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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Das Portfolio.
ausgeber, der überall in Europa gute Verbindungen unterhielt, mitgetheilt
worden.*) Diese Enthüllungen erregten an den Höfen ein unbeschreib-
liches Aufsehen. Mit einem male ward klar, auf wie schwachen Füßen
der Bund der Ostmächte stand. Daß Metternich in den Zeiten des Frie-
dens von Adrianopel durchaus feindliche Absichten gegen Rußland gehegt
hatte, ließ sich jetzt nicht mehr leugnen. Vergeblich versuchte er sich vor dem
Petersburger Hofe zu rechtfertigen. Pozzo, der mittlerweile den Gesandt-
schaftsposten in London angetreten hatte, wurde von dem Czaren geflissent-
lich, um die Hofburg zu kränken, ausgezeichnet, und es währte sehr lange,
bis die Verstimmung zwischen den beiden Kaiserhöfen sich legte.**)

Noch vollständiger erreichte Urquhart seinen zweiten Zweck, die Bearbei-
tung der öffentlichen Meinung. Offenbar war das Portfolio zumeist für
Deutschland bestimmt; denn hier in dem Lande der schwärmerischen Fremd-
brüderlichkeit konnte auch die neue Heilslehre, welche dem britischen Kauf-
mann die Weltherrschaft sichern sollte, am leichtesten Eingang finden. In der
That wurde die Sammlung sofort in Leipzig übersetzt und blieb viele Jahre
hindurch allen liberalen Zeitungen ebenso unentbehrlich wie das Staats-
lexikon. Auf das überspannte Philhellenenthum der zwanziger Jahre folgte
eine Zeit der Türkenschwärmerei. Wer jetzt noch auf der Höhe der Zeit
stehen wollte, mußte mit staatsmännischem Nasenrümpfen auf das himmel-
schreiende Elend der christlichen Rajah-Völker herabschauen; viele der libe-
ralen Blätter redeten, als ob die Eunuchen und die Serailknaben des
Sultans die Bannerträger der europäischen Gesittung wären. Auch diese
Verirrung, die sich als kühle Realpolitik gebärdete und dem hochherzigen
deutschen Idealismus häßlicher anstand als vormals die hellenische Be-
geisterung, entsprang im Grunde wie jene nur den unberechenbaren Stim-
mungen des Gemüths: man verherrlichte die Osmanen, weil man den
russischen Despoten haßte und den Briten eine niemals erwiderte Liebe
widmete. Seit man zu merken anfing, daß Frankreich statt der verheißenen
Freiheit nur die Klassenherrschaft der Bourgeoisie erlangt hatte, galt Eng-
land wieder, für den constitutionellen Musterstaat und folglich für Deutsch-
lands wärmsten Freund, obgleich die Erfahrung jedes Tages lehrte, wie
gehässig die Briten dem besten Werke der deutschen Politik, dem Zollver-
eine entgegenwirkten. Da auch die zahlreichen Freunde und Agenten des
Hauses Coburg in der Stille mithalfen, so fanden die Märchen der bri-
tischen Russophoben bei den gebildeten Deutschen leicht Glauben; mancher
wackere Patriot beschäftigte sich so liebevoll mit den Schicksalen des Bos-
porus und der ostindischen Compagnie, daß er des Vaterlandes fast ver-
gaß. Einer unserer gescheidtesten und ehrlichsten Publicisten, C. F. Wurm
in Hamburg schrieb für das Portfolio als Germanicus Vindex grimmige

*) Frankenberg's Bericht, 12. Febr. 1836.
**) Maltzan's Berichte, 19. 29. Febr., 5. April, 27. Juni 1836.

Das Portfolio.
ausgeber, der überall in Europa gute Verbindungen unterhielt, mitgetheilt
worden.*) Dieſe Enthüllungen erregten an den Höfen ein unbeſchreib-
liches Aufſehen. Mit einem male ward klar, auf wie ſchwachen Füßen
der Bund der Oſtmächte ſtand. Daß Metternich in den Zeiten des Frie-
dens von Adrianopel durchaus feindliche Abſichten gegen Rußland gehegt
hatte, ließ ſich jetzt nicht mehr leugnen. Vergeblich verſuchte er ſich vor dem
Petersburger Hofe zu rechtfertigen. Pozzo, der mittlerweile den Geſandt-
ſchaftspoſten in London angetreten hatte, wurde von dem Czaren gefliſſent-
lich, um die Hofburg zu kränken, ausgezeichnet, und es währte ſehr lange,
bis die Verſtimmung zwiſchen den beiden Kaiſerhöfen ſich legte.**)

Noch vollſtändiger erreichte Urquhart ſeinen zweiten Zweck, die Bearbei-
tung der öffentlichen Meinung. Offenbar war das Portfolio zumeiſt für
Deutſchland beſtimmt; denn hier in dem Lande der ſchwärmeriſchen Fremd-
brüderlichkeit konnte auch die neue Heilslehre, welche dem britiſchen Kauf-
mann die Weltherrſchaft ſichern ſollte, am leichteſten Eingang finden. In der
That wurde die Sammlung ſofort in Leipzig überſetzt und blieb viele Jahre
hindurch allen liberalen Zeitungen ebenſo unentbehrlich wie das Staats-
lexikon. Auf das überſpannte Philhellenenthum der zwanziger Jahre folgte
eine Zeit der Türkenſchwärmerei. Wer jetzt noch auf der Höhe der Zeit
ſtehen wollte, mußte mit ſtaatsmänniſchem Naſenrümpfen auf das himmel-
ſchreiende Elend der chriſtlichen Rajah-Völker herabſchauen; viele der libe-
ralen Blätter redeten, als ob die Eunuchen und die Serailknaben des
Sultans die Bannerträger der europäiſchen Geſittung wären. Auch dieſe
Verirrung, die ſich als kühle Realpolitik gebärdete und dem hochherzigen
deutſchen Idealismus häßlicher anſtand als vormals die helleniſche Be-
geiſterung, entſprang im Grunde wie jene nur den unberechenbaren Stim-
mungen des Gemüths: man verherrlichte die Osmanen, weil man den
ruſſiſchen Despoten haßte und den Briten eine niemals erwiderte Liebe
widmete. Seit man zu merken anfing, daß Frankreich ſtatt der verheißenen
Freiheit nur die Klaſſenherrſchaft der Bourgeoiſie erlangt hatte, galt Eng-
land wieder, für den conſtitutionellen Muſterſtaat und folglich für Deutſch-
lands wärmſten Freund, obgleich die Erfahrung jedes Tages lehrte, wie
gehäſſig die Briten dem beſten Werke der deutſchen Politik, dem Zollver-
eine entgegenwirkten. Da auch die zahlreichen Freunde und Agenten des
Hauſes Coburg in der Stille mithalfen, ſo fanden die Märchen der bri-
tiſchen Ruſſophoben bei den gebildeten Deutſchen leicht Glauben; mancher
wackere Patriot beſchäftigte ſich ſo liebevoll mit den Schickſalen des Bos-
porus und der oſtindiſchen Compagnie, daß er des Vaterlandes faſt ver-
gaß. Einer unſerer geſcheidteſten und ehrlichſten Publiciſten, C. F. Wurm
in Hamburg ſchrieb für das Portfolio als Germanicus Vindex grimmige

*) Frankenberg’s Bericht, 12. Febr. 1836.
**) Maltzan’s Berichte, 19. 29. Febr., 5. April, 27. Juni 1836.
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[539/0553] Das Portfolio. ausgeber, der überall in Europa gute Verbindungen unterhielt, mitgetheilt worden. *) Dieſe Enthüllungen erregten an den Höfen ein unbeſchreib- liches Aufſehen. Mit einem male ward klar, auf wie ſchwachen Füßen der Bund der Oſtmächte ſtand. Daß Metternich in den Zeiten des Frie- dens von Adrianopel durchaus feindliche Abſichten gegen Rußland gehegt hatte, ließ ſich jetzt nicht mehr leugnen. Vergeblich verſuchte er ſich vor dem Petersburger Hofe zu rechtfertigen. Pozzo, der mittlerweile den Geſandt- ſchaftspoſten in London angetreten hatte, wurde von dem Czaren gefliſſent- lich, um die Hofburg zu kränken, ausgezeichnet, und es währte ſehr lange, bis die Verſtimmung zwiſchen den beiden Kaiſerhöfen ſich legte. **) Noch vollſtändiger erreichte Urquhart ſeinen zweiten Zweck, die Bearbei- tung der öffentlichen Meinung. Offenbar war das Portfolio zumeiſt für Deutſchland beſtimmt; denn hier in dem Lande der ſchwärmeriſchen Fremd- brüderlichkeit konnte auch die neue Heilslehre, welche dem britiſchen Kauf- mann die Weltherrſchaft ſichern ſollte, am leichteſten Eingang finden. In der That wurde die Sammlung ſofort in Leipzig überſetzt und blieb viele Jahre hindurch allen liberalen Zeitungen ebenſo unentbehrlich wie das Staats- lexikon. Auf das überſpannte Philhellenenthum der zwanziger Jahre folgte eine Zeit der Türkenſchwärmerei. Wer jetzt noch auf der Höhe der Zeit ſtehen wollte, mußte mit ſtaatsmänniſchem Naſenrümpfen auf das himmel- ſchreiende Elend der chriſtlichen Rajah-Völker herabſchauen; viele der libe- ralen Blätter redeten, als ob die Eunuchen und die Serailknaben des Sultans die Bannerträger der europäiſchen Geſittung wären. Auch dieſe Verirrung, die ſich als kühle Realpolitik gebärdete und dem hochherzigen deutſchen Idealismus häßlicher anſtand als vormals die helleniſche Be- geiſterung, entſprang im Grunde wie jene nur den unberechenbaren Stim- mungen des Gemüths: man verherrlichte die Osmanen, weil man den ruſſiſchen Despoten haßte und den Briten eine niemals erwiderte Liebe widmete. Seit man zu merken anfing, daß Frankreich ſtatt der verheißenen Freiheit nur die Klaſſenherrſchaft der Bourgeoiſie erlangt hatte, galt Eng- land wieder, für den conſtitutionellen Muſterſtaat und folglich für Deutſch- lands wärmſten Freund, obgleich die Erfahrung jedes Tages lehrte, wie gehäſſig die Briten dem beſten Werke der deutſchen Politik, dem Zollver- eine entgegenwirkten. Da auch die zahlreichen Freunde und Agenten des Hauſes Coburg in der Stille mithalfen, ſo fanden die Märchen der bri- tiſchen Ruſſophoben bei den gebildeten Deutſchen leicht Glauben; mancher wackere Patriot beſchäftigte ſich ſo liebevoll mit den Schickſalen des Bos- porus und der oſtindiſchen Compagnie, daß er des Vaterlandes faſt ver- gaß. Einer unſerer geſcheidteſten und ehrlichſten Publiciſten, C. F. Wurm in Hamburg ſchrieb für das Portfolio als Germanicus Vindex grimmige *) Frankenberg’s Bericht, 12. Febr. 1836. **) Maltzan’s Berichte, 19. 29. Febr., 5. April, 27. Juni 1836.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 539. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/553>, abgerufen am 08.05.2024.