konnte, verstand sich in dieser Stadt der künstlichen Engländer ganz von selbst. Bei König Ludwig klopfte er ebenso vergeblich an; er suchte ihm zu beweisen, ein Kanal vermöge doch nur gegebene Punkte zu verbinden, wäh- rend die Eisenbahnen ein zusammenhängendes Netz bilden könnten, auch sei die ersehnte Verbindung zwischen der Nordsee und dem Schwarzen Meere ja schon längst vorhanden, der beste Weg führe durch die Straße von Gibraltar. Zugleich arbeitete er unermüdlich für die Zeitungen und nannte sich selbst gern Dr. Möser den Jüngeren; seine Kunst, schwere volkswirthschaftliche Fragen leicht, lebendig, anschaulich zu behandeln, er- innerte in der That an Justus Möser's schalkhafte Weise, nur daß be- dem streitbaren Schwaben die Leidenschaft immer wieder durchbrach. Wenig gelehrt, aber reich gebildet und im Leben erfahren, überragte er alle an- deren volkswirthschaftlichen Publicisten so weit wie sein Landsmann Paul Pfizer die politischen. Die herrschende abstrakte Freihandelsdoctrin, die sich gleich der Naturrechtslehre einen durch Naturgesetze bedingten Normal- zustand der Volkswirthschaft construirte, ward ihm immer verhaßter. Er begann schon das wirthschaftliche Leben historisch zu betrachten, wie Savigny das Recht, und suchte die Gesetze der Volkswirthschaftspolitik aus den wech- selnden socialen Zuständen abzuleiten.
Ein gütiges Geschick führte ihn endlich nach Leipzig, eben in dem Augenblicke, da die Bürgerschaft dem Anschluß an den Zollverein entgegen- sah und, ohne Wasserstraßen wie sie war, ängstlich nach neuen Verkehrs- wegen suchte. Hier oder nirgends, das sah er auf den ersten Blick, mußte der Grundstein des deutschen Eisenbahnsystems gelegt werden; wenn hier mit den Capitalien der bedrängten reichen Handelsstadt eine große Ver- kehrsbahn entstand, so konnte ihr in dem gewerbreichen Lande der Erfolg nicht fehlen, und der Anschluß neuer Bahnen nach dem Norden und Westen ergab sich dann fast von selbst aus Leipzigs centraler Lage. Die wohl- wollende sächsische Regierung gestattete ihm den Aufenthalt, unbekümmert um die Warnungen der Wiener Hofburg und des unversöhnlichen Königs von Württemberg.*) Sofort ließ er nun sein Büchlein "über ein sächsisches Eisenbahnsystem als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahn- systems" (1833) erscheinen. In großen Zügen entwarf er hier, mit wunder- barem Scharfblick fast überall das Rechte treffend, ein Bild von dem Eisenbahnwesen der Zukunft: Lindau und Basel, Bremen und Hamburg, Stettin, Danzig und Breslau sollten vorläufig die Endpunkte des deut- schen Bahnnetzes bilden, ganz wie es sich nachher erfüllte. In Berlin, das er nur oberflächlich kannte, sah er doch schon den Mittelpunkt des deutschen Verkehrs; sechs große Bahnlinien, die allesammt späterhin ge- baut worden sind, wollte er dort einmünden lassen. Sein Plan galt nur dem Zollvereine und dessen Vorlanden; Oesterreich ließ er, mit Ausnahme
*) Frankenberg's Bericht, 20. Jan. 1835.
Liſt’s deutſcher Eiſenbahnplan.
konnte, verſtand ſich in dieſer Stadt der künſtlichen Engländer ganz von ſelbſt. Bei König Ludwig klopfte er ebenſo vergeblich an; er ſuchte ihm zu beweiſen, ein Kanal vermöge doch nur gegebene Punkte zu verbinden, wäh- rend die Eiſenbahnen ein zuſammenhängendes Netz bilden könnten, auch ſei die erſehnte Verbindung zwiſchen der Nordſee und dem Schwarzen Meere ja ſchon längſt vorhanden, der beſte Weg führe durch die Straße von Gibraltar. Zugleich arbeitete er unermüdlich für die Zeitungen und nannte ſich ſelbſt gern Dr. Möſer den Jüngeren; ſeine Kunſt, ſchwere volkswirthſchaftliche Fragen leicht, lebendig, anſchaulich zu behandeln, er- innerte in der That an Juſtus Möſer’s ſchalkhafte Weiſe, nur daß be- dem ſtreitbaren Schwaben die Leidenſchaft immer wieder durchbrach. Wenig gelehrt, aber reich gebildet und im Leben erfahren, überragte er alle an- deren volkswirthſchaftlichen Publiciſten ſo weit wie ſein Landsmann Paul Pfizer die politiſchen. Die herrſchende abſtrakte Freihandelsdoctrin, die ſich gleich der Naturrechtslehre einen durch Naturgeſetze bedingten Normal- zuſtand der Volkswirthſchaft conſtruirte, ward ihm immer verhaßter. Er begann ſchon das wirthſchaftliche Leben hiſtoriſch zu betrachten, wie Savigny das Recht, und ſuchte die Geſetze der Volkswirthſchaftspolitik aus den wech- ſelnden ſocialen Zuſtänden abzuleiten.
Ein gütiges Geſchick führte ihn endlich nach Leipzig, eben in dem Augenblicke, da die Bürgerſchaft dem Anſchluß an den Zollverein entgegen- ſah und, ohne Waſſerſtraßen wie ſie war, ängſtlich nach neuen Verkehrs- wegen ſuchte. Hier oder nirgends, das ſah er auf den erſten Blick, mußte der Grundſtein des deutſchen Eiſenbahnſyſtems gelegt werden; wenn hier mit den Capitalien der bedrängten reichen Handelsſtadt eine große Ver- kehrsbahn entſtand, ſo konnte ihr in dem gewerbreichen Lande der Erfolg nicht fehlen, und der Anſchluß neuer Bahnen nach dem Norden und Weſten ergab ſich dann faſt von ſelbſt aus Leipzigs centraler Lage. Die wohl- wollende ſächſiſche Regierung geſtattete ihm den Aufenthalt, unbekümmert um die Warnungen der Wiener Hofburg und des unverſöhnlichen Königs von Württemberg.*) Sofort ließ er nun ſein Büchlein „über ein ſächſiſches Eiſenbahnſyſtem als Grundlage eines allgemeinen deutſchen Eiſenbahn- ſyſtems“ (1833) erſcheinen. In großen Zügen entwarf er hier, mit wunder- barem Scharfblick faſt überall das Rechte treffend, ein Bild von dem Eiſenbahnweſen der Zukunft: Lindau und Baſel, Bremen und Hamburg, Stettin, Danzig und Breslau ſollten vorläufig die Endpunkte des deut- ſchen Bahnnetzes bilden, ganz wie es ſich nachher erfüllte. In Berlin, das er nur oberflächlich kannte, ſah er doch ſchon den Mittelpunkt des deutſchen Verkehrs; ſechs große Bahnlinien, die alleſammt ſpäterhin ge- baut worden ſind, wollte er dort einmünden laſſen. Sein Plan galt nur dem Zollvereine und deſſen Vorlanden; Oeſterreich ließ er, mit Ausnahme
*) Frankenberg’s Bericht, 20. Jan. 1835.
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Liſt’s deutſcher Eiſenbahnplan.
konnte, verſtand ſich in dieſer Stadt der künſtlichen Engländer ganz von
ſelbſt. Bei König Ludwig klopfte er ebenſo vergeblich an; er ſuchte ihm zu
beweiſen, ein Kanal vermöge doch nur gegebene Punkte zu verbinden, wäh-
rend die Eiſenbahnen ein zuſammenhängendes Netz bilden könnten, auch
ſei die erſehnte Verbindung zwiſchen der Nordſee und dem Schwarzen
Meere ja ſchon längſt vorhanden, der beſte Weg führe durch die Straße
von Gibraltar. Zugleich arbeitete er unermüdlich für die Zeitungen und
nannte ſich ſelbſt gern Dr. Möſer den Jüngeren; ſeine Kunſt, ſchwere
volkswirthſchaftliche Fragen leicht, lebendig, anſchaulich zu behandeln, er-
innerte in der That an Juſtus Möſer’s ſchalkhafte Weiſe, nur daß be-
dem ſtreitbaren Schwaben die Leidenſchaft immer wieder durchbrach. Wenig
gelehrt, aber reich gebildet und im Leben erfahren, überragte er alle an-
deren volkswirthſchaftlichen Publiciſten ſo weit wie ſein Landsmann Paul
Pfizer die politiſchen. Die herrſchende abſtrakte Freihandelsdoctrin, die
ſich gleich der Naturrechtslehre einen durch Naturgeſetze bedingten Normal-
zuſtand der Volkswirthſchaft conſtruirte, ward ihm immer verhaßter. Er
begann ſchon das wirthſchaftliche Leben hiſtoriſch zu betrachten, wie Savigny
das Recht, und ſuchte die Geſetze der Volkswirthſchaftspolitik aus den wech-
ſelnden ſocialen Zuſtänden abzuleiten.
Ein gütiges Geſchick führte ihn endlich nach Leipzig, eben in dem
Augenblicke, da die Bürgerſchaft dem Anſchluß an den Zollverein entgegen-
ſah und, ohne Waſſerſtraßen wie ſie war, ängſtlich nach neuen Verkehrs-
wegen ſuchte. Hier oder nirgends, das ſah er auf den erſten Blick, mußte
der Grundſtein des deutſchen Eiſenbahnſyſtems gelegt werden; wenn hier
mit den Capitalien der bedrängten reichen Handelsſtadt eine große Ver-
kehrsbahn entſtand, ſo konnte ihr in dem gewerbreichen Lande der Erfolg
nicht fehlen, und der Anſchluß neuer Bahnen nach dem Norden und Weſten
ergab ſich dann faſt von ſelbſt aus Leipzigs centraler Lage. Die wohl-
wollende ſächſiſche Regierung geſtattete ihm den Aufenthalt, unbekümmert
um die Warnungen der Wiener Hofburg und des unverſöhnlichen Königs
von Württemberg. *) Sofort ließ er nun ſein Büchlein „über ein ſächſiſches
Eiſenbahnſyſtem als Grundlage eines allgemeinen deutſchen Eiſenbahn-
ſyſtems“ (1833) erſcheinen. In großen Zügen entwarf er hier, mit wunder-
barem Scharfblick faſt überall das Rechte treffend, ein Bild von dem
Eiſenbahnweſen der Zukunft: Lindau und Baſel, Bremen und Hamburg,
Stettin, Danzig und Breslau ſollten vorläufig die Endpunkte des deut-
ſchen Bahnnetzes bilden, ganz wie es ſich nachher erfüllte. In Berlin,
das er nur oberflächlich kannte, ſah er doch ſchon den Mittelpunkt des
deutſchen Verkehrs; ſechs große Bahnlinien, die alleſammt ſpäterhin ge-
baut worden ſind, wollte er dort einmünden laſſen. Sein Plan galt nur
dem Zollvereine und deſſen Vorlanden; Oeſterreich ließ er, mit Ausnahme
*) Frankenberg’s Bericht, 20. Jan. 1835.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 585. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/599>, abgerufen am 23.07.2024.
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