athemloses Treiben nahm überhand, eine fieberische Begehrlichkeit nach dem Neuen und Unbekannten, ein Drang nach Genuß und Gewinn, der von dem überspannten Idealismus des älteren Geschlechts unheimlich ab- stach. Die Geselligkeit verödete. Je mehr die Zahl der Briefe zunahm, um so dürftiger wurde ihr Inhalt, und seit die Zeitungen sich mehrten, schrieb der gebildete Mann fast nur noch Geschäftsbriefe. Der anschwel- lende Verkehr wirbelte alle Stände dermaßen durch einander, daß der Kastendünkel sich kaum mehr halten konnte. Die Gesellschaft demokrati- sirte sich, die Umgangssprache ward kürzer, geschäftlicher, aber auch grob und ungemüthlich. Der Durchschnittsmensch empfing eine Masse neuer Eindrücke und Kenntnisse, doch je mehr sie sich drängten, um so weniger hafteten sie. Das neue Geschlecht krankte an einer vielseitigen, oberfläch- lichen Bildung, an Uebersättigung, Zerstreutheit, Anmaßung. Die großen Städte wuchsen unaufhaltsam, manche der kleinen sanken, eine krampfhafte Lust an den großstädtischen Genüssen verbreitete sich weithin im Volke, und mit der Macht der Massen-Capitalien stieg auch das Massen-Elend.
Für das zerrissene Deutschland war der Segen dieser neuen Ver- hältnisse doch ungleich größer als ihre Nachtheile. Der schreiende Wider- spruch geistiger Größe und wirthschaftlicher Armseligkeit konnte nicht fort- dauern ohne den Charakter des Volkes zu gefährden. Die werdende poli- tische Macht des neuen Deutschlands bedurfte des Wohlstandes und der kecken Unternehmungslust, das verhockte und verstockte Treiben der Klein- städter einer kräftigen Aufrüttelung. Der unwürdige polizeiliche Druck, der auf dem deutschen Leben lag, konnte weder durch Kammerreden noch durch Zeitungsartikel überwunden werden, sondern nur durch die physische Macht eines aller Ueberwachung spottenden gewaltigen Verkehres. Seit man das engere Vaterland in drei Stunden durchfuhr, kam auch dem schlichten Manne die ganze verlogene Niedertracht der Kleinstaaterei zum Bewußtsein, und er begann zu ahnen was es heiße, eine große Nation zu sein. Die Grenzen der Stämme und der Staaten verloren ihre tren- nende Macht, zahllose nachbarliche Vorurtheile schliffen sich ab, und die Deutschen erlangten allmählich, was ihnen vor Allem fehlte, das Glück einander kennen zu lernen. Darum nannte der deutsch-ungarische Poet Karl Beck, in dem Feuilletonstile der Zeit, die Eisenbahn-Aktien "Wechsel ausgestellt auf Deutschlands Einheit". Auch dem Auslande gegenüber be- währte sich dies erstarkende Selbstgefühl. Die ersten Eisenbahnen wurden noch zum guten Theile mit englischem Capital erbaut. Nach und nach ver- suchte der deutsche Geldmarkt selbständiger zu werden und, was unendlich mehr bedeutete, seit die deutschen Eisenwerke wohlfeilere Kohlen erhielten, begannen sie die englischen Schienen zu verdrängen. Erst durch die billigen Eisenbahnfrachten gelangte die Nation wirklich in Besitz ihrer Eisen- und Kohlenschätze. Wieder einmal bewährte sich das alte heilsame Gesetz des historischen Undanks. Deutschland hatte von England gelernt und schob
Erſte Wirkungen der Eiſenbahnen.
athemloſes Treiben nahm überhand, eine fieberiſche Begehrlichkeit nach dem Neuen und Unbekannten, ein Drang nach Genuß und Gewinn, der von dem überſpannten Idealismus des älteren Geſchlechts unheimlich ab- ſtach. Die Geſelligkeit verödete. Je mehr die Zahl der Briefe zunahm, um ſo dürftiger wurde ihr Inhalt, und ſeit die Zeitungen ſich mehrten, ſchrieb der gebildete Mann faſt nur noch Geſchäftsbriefe. Der anſchwel- lende Verkehr wirbelte alle Stände dermaßen durch einander, daß der Kaſtendünkel ſich kaum mehr halten konnte. Die Geſellſchaft demokrati- ſirte ſich, die Umgangsſprache ward kürzer, geſchäftlicher, aber auch grob und ungemüthlich. Der Durchſchnittsmenſch empfing eine Maſſe neuer Eindrücke und Kenntniſſe, doch je mehr ſie ſich drängten, um ſo weniger hafteten ſie. Das neue Geſchlecht krankte an einer vielſeitigen, oberfläch- lichen Bildung, an Ueberſättigung, Zerſtreutheit, Anmaßung. Die großen Städte wuchſen unaufhaltſam, manche der kleinen ſanken, eine krampfhafte Luſt an den großſtädtiſchen Genüſſen verbreitete ſich weithin im Volke, und mit der Macht der Maſſen-Capitalien ſtieg auch das Maſſen-Elend.
Für das zerriſſene Deutſchland war der Segen dieſer neuen Ver- hältniſſe doch ungleich größer als ihre Nachtheile. Der ſchreiende Wider- ſpruch geiſtiger Größe und wirthſchaftlicher Armſeligkeit konnte nicht fort- dauern ohne den Charakter des Volkes zu gefährden. Die werdende poli- tiſche Macht des neuen Deutſchlands bedurfte des Wohlſtandes und der kecken Unternehmungsluſt, das verhockte und verſtockte Treiben der Klein- ſtädter einer kräftigen Aufrüttelung. Der unwürdige polizeiliche Druck, der auf dem deutſchen Leben lag, konnte weder durch Kammerreden noch durch Zeitungsartikel überwunden werden, ſondern nur durch die phyſiſche Macht eines aller Ueberwachung ſpottenden gewaltigen Verkehres. Seit man das engere Vaterland in drei Stunden durchfuhr, kam auch dem ſchlichten Manne die ganze verlogene Niedertracht der Kleinſtaaterei zum Bewußtſein, und er begann zu ahnen was es heiße, eine große Nation zu ſein. Die Grenzen der Stämme und der Staaten verloren ihre tren- nende Macht, zahlloſe nachbarliche Vorurtheile ſchliffen ſich ab, und die Deutſchen erlangten allmählich, was ihnen vor Allem fehlte, das Glück einander kennen zu lernen. Darum nannte der deutſch-ungariſche Poet Karl Beck, in dem Feuilletonſtile der Zeit, die Eiſenbahn-Aktien „Wechſel ausgeſtellt auf Deutſchlands Einheit“. Auch dem Auslande gegenüber be- währte ſich dies erſtarkende Selbſtgefühl. Die erſten Eiſenbahnen wurden noch zum guten Theile mit engliſchem Capital erbaut. Nach und nach ver- ſuchte der deutſche Geldmarkt ſelbſtändiger zu werden und, was unendlich mehr bedeutete, ſeit die deutſchen Eiſenwerke wohlfeilere Kohlen erhielten, begannen ſie die engliſchen Schienen zu verdrängen. Erſt durch die billigen Eiſenbahnfrachten gelangte die Nation wirklich in Beſitz ihrer Eiſen- und Kohlenſchätze. Wieder einmal bewährte ſich das alte heilſame Geſetz des hiſtoriſchen Undanks. Deutſchland hatte von England gelernt und ſchob
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Erſte Wirkungen der Eiſenbahnen.
athemloſes Treiben nahm überhand, eine fieberiſche Begehrlichkeit nach
dem Neuen und Unbekannten, ein Drang nach Genuß und Gewinn, der
von dem überſpannten Idealismus des älteren Geſchlechts unheimlich ab-
ſtach. Die Geſelligkeit verödete. Je mehr die Zahl der Briefe zunahm,
um ſo dürftiger wurde ihr Inhalt, und ſeit die Zeitungen ſich mehrten,
ſchrieb der gebildete Mann faſt nur noch Geſchäftsbriefe. Der anſchwel-
lende Verkehr wirbelte alle Stände dermaßen durch einander, daß der
Kaſtendünkel ſich kaum mehr halten konnte. Die Geſellſchaft demokrati-
ſirte ſich, die Umgangsſprache ward kürzer, geſchäftlicher, aber auch grob
und ungemüthlich. Der Durchſchnittsmenſch empfing eine Maſſe neuer
Eindrücke und Kenntniſſe, doch je mehr ſie ſich drängten, um ſo weniger
hafteten ſie. Das neue Geſchlecht krankte an einer vielſeitigen, oberfläch-
lichen Bildung, an Ueberſättigung, Zerſtreutheit, Anmaßung. Die großen
Städte wuchſen unaufhaltſam, manche der kleinen ſanken, eine krampfhafte
Luſt an den großſtädtiſchen Genüſſen verbreitete ſich weithin im Volke,
und mit der Macht der Maſſen-Capitalien ſtieg auch das Maſſen-Elend.
Für das zerriſſene Deutſchland war der Segen dieſer neuen Ver-
hältniſſe doch ungleich größer als ihre Nachtheile. Der ſchreiende Wider-
ſpruch geiſtiger Größe und wirthſchaftlicher Armſeligkeit konnte nicht fort-
dauern ohne den Charakter des Volkes zu gefährden. Die werdende poli-
tiſche Macht des neuen Deutſchlands bedurfte des Wohlſtandes und der
kecken Unternehmungsluſt, das verhockte und verſtockte Treiben der Klein-
ſtädter einer kräftigen Aufrüttelung. Der unwürdige polizeiliche Druck,
der auf dem deutſchen Leben lag, konnte weder durch Kammerreden noch
durch Zeitungsartikel überwunden werden, ſondern nur durch die phyſiſche
Macht eines aller Ueberwachung ſpottenden gewaltigen Verkehres. Seit
man das engere Vaterland in drei Stunden durchfuhr, kam auch dem
ſchlichten Manne die ganze verlogene Niedertracht der Kleinſtaaterei zum
Bewußtſein, und er begann zu ahnen was es heiße, eine große Nation
zu ſein. Die Grenzen der Stämme und der Staaten verloren ihre tren-
nende Macht, zahlloſe nachbarliche Vorurtheile ſchliffen ſich ab, und die
Deutſchen erlangten allmählich, was ihnen vor Allem fehlte, das Glück
einander kennen zu lernen. Darum nannte der deutſch-ungariſche Poet
Karl Beck, in dem Feuilletonſtile der Zeit, die Eiſenbahn-Aktien „Wechſel
ausgeſtellt auf Deutſchlands Einheit“. Auch dem Auslande gegenüber be-
währte ſich dies erſtarkende Selbſtgefühl. Die erſten Eiſenbahnen wurden
noch zum guten Theile mit engliſchem Capital erbaut. Nach und nach ver-
ſuchte der deutſche Geldmarkt ſelbſtändiger zu werden und, was unendlich
mehr bedeutete, ſeit die deutſchen Eiſenwerke wohlfeilere Kohlen erhielten,
begannen ſie die engliſchen Schienen zu verdrängen. Erſt durch die billigen
Eiſenbahnfrachten gelangte die Nation wirklich in Beſitz ihrer Eiſen- und
Kohlenſchätze. Wieder einmal bewährte ſich das alte heilſame Geſetz des
hiſtoriſchen Undanks. Deutſchland hatte von England gelernt und ſchob
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 597. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/611>, abgerufen am 27.04.2024.
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