutachten der drei Facultäten erſchienen, verweigerten etwa hundert Osnabrücker Bürger die Steuerzahlung und ließen ſich dann gemüthlich auspfänden. Dabei blieb Alles ruhig. Bei ſeinen Reiſen durch das Land fand der König überall jubelnden Empfang, und die Depu- tationen der Provinzialſtände, die er ſich beſtellte, ſchwelgten in Verſiche- rungen der Unterthänigkeit. Als er die Garniſon von Hildesheim ver- minderte und nachher auf einer Reiſe draußen vor dem Thore, ohne die Stadt zu berühren, umſpannen ließ, da rotteten ſich die kleinen Leute vor dem Hauſe des liberalen Bürgermeiſters Lüntzel zuſammen und ſendeten dem erzürnten Monarchen eine Ergebenheits-Adreſſe. Die Hildesheimer Zeitung feierte Ernſt Auguſt als „den einzig wahren Bürgerkönig“, und ſelbſt Canitz konnte ſich der Bemerkung nicht enthalten: dies ſei „ein wohl nicht ganz glücklich gerichteter Lobſpruch“. *) Von ſolchen Philiſtern ſtand wenig zu fürchten, und nun zeigte ſich doch, daß der alte Welfe nicht blos ein Tyrann war. In Allem was die Verfaſſungsfrage nicht berührte verfuhr er einſichtig und gewiſſenhaft. An- ſpruchslos im täglichen Leben, führte er einen glänzenden, wohlgeordneten Hofhalt, der durch Malortie’s Buch „der Hofmarſchall“ einen europäiſchen Ruf erlangte; trotz allem politiſchen Groll konnten die Bürger Hannovers nicht leugnen, daß ihre gute Stadt durch den anweſenden König viel *) Canitz’s Bericht, 16. Dec. 1838.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 672. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/686>, abgerufen am 28.04.2024.