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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Die Königsberger Mucker.
Sekte des mystischen Theosophen Schönherr noch immer ihre seltsamen An-
dachtsübungen. An ihrer Spitze stand jetzt der Prediger Ebel, ein schöner,
feuriger, beredter Mann, der auf die Weiber einen unwiderstehlichen Zauber
ausübte und in geheimnißvollen Andeutungen von der Verklärung der irdi-
schen Liebe sprach; mit überströmender süßlicher Zärtlichkeit pflegten die
Gläubigen einander zu begrüßen. Ein Kreis angesehener Männer und
Frauen aus den ersten Geschlechtern der Provinz schaarte sich um den be-
geisterten Schwärmer, darunter auch zwei Schwägerinnen des Oberpräsi-
denten Schön; der aber verabscheute Alles was von der Kritik der reinen
Vernunft abwich, und belegte die Gemeinde der Erweckten mit dem Namen
der "Mucker", der sich seitdem das Bürgerrecht in der deutschen Sprache
erworben hat. Nicht lange, so entstanden finstere Gerüchte über das geheime
unzüchtige Treiben der Mucker, und bei der tiefen, heißen Leidenschaftlichkeit
ostpreußischer Naturen schien es keineswegs unmöglich, daß die alte räthsel-
hafte Verwandtschaft von Sinnlichkeit und religiöser Ekstase sich auch bei
dieser Sekte gezeigt hätte. Es fehlte nicht an Verdachtsgründen; doch irgend
ein Beweis lag nicht vor und ist auch bis zum heutigen Tage nicht zu
erbringen. Der Haupt-Belastungszeuge war erst vor Kurzem aus der Ge-
meinde ausgestoßen worden und darum schon wenig glaubwürdig. Bei der
Untersuchung verfuhr das Consistorium, das durchweg aus Schön's ratio-
nalistischen Gesinnnungsgenossen bestand, offenbar parteiisch. Der Ober-
präsident hielt sich in seinem Gewissen verpflichtet, die verhaßte Gemeinde
mit Stumpf und Stiel auszurotten; er trat so heftig auf, daß die Gläu-
bigen ihn mehrmals in Berlin verklagten. Die Minister aber hielten zu
ihm, weil nach Altenstein's kirchenpolitischen Grundsätzen jede Sektirerei
vom Uebel war.*) In letzter Instanz erklärte das Kammergericht endlich
die behaupteten unzüchtigen Handlungen für unerwiesen, und verurtheilte
den Sektirer Ebel nur wegen Verletzung seiner geistlichen Amtspflicht.**)

Sieben Jahre hindurch beschäftigte dieser Muckerproceß die ohnehin
erregte Provinz und verbitterte die Gemüther auf's Aeußerste. Nichts
konnte der werdenden Opposition willkommener sein als ein Skandal unter
Geistlichen und Edelleuten. Obwohl Ebel keineswegs auf dem Boden des
Augsburger Bekenntnisses stand und die Orthodoxen von jeher seine erklärten
Feinde waren, so wurden sie doch von dem herrschenden Rationalismus der
Mitschuld bezichtigt; jeder Kirchlichgesinnte hieß bei den aufgeklärten Königs-
bergern ein Mucker und Heuchler. Der Adelshaß der Liberalen schwelgte
in kühnen Erfindungen und erzählte Unglaubliches von der Sittenverderbniß
der ehrenfesten ostpreußischen Aristokratie. Auch die Judenschaft Königs-

*) Eingaben an das Staatsministerium: von Frau v. Bardeleben, 18. März,
vom Prediger Diestel, 11. Nov.; Altenstein's Votum, 29. April 1837, nebst Voten von
Mühler, Rochow, Rother.
**) Das skandalsüchtige Buch von W. H. Dixon, Spiritual Wives, London 1868
ist reich an falschen Angaben und für den Historiker kaum benutzbar.
36*

Die Königsberger Mucker.
Sekte des myſtiſchen Theoſophen Schönherr noch immer ihre ſeltſamen An-
dachtsübungen. An ihrer Spitze ſtand jetzt der Prediger Ebel, ein ſchöner,
feuriger, beredter Mann, der auf die Weiber einen unwiderſtehlichen Zauber
ausübte und in geheimnißvollen Andeutungen von der Verklärung der irdi-
ſchen Liebe ſprach; mit überſtrömender ſüßlicher Zärtlichkeit pflegten die
Gläubigen einander zu begrüßen. Ein Kreis angeſehener Männer und
Frauen aus den erſten Geſchlechtern der Provinz ſchaarte ſich um den be-
geiſterten Schwärmer, darunter auch zwei Schwägerinnen des Oberpräſi-
denten Schön; der aber verabſcheute Alles was von der Kritik der reinen
Vernunft abwich, und belegte die Gemeinde der Erweckten mit dem Namen
der „Mucker“, der ſich ſeitdem das Bürgerrecht in der deutſchen Sprache
erworben hat. Nicht lange, ſo entſtanden finſtere Gerüchte über das geheime
unzüchtige Treiben der Mucker, und bei der tiefen, heißen Leidenſchaftlichkeit
oſtpreußiſcher Naturen ſchien es keineswegs unmöglich, daß die alte räthſel-
hafte Verwandtſchaft von Sinnlichkeit und religiöſer Ekſtaſe ſich auch bei
dieſer Sekte gezeigt hätte. Es fehlte nicht an Verdachtsgründen; doch irgend
ein Beweis lag nicht vor und iſt auch bis zum heutigen Tage nicht zu
erbringen. Der Haupt-Belaſtungszeuge war erſt vor Kurzem aus der Ge-
meinde ausgeſtoßen worden und darum ſchon wenig glaubwürdig. Bei der
Unterſuchung verfuhr das Conſiſtorium, das durchweg aus Schön’s ratio-
naliſtiſchen Geſinnnungsgenoſſen beſtand, offenbar parteiiſch. Der Ober-
präſident hielt ſich in ſeinem Gewiſſen verpflichtet, die verhaßte Gemeinde
mit Stumpf und Stiel auszurotten; er trat ſo heftig auf, daß die Gläu-
bigen ihn mehrmals in Berlin verklagten. Die Miniſter aber hielten zu
ihm, weil nach Altenſtein’s kirchenpolitiſchen Grundſätzen jede Sektirerei
vom Uebel war.*) In letzter Inſtanz erklärte das Kammergericht endlich
die behaupteten unzüchtigen Handlungen für unerwieſen, und verurtheilte
den Sektirer Ebel nur wegen Verletzung ſeiner geiſtlichen Amtspflicht.**)

Sieben Jahre hindurch beſchäftigte dieſer Muckerproceß die ohnehin
erregte Provinz und verbitterte die Gemüther auf’s Aeußerſte. Nichts
konnte der werdenden Oppoſition willkommener ſein als ein Skandal unter
Geiſtlichen und Edelleuten. Obwohl Ebel keineswegs auf dem Boden des
Augsburger Bekenntniſſes ſtand und die Orthodoxen von jeher ſeine erklärten
Feinde waren, ſo wurden ſie doch von dem herrſchenden Rationalismus der
Mitſchuld bezichtigt; jeder Kirchlichgeſinnte hieß bei den aufgeklärten Königs-
bergern ein Mucker und Heuchler. Der Adelshaß der Liberalen ſchwelgte
in kühnen Erfindungen und erzählte Unglaubliches von der Sittenverderbniß
der ehrenfeſten oſtpreußiſchen Ariſtokratie. Auch die Judenſchaft Königs-

*) Eingaben an das Staatsminiſterium: von Frau v. Bardeleben, 18. März,
vom Prediger Dieſtel, 11. Nov.; Altenſtein’s Votum, 29. April 1837, nebſt Voten von
Mühler, Rochow, Rother.
**) Das ſkandalſüchtige Buch von W. H. Dixon, Spiritual Wives, London 1868
iſt reich an falſchen Angaben und für den Hiſtoriker kaum benutzbar.
36*
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[563/0577] Die Königsberger Mucker. Sekte des myſtiſchen Theoſophen Schönherr noch immer ihre ſeltſamen An- dachtsübungen. An ihrer Spitze ſtand jetzt der Prediger Ebel, ein ſchöner, feuriger, beredter Mann, der auf die Weiber einen unwiderſtehlichen Zauber ausübte und in geheimnißvollen Andeutungen von der Verklärung der irdi- ſchen Liebe ſprach; mit überſtrömender ſüßlicher Zärtlichkeit pflegten die Gläubigen einander zu begrüßen. Ein Kreis angeſehener Männer und Frauen aus den erſten Geſchlechtern der Provinz ſchaarte ſich um den be- geiſterten Schwärmer, darunter auch zwei Schwägerinnen des Oberpräſi- denten Schön; der aber verabſcheute Alles was von der Kritik der reinen Vernunft abwich, und belegte die Gemeinde der Erweckten mit dem Namen der „Mucker“, der ſich ſeitdem das Bürgerrecht in der deutſchen Sprache erworben hat. Nicht lange, ſo entſtanden finſtere Gerüchte über das geheime unzüchtige Treiben der Mucker, und bei der tiefen, heißen Leidenſchaftlichkeit oſtpreußiſcher Naturen ſchien es keineswegs unmöglich, daß die alte räthſel- hafte Verwandtſchaft von Sinnlichkeit und religiöſer Ekſtaſe ſich auch bei dieſer Sekte gezeigt hätte. Es fehlte nicht an Verdachtsgründen; doch irgend ein Beweis lag nicht vor und iſt auch bis zum heutigen Tage nicht zu erbringen. Der Haupt-Belaſtungszeuge war erſt vor Kurzem aus der Ge- meinde ausgeſtoßen worden und darum ſchon wenig glaubwürdig. Bei der Unterſuchung verfuhr das Conſiſtorium, das durchweg aus Schön’s ratio- naliſtiſchen Geſinnnungsgenoſſen beſtand, offenbar parteiiſch. Der Ober- präſident hielt ſich in ſeinem Gewiſſen verpflichtet, die verhaßte Gemeinde mit Stumpf und Stiel auszurotten; er trat ſo heftig auf, daß die Gläu- bigen ihn mehrmals in Berlin verklagten. Die Miniſter aber hielten zu ihm, weil nach Altenſtein’s kirchenpolitiſchen Grundſätzen jede Sektirerei vom Uebel war. *) In letzter Inſtanz erklärte das Kammergericht endlich die behaupteten unzüchtigen Handlungen für unerwieſen, und verurtheilte den Sektirer Ebel nur wegen Verletzung ſeiner geiſtlichen Amtspflicht. **) Sieben Jahre hindurch beſchäftigte dieſer Muckerproceß die ohnehin erregte Provinz und verbitterte die Gemüther auf’s Aeußerſte. Nichts konnte der werdenden Oppoſition willkommener ſein als ein Skandal unter Geiſtlichen und Edelleuten. Obwohl Ebel keineswegs auf dem Boden des Augsburger Bekenntniſſes ſtand und die Orthodoxen von jeher ſeine erklärten Feinde waren, ſo wurden ſie doch von dem herrſchenden Rationalismus der Mitſchuld bezichtigt; jeder Kirchlichgeſinnte hieß bei den aufgeklärten Königs- bergern ein Mucker und Heuchler. Der Adelshaß der Liberalen ſchwelgte in kühnen Erfindungen und erzählte Unglaubliches von der Sittenverderbniß der ehrenfeſten oſtpreußiſchen Ariſtokratie. Auch die Judenſchaft Königs- *) Eingaben an das Staatsminiſterium: von Frau v. Bardeleben, 18. März, vom Prediger Dieſtel, 11. Nov.; Altenſtein’s Votum, 29. April 1837, nebſt Voten von Mühler, Rochow, Rother. **) Das ſkandalſüchtige Buch von W. H. Dixon, Spiritual Wives, London 1868 iſt reich an falſchen Angaben und für den Hiſtoriker kaum benutzbar. 36*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 563. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/577>, abgerufen am 24.11.2024.