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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Die ersten Eisenbahnen.
liede viel besungene "arme Schwammmann" seine Zündwaaren feil; dann
gab es noch Pulsnitzer, Thorner oder Braunschweiger Pfefferkuchen für
die Kinder, und wenn es hoch herging, zeigten eine starke Dame oder ein
Affe auf dem Kameel ihre Künste. --

Erst die Eisenbahnen rissen die Nation aus ihrem wirthschaftlichen
Stillleben, sie vollendeten erst was der Zollverein nur begonnen hatte,
sie griffen in alle Lebensgewohnheiten so gewaltig ein, daß Deutschland
schon in den vierziger Jahren einen völlig veränderten Anblick darbot;
und immer wird es eine frohe Erinnerung unseres Volkes bleiben, wie
rasch, thatkräftig, entschlossen dies arme, politisch zersplitterte Geschlecht sich
der weltumgestaltenden neuen Erfindung bemächtigte. Vieles traf zu-
sammen, was den Deutschen den Entschluß erschwerte. Vor wenigen
Jahren erst hatte man die neuen preußischen Schnellposten wie ein Wun-
derwerk angestaunt; der Chausseebau war überall erst im Gange; ganze
Landestheile, selbst das reiche Vorpommern, entbehrten noch völlig der
Steinstraßen. Dies neue Straßennetz auszubauen und mit Schnellposten
auszustatten, erschien Allen als die nächste Aufgabe; und sie war schwierig
genug, da der Zollverein die Waarenzüge vielfach verändert, eine Menge
neuer Verkehrsbeziehungen geschaffen hatte. Wer hätte es nicht für toll-
kühn halten sollen, in einer solchen Zeit der wirthschaftlichen Umwälzung
auch noch eine Erfindung einzuführen, welche den Postbetrieb völlig um-
zugestalten, die Chausseen zum alten Eisen zu werfen drohte?

Nach der Eröffnung der Bahn von Liverpool nach Manchester (1826)
begannen in England wie in Nordamerika große Eisenbahnbauten. Das
britische Parlament hielt sich aber noch lange mißtrauisch zurück: sein
Comite erklärte es für "unzulässig, der Eisenbahnen wegen Opfer zu
bringen oder das Nationalvermögen zu verschleudern." Auf dem Conti-
nente ging Belgien voran. Hier lagen die Verhältnisse sehr einfach. Der
junge Staat bedurfte durchaus einer Bahn von Antwerpen nach dem
Rheine um seinen Scheldehafen gegen den Wettbewerb der feindseligen
Holländer zu decken; da die reiche Bourgeoisie die Kammern vollständig be-
herrschte, die großen Städte allesammt nahe bei einander lagen, auch der
Bau in der Ebene geringe Schwierigkeiten bot, so wurde schon 1834 ein
Staatsbahnsystem für das ganze Land, nach Stephenson's Plänen, be-
schlossen. Die Franzosen zauderten lange; selbst der sanguinische Thiers
meinte noch im Jahre 1830, eine Eisenbahn könne höchstens zum Spiel-
zeug für Großstädter dienen. Nachher übernahmen sie sich in kühnen Ent-
würfen, jedoch die Corruption ihres Parlamentarismus verhinderte rasches
Gelingen. Die großen Gesellschaften, die allesammt von Paris aus nach
den Grenzen zu ihre Bahnen bauen wollten, durften während langer
Jahre keine Theilstrecken eröffnen, weil die Regierung aus Furcht vor
den Wählern keinen Landestheil bevorzugen wollte. So geschah es, daß
Frankreich noch in den vierziger Jahren nur eine Eisenbahn besaß, die

Die erſten Eiſenbahnen.
liede viel beſungene „arme Schwammmann“ ſeine Zündwaaren feil; dann
gab es noch Pulsnitzer, Thorner oder Braunſchweiger Pfefferkuchen für
die Kinder, und wenn es hoch herging, zeigten eine ſtarke Dame oder ein
Affe auf dem Kameel ihre Künſte. —

Erſt die Eiſenbahnen riſſen die Nation aus ihrem wirthſchaftlichen
Stillleben, ſie vollendeten erſt was der Zollverein nur begonnen hatte,
ſie griffen in alle Lebensgewohnheiten ſo gewaltig ein, daß Deutſchland
ſchon in den vierziger Jahren einen völlig veränderten Anblick darbot;
und immer wird es eine frohe Erinnerung unſeres Volkes bleiben, wie
raſch, thatkräftig, entſchloſſen dies arme, politiſch zerſplitterte Geſchlecht ſich
der weltumgeſtaltenden neuen Erfindung bemächtigte. Vieles traf zu-
ſammen, was den Deutſchen den Entſchluß erſchwerte. Vor wenigen
Jahren erſt hatte man die neuen preußiſchen Schnellpoſten wie ein Wun-
derwerk angeſtaunt; der Chauſſeebau war überall erſt im Gange; ganze
Landestheile, ſelbſt das reiche Vorpommern, entbehrten noch völlig der
Steinſtraßen. Dies neue Straßennetz auszubauen und mit Schnellpoſten
auszuſtatten, erſchien Allen als die nächſte Aufgabe; und ſie war ſchwierig
genug, da der Zollverein die Waarenzüge vielfach verändert, eine Menge
neuer Verkehrsbeziehungen geſchaffen hatte. Wer hätte es nicht für toll-
kühn halten ſollen, in einer ſolchen Zeit der wirthſchaftlichen Umwälzung
auch noch eine Erfindung einzuführen, welche den Poſtbetrieb völlig um-
zugeſtalten, die Chauſſeen zum alten Eiſen zu werfen drohte?

Nach der Eröffnung der Bahn von Liverpool nach Mancheſter (1826)
begannen in England wie in Nordamerika große Eiſenbahnbauten. Das
britiſche Parlament hielt ſich aber noch lange mißtrauiſch zurück: ſein
Comité erklärte es für „unzuläſſig, der Eiſenbahnen wegen Opfer zu
bringen oder das Nationalvermögen zu verſchleudern.“ Auf dem Conti-
nente ging Belgien voran. Hier lagen die Verhältniſſe ſehr einfach. Der
junge Staat bedurfte durchaus einer Bahn von Antwerpen nach dem
Rheine um ſeinen Scheldehafen gegen den Wettbewerb der feindſeligen
Holländer zu decken; da die reiche Bourgeoiſie die Kammern vollſtändig be-
herrſchte, die großen Städte alleſammt nahe bei einander lagen, auch der
Bau in der Ebene geringe Schwierigkeiten bot, ſo wurde ſchon 1834 ein
Staatsbahnſyſtem für das ganze Land, nach Stephenſon’s Plänen, be-
ſchloſſen. Die Franzoſen zauderten lange; ſelbſt der ſanguiniſche Thiers
meinte noch im Jahre 1830, eine Eiſenbahn könne höchſtens zum Spiel-
zeug für Großſtädter dienen. Nachher übernahmen ſie ſich in kühnen Ent-
würfen, jedoch die Corruption ihres Parlamentarismus verhinderte raſches
Gelingen. Die großen Geſellſchaften, die alleſammt von Paris aus nach
den Grenzen zu ihre Bahnen bauen wollten, durften während langer
Jahre keine Theilſtrecken eröffnen, weil die Regierung aus Furcht vor
den Wählern keinen Landestheil bevorzugen wollte. So geſchah es, daß
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[581/0595] Die erſten Eiſenbahnen. liede viel beſungene „arme Schwammmann“ ſeine Zündwaaren feil; dann gab es noch Pulsnitzer, Thorner oder Braunſchweiger Pfefferkuchen für die Kinder, und wenn es hoch herging, zeigten eine ſtarke Dame oder ein Affe auf dem Kameel ihre Künſte. — Erſt die Eiſenbahnen riſſen die Nation aus ihrem wirthſchaftlichen Stillleben, ſie vollendeten erſt was der Zollverein nur begonnen hatte, ſie griffen in alle Lebensgewohnheiten ſo gewaltig ein, daß Deutſchland ſchon in den vierziger Jahren einen völlig veränderten Anblick darbot; und immer wird es eine frohe Erinnerung unſeres Volkes bleiben, wie raſch, thatkräftig, entſchloſſen dies arme, politiſch zerſplitterte Geſchlecht ſich der weltumgeſtaltenden neuen Erfindung bemächtigte. Vieles traf zu- ſammen, was den Deutſchen den Entſchluß erſchwerte. Vor wenigen Jahren erſt hatte man die neuen preußiſchen Schnellpoſten wie ein Wun- derwerk angeſtaunt; der Chauſſeebau war überall erſt im Gange; ganze Landestheile, ſelbſt das reiche Vorpommern, entbehrten noch völlig der Steinſtraßen. Dies neue Straßennetz auszubauen und mit Schnellpoſten auszuſtatten, erſchien Allen als die nächſte Aufgabe; und ſie war ſchwierig genug, da der Zollverein die Waarenzüge vielfach verändert, eine Menge neuer Verkehrsbeziehungen geſchaffen hatte. Wer hätte es nicht für toll- kühn halten ſollen, in einer ſolchen Zeit der wirthſchaftlichen Umwälzung auch noch eine Erfindung einzuführen, welche den Poſtbetrieb völlig um- zugeſtalten, die Chauſſeen zum alten Eiſen zu werfen drohte? Nach der Eröffnung der Bahn von Liverpool nach Mancheſter (1826) begannen in England wie in Nordamerika große Eiſenbahnbauten. Das britiſche Parlament hielt ſich aber noch lange mißtrauiſch zurück: ſein Comité erklärte es für „unzuläſſig, der Eiſenbahnen wegen Opfer zu bringen oder das Nationalvermögen zu verſchleudern.“ Auf dem Conti- nente ging Belgien voran. Hier lagen die Verhältniſſe ſehr einfach. Der junge Staat bedurfte durchaus einer Bahn von Antwerpen nach dem Rheine um ſeinen Scheldehafen gegen den Wettbewerb der feindſeligen Holländer zu decken; da die reiche Bourgeoiſie die Kammern vollſtändig be- herrſchte, die großen Städte alleſammt nahe bei einander lagen, auch der Bau in der Ebene geringe Schwierigkeiten bot, ſo wurde ſchon 1834 ein Staatsbahnſyſtem für das ganze Land, nach Stephenſon’s Plänen, be- ſchloſſen. Die Franzoſen zauderten lange; ſelbſt der ſanguiniſche Thiers meinte noch im Jahre 1830, eine Eiſenbahn könne höchſtens zum Spiel- zeug für Großſtädter dienen. Nachher übernahmen ſie ſich in kühnen Ent- würfen, jedoch die Corruption ihres Parlamentarismus verhinderte raſches Gelingen. Die großen Geſellſchaften, die alleſammt von Paris aus nach den Grenzen zu ihre Bahnen bauen wollten, durften während langer Jahre keine Theilſtrecken eröffnen, weil die Regierung aus Furcht vor den Wählern keinen Landestheil bevorzugen wollte. So geſchah es, daß Frankreich noch in den vierziger Jahren nur eine Eiſenbahn beſaß, die

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 581. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/595>, abgerufen am 24.11.2024.