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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 8. Stille Jahre.
genügten diese Erfahrungen, um die drei Schutzmächte besorgt zu stimmen.
Wenn schon die vorübergehende Besetzung Krakaus so viel Lärm erregte,
wie mußte dann gar die verabredete Einverleibung wirken? Man beschloß
also bessere Zeiten abzuwarten, und der Berliner Vertrag blieb ein un-
verbrüchliches Geheimniß, bis er nach elf Jahren zur allgemeinen Ueber-
raschung plötzlich ausgeführt wurde. --

Wie Metternich, trotz seines dringenden Wunsches dem Czaren zu
gefallen, doch durch die Unbehilflichkeit des österreichischen Staatswesens
zu einer Haltung gezwungen wurde, welche dem moskowitischen Selbst-
herrscher nur halb genügte, so war auch König Friedrich Wilhelm mit nichten
geneigt, sich einer fremden Leitung zu fügen. Seine Politik verfolgte nur
den bescheidenen Zweck, die neu errungene wirthschaftliche Einheit der
Nation durch die Erhaltung des Weltfriedens und den Ausbau der Zoll-
vereinsverträge zu sichern; sie verfuhr behutsam und bescheiden, aber
preußisch war sie. Im Frühjahr 1837 starb Ancillon, und Metternich
rief dem getreuen Verehrer wehmüthig nach: "mir ist, als hätte ich
die Deckung meiner rechten Flanke verloren."*) An seine Stelle trat
Werther, der vor sechs Jahren in richtiger Selbsterkenntniß den Minister-
posten abgelehnt hatte;**) und es zeigte sich bald, daß dieser kluge diplo-
matische Beobachter zum Befehlen nicht geschaffen war. Neue Gedanken
vermochte er der großen Politik Preußens nicht einzuflößen; ihre Unab-
hängigkeit jedoch wahrte er weit strenger als sein Vorgänger, weil er in
Paris die diplomatischen Umtriebe der beiden Kaiserhöfe zur Genüge kennen
gelernt hatte. Das Verhältniß zu der Hofburg blieb, wie streng man auch
die freundschaftlichen Formen einhielt, ziemlich kalt. Metternich konnte den
Ingrimm über Preußens Handelspolitik nicht verwinden, und doch ver-
mochte er nichts dawider, da Erzherzog Ludwig zu keiner Verbesserung des
Zollwesens zu bewegen war. Ueberall in Oesterreich sagte man schon
gleichmüthig, seit der Stiftung des Zollvereins habe Preußen die Herr-
schaft in Deutschland erlangt.***) Als Rotteck im Jahre 1838 nach Wien
kam, fragte ihn Metternich gemüthlich: woher kommt dieser wachsende Ein-
fluß Preußens? Der ehrliche Liberale antwortete: Von seiner verständigen,
beharrlich fortschreitenden Verwaltung. -- Und wie können wir dem ent-
gegenwirken? -- Wenn Sie dem preußischen Vorbilde folgen! Am Ende
der langen Unterredung waren die Beiden nur darin einig, daß sie Preu-
ßens steigende Macht und die Bedrängniß der katholischen Kirche inbrün-
stig bedauerten.+)

Ebenso wenig wie der Hofburg gelang es dem russischen Cabinet die
preußische Politik zu beherrschen. Der Czar persönlich wurde vom Hofe wie

*) Metternich an Trauttmansdorff, 5. Mai 1837.
**) S. o. IV. 193.
***) Maltzan's Bericht, 29. Juni 1837.
+) Maltzan's Bericht, 30. Aug. 1838.

IV. 8. Stille Jahre.
genügten dieſe Erfahrungen, um die drei Schutzmächte beſorgt zu ſtimmen.
Wenn ſchon die vorübergehende Beſetzung Krakaus ſo viel Lärm erregte,
wie mußte dann gar die verabredete Einverleibung wirken? Man beſchloß
alſo beſſere Zeiten abzuwarten, und der Berliner Vertrag blieb ein un-
verbrüchliches Geheimniß, bis er nach elf Jahren zur allgemeinen Ueber-
raſchung plötzlich ausgeführt wurde. —

Wie Metternich, trotz ſeines dringenden Wunſches dem Czaren zu
gefallen, doch durch die Unbehilflichkeit des öſterreichiſchen Staatsweſens
zu einer Haltung gezwungen wurde, welche dem moskowitiſchen Selbſt-
herrſcher nur halb genügte, ſo war auch König Friedrich Wilhelm mit nichten
geneigt, ſich einer fremden Leitung zu fügen. Seine Politik verfolgte nur
den beſcheidenen Zweck, die neu errungene wirthſchaftliche Einheit der
Nation durch die Erhaltung des Weltfriedens und den Ausbau der Zoll-
vereinsverträge zu ſichern; ſie verfuhr behutſam und beſcheiden, aber
preußiſch war ſie. Im Frühjahr 1837 ſtarb Ancillon, und Metternich
rief dem getreuen Verehrer wehmüthig nach: „mir iſt, als hätte ich
die Deckung meiner rechten Flanke verloren.“*) An ſeine Stelle trat
Werther, der vor ſechs Jahren in richtiger Selbſterkenntniß den Miniſter-
poſten abgelehnt hatte;**) und es zeigte ſich bald, daß dieſer kluge diplo-
matiſche Beobachter zum Befehlen nicht geſchaffen war. Neue Gedanken
vermochte er der großen Politik Preußens nicht einzuflößen; ihre Unab-
hängigkeit jedoch wahrte er weit ſtrenger als ſein Vorgänger, weil er in
Paris die diplomatiſchen Umtriebe der beiden Kaiſerhöfe zur Genüge kennen
gelernt hatte. Das Verhältniß zu der Hofburg blieb, wie ſtreng man auch
die freundſchaftlichen Formen einhielt, ziemlich kalt. Metternich konnte den
Ingrimm über Preußens Handelspolitik nicht verwinden, und doch ver-
mochte er nichts dawider, da Erzherzog Ludwig zu keiner Verbeſſerung des
Zollweſens zu bewegen war. Ueberall in Oeſterreich ſagte man ſchon
gleichmüthig, ſeit der Stiftung des Zollvereins habe Preußen die Herr-
ſchaft in Deutſchland erlangt.***) Als Rotteck im Jahre 1838 nach Wien
kam, fragte ihn Metternich gemüthlich: woher kommt dieſer wachſende Ein-
fluß Preußens? Der ehrliche Liberale antwortete: Von ſeiner verſtändigen,
beharrlich fortſchreitenden Verwaltung. — Und wie können wir dem ent-
gegenwirken? — Wenn Sie dem preußiſchen Vorbilde folgen! Am Ende
der langen Unterredung waren die Beiden nur darin einig, daß ſie Preu-
ßens ſteigende Macht und die Bedrängniß der katholiſchen Kirche inbrün-
ſtig bedauerten.†)

Ebenſo wenig wie der Hofburg gelang es dem ruſſiſchen Cabinet die
preußiſche Politik zu beherrſchen. Der Czar perſönlich wurde vom Hofe wie

*) Metternich an Trauttmansdorff, 5. Mai 1837.
**) S. o. IV. 193.
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[530/0544] IV. 8. Stille Jahre. genügten dieſe Erfahrungen, um die drei Schutzmächte beſorgt zu ſtimmen. Wenn ſchon die vorübergehende Beſetzung Krakaus ſo viel Lärm erregte, wie mußte dann gar die verabredete Einverleibung wirken? Man beſchloß alſo beſſere Zeiten abzuwarten, und der Berliner Vertrag blieb ein un- verbrüchliches Geheimniß, bis er nach elf Jahren zur allgemeinen Ueber- raſchung plötzlich ausgeführt wurde. — Wie Metternich, trotz ſeines dringenden Wunſches dem Czaren zu gefallen, doch durch die Unbehilflichkeit des öſterreichiſchen Staatsweſens zu einer Haltung gezwungen wurde, welche dem moskowitiſchen Selbſt- herrſcher nur halb genügte, ſo war auch König Friedrich Wilhelm mit nichten geneigt, ſich einer fremden Leitung zu fügen. Seine Politik verfolgte nur den beſcheidenen Zweck, die neu errungene wirthſchaftliche Einheit der Nation durch die Erhaltung des Weltfriedens und den Ausbau der Zoll- vereinsverträge zu ſichern; ſie verfuhr behutſam und beſcheiden, aber preußiſch war ſie. Im Frühjahr 1837 ſtarb Ancillon, und Metternich rief dem getreuen Verehrer wehmüthig nach: „mir iſt, als hätte ich die Deckung meiner rechten Flanke verloren.“ *) An ſeine Stelle trat Werther, der vor ſechs Jahren in richtiger Selbſterkenntniß den Miniſter- poſten abgelehnt hatte; **) und es zeigte ſich bald, daß dieſer kluge diplo- matiſche Beobachter zum Befehlen nicht geſchaffen war. Neue Gedanken vermochte er der großen Politik Preußens nicht einzuflößen; ihre Unab- hängigkeit jedoch wahrte er weit ſtrenger als ſein Vorgänger, weil er in Paris die diplomatiſchen Umtriebe der beiden Kaiſerhöfe zur Genüge kennen gelernt hatte. Das Verhältniß zu der Hofburg blieb, wie ſtreng man auch die freundſchaftlichen Formen einhielt, ziemlich kalt. Metternich konnte den Ingrimm über Preußens Handelspolitik nicht verwinden, und doch ver- mochte er nichts dawider, da Erzherzog Ludwig zu keiner Verbeſſerung des Zollweſens zu bewegen war. Ueberall in Oeſterreich ſagte man ſchon gleichmüthig, ſeit der Stiftung des Zollvereins habe Preußen die Herr- ſchaft in Deutſchland erlangt. ***) Als Rotteck im Jahre 1838 nach Wien kam, fragte ihn Metternich gemüthlich: woher kommt dieſer wachſende Ein- fluß Preußens? Der ehrliche Liberale antwortete: Von ſeiner verſtändigen, beharrlich fortſchreitenden Verwaltung. — Und wie können wir dem ent- gegenwirken? — Wenn Sie dem preußiſchen Vorbilde folgen! Am Ende der langen Unterredung waren die Beiden nur darin einig, daß ſie Preu- ßens ſteigende Macht und die Bedrängniß der katholiſchen Kirche inbrün- ſtig bedauerten. †) Ebenſo wenig wie der Hofburg gelang es dem ruſſiſchen Cabinet die preußiſche Politik zu beherrſchen. Der Czar perſönlich wurde vom Hofe wie *) Metternich an Trauttmansdorff, 5. Mai 1837. **) S. o. IV. 193. ***) Maltzan’s Bericht, 29. Juni 1837. †) Maltzan’s Bericht, 30. Aug. 1838.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/544>, abgerufen am 24.11.2024.