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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 7. Das Junge Deutschland.
der Charaktere; auch unsere beiden einzigen classischen Komödien, Minna
von Barnhelm und der Zerbrochene Krug, waren Charakterlustspiele. Die
modernen Franzosen hingegen hatten sich von dem Muster ihres Moliere
längst abgewendet und suchten die komische Wirkung wesentlich in den über-
raschenden Situationen. Für den Reiz der Intrige allein vermag sich
aber das deutsche Gemüth nicht recht zu erwärmen; daher währte es noch
lange, bis sich endlich einige Dichter fanden, die von der berechnenden
Technik und der erfinderischen Gewandtheit der Franzosen lernten ohne ihre
nationale Eigenart aufzugeben. Was jetzt an neuen Lustspielen erschien,
war meist leichte Waare, ebenso flach, nur bei Weitem nicht so zierlich wie
die wälschen Vorbilder; fast allein der Wiener Bauernfeld verstand, durch
die Feinheit seiner Dialoge zu ersetzen was ihm an Erfindung fehlte. Die
Hörer indeß ließen sich Alles bieten, wenn man sie nur in Spannung
hielt und ihre Skandalsucht etwas reizte. Jenes kunstverständige Parterre,
das einst jedem Worte Ekhof's oder Iffland's andächtig gelauscht hatte,
war längst verschwunden; das Theater bildete nicht mehr den Sammelplatz
für die gute Gesellschaft, die Kenner zogen sich mehr und mehr zurück.
Seit Schreyvogel vom Wiener Burgtheater vertrieben war, stand keine der
großen deutschen Bühnen mehr unter strenger sachverständiger Leitung.
So lockerte sich überall das Zusammenspiel; die Virtuosen wollten allein
gelten, sie zerstörten durch ihre Gastspielreisen jede Ordnung und lernten
von den Franzosen sich der Claque oder einer ebenso feilen Kritik zu be-
dienen.

Auch die tragische Kunst lag danieder. Grillparzer zog sich unwirsch
von der Bühne zurück, seit die Wiener eines seiner Dramen verhöhnt hatten;
und von den jungdeutschen Poeten besaß noch keiner die sittliche Kraft sich
den strengen Regeln des Dramas zu fügen; sie schüttelten alle ihre Einfälle
leicht aus dem Aermel und wollten, wie einst die jungen Romantiker, in
der bühnengerechten Dichtung nur einen verächtlichen Frohndienst sehen. An
dieser Zuchtlosigkeit ging auch der unglückliche Westphale Christian Grabbe
früh zu Grunde; er mußte an sich selber erleben was er einst in einem
lichten Augenblicke gesungen hatte: "Kraft und Dauer wohnen nur in Be-
grenzungen." Er schwelgte in gräßlichen Bildern und cynischen Witzen,
Maß und Form blieben seinem umnachteten Sinne fremd; die beiden
größten Dichtungen der Zeit versuchte er in einem fratzenhaften Drama
"Don Juan und Faust" zu vereinigen und zu überbieten. So stürmte er
dahin, ein glühender deutscher Patriot, ein Verächter alles Platten und
Gewöhnlichen; keines seiner Dramen war ohne realistische Kraft, aber jedem
fehlte der künstlerische Verstand. Als er dann in seinen Lastern unter-
ging, und selbst Immermann's menschenfreundlicher Beistand diese "Natur
in Trümmern" nicht halten konnte, da zeigte sich wieder die Vorliebe der
Zeit für alles Krankhafte und Verdrehte. Die Feuilletons hoben den Todten
auf den Schild und verglichen ihn gar mit Heinrich v. Kleist, der himmel-

IV. 7. Das Junge Deutſchland.
der Charaktere; auch unſere beiden einzigen claſſiſchen Komödien, Minna
von Barnhelm und der Zerbrochene Krug, waren Charakterluſtſpiele. Die
modernen Franzoſen hingegen hatten ſich von dem Muſter ihres Moliere
längſt abgewendet und ſuchten die komiſche Wirkung weſentlich in den über-
raſchenden Situationen. Für den Reiz der Intrige allein vermag ſich
aber das deutſche Gemüth nicht recht zu erwärmen; daher währte es noch
lange, bis ſich endlich einige Dichter fanden, die von der berechnenden
Technik und der erfinderiſchen Gewandtheit der Franzoſen lernten ohne ihre
nationale Eigenart aufzugeben. Was jetzt an neuen Luſtſpielen erſchien,
war meiſt leichte Waare, ebenſo flach, nur bei Weitem nicht ſo zierlich wie
die wälſchen Vorbilder; faſt allein der Wiener Bauernfeld verſtand, durch
die Feinheit ſeiner Dialoge zu erſetzen was ihm an Erfindung fehlte. Die
Hörer indeß ließen ſich Alles bieten, wenn man ſie nur in Spannung
hielt und ihre Skandalſucht etwas reizte. Jenes kunſtverſtändige Parterre,
das einſt jedem Worte Ekhof’s oder Iffland’s andächtig gelauſcht hatte,
war längſt verſchwunden; das Theater bildete nicht mehr den Sammelplatz
für die gute Geſellſchaft, die Kenner zogen ſich mehr und mehr zurück.
Seit Schreyvogel vom Wiener Burgtheater vertrieben war, ſtand keine der
großen deutſchen Bühnen mehr unter ſtrenger ſachverſtändiger Leitung.
So lockerte ſich überall das Zuſammenſpiel; die Virtuoſen wollten allein
gelten, ſie zerſtörten durch ihre Gaſtſpielreiſen jede Ordnung und lernten
von den Franzoſen ſich der Claque oder einer ebenſo feilen Kritik zu be-
dienen.

Auch die tragiſche Kunſt lag danieder. Grillparzer zog ſich unwirſch
von der Bühne zurück, ſeit die Wiener eines ſeiner Dramen verhöhnt hatten;
und von den jungdeutſchen Poeten beſaß noch keiner die ſittliche Kraft ſich
den ſtrengen Regeln des Dramas zu fügen; ſie ſchüttelten alle ihre Einfälle
leicht aus dem Aermel und wollten, wie einſt die jungen Romantiker, in
der bühnengerechten Dichtung nur einen verächtlichen Frohndienſt ſehen. An
dieſer Zuchtloſigkeit ging auch der unglückliche Weſtphale Chriſtian Grabbe
früh zu Grunde; er mußte an ſich ſelber erleben was er einſt in einem
lichten Augenblicke geſungen hatte: „Kraft und Dauer wohnen nur in Be-
grenzungen.“ Er ſchwelgte in gräßlichen Bildern und cyniſchen Witzen,
Maß und Form blieben ſeinem umnachteten Sinne fremd; die beiden
größten Dichtungen der Zeit verſuchte er in einem fratzenhaften Drama
„Don Juan und Fauſt“ zu vereinigen und zu überbieten. So ſtürmte er
dahin, ein glühender deutſcher Patriot, ein Verächter alles Platten und
Gewöhnlichen; keines ſeiner Dramen war ohne realiſtiſche Kraft, aber jedem
fehlte der künſtleriſche Verſtand. Als er dann in ſeinen Laſtern unter-
ging, und ſelbſt Immermann’s menſchenfreundlicher Beiſtand dieſe „Natur
in Trümmern“ nicht halten konnte, da zeigte ſich wieder die Vorliebe der
Zeit für alles Krankhafte und Verdrehte. Die Feuilletons hoben den Todten
auf den Schild und verglichen ihn gar mit Heinrich v. Kleiſt, der himmel-

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[452/0466] IV. 7. Das Junge Deutſchland. der Charaktere; auch unſere beiden einzigen claſſiſchen Komödien, Minna von Barnhelm und der Zerbrochene Krug, waren Charakterluſtſpiele. Die modernen Franzoſen hingegen hatten ſich von dem Muſter ihres Moliere längſt abgewendet und ſuchten die komiſche Wirkung weſentlich in den über- raſchenden Situationen. Für den Reiz der Intrige allein vermag ſich aber das deutſche Gemüth nicht recht zu erwärmen; daher währte es noch lange, bis ſich endlich einige Dichter fanden, die von der berechnenden Technik und der erfinderiſchen Gewandtheit der Franzoſen lernten ohne ihre nationale Eigenart aufzugeben. Was jetzt an neuen Luſtſpielen erſchien, war meiſt leichte Waare, ebenſo flach, nur bei Weitem nicht ſo zierlich wie die wälſchen Vorbilder; faſt allein der Wiener Bauernfeld verſtand, durch die Feinheit ſeiner Dialoge zu erſetzen was ihm an Erfindung fehlte. Die Hörer indeß ließen ſich Alles bieten, wenn man ſie nur in Spannung hielt und ihre Skandalſucht etwas reizte. Jenes kunſtverſtändige Parterre, das einſt jedem Worte Ekhof’s oder Iffland’s andächtig gelauſcht hatte, war längſt verſchwunden; das Theater bildete nicht mehr den Sammelplatz für die gute Geſellſchaft, die Kenner zogen ſich mehr und mehr zurück. Seit Schreyvogel vom Wiener Burgtheater vertrieben war, ſtand keine der großen deutſchen Bühnen mehr unter ſtrenger ſachverſtändiger Leitung. So lockerte ſich überall das Zuſammenſpiel; die Virtuoſen wollten allein gelten, ſie zerſtörten durch ihre Gaſtſpielreiſen jede Ordnung und lernten von den Franzoſen ſich der Claque oder einer ebenſo feilen Kritik zu be- dienen. Auch die tragiſche Kunſt lag danieder. Grillparzer zog ſich unwirſch von der Bühne zurück, ſeit die Wiener eines ſeiner Dramen verhöhnt hatten; und von den jungdeutſchen Poeten beſaß noch keiner die ſittliche Kraft ſich den ſtrengen Regeln des Dramas zu fügen; ſie ſchüttelten alle ihre Einfälle leicht aus dem Aermel und wollten, wie einſt die jungen Romantiker, in der bühnengerechten Dichtung nur einen verächtlichen Frohndienſt ſehen. An dieſer Zuchtloſigkeit ging auch der unglückliche Weſtphale Chriſtian Grabbe früh zu Grunde; er mußte an ſich ſelber erleben was er einſt in einem lichten Augenblicke geſungen hatte: „Kraft und Dauer wohnen nur in Be- grenzungen.“ Er ſchwelgte in gräßlichen Bildern und cyniſchen Witzen, Maß und Form blieben ſeinem umnachteten Sinne fremd; die beiden größten Dichtungen der Zeit verſuchte er in einem fratzenhaften Drama „Don Juan und Fauſt“ zu vereinigen und zu überbieten. So ſtürmte er dahin, ein glühender deutſcher Patriot, ein Verächter alles Platten und Gewöhnlichen; keines ſeiner Dramen war ohne realiſtiſche Kraft, aber jedem fehlte der künſtleriſche Verſtand. Als er dann in ſeinen Laſtern unter- ging, und ſelbſt Immermann’s menſchenfreundlicher Beiſtand dieſe „Natur in Trümmern“ nicht halten konnte, da zeigte ſich wieder die Vorliebe der Zeit für alles Krankhafte und Verdrehte. Die Feuilletons hoben den Todten auf den Schild und verglichen ihn gar mit Heinrich v. Kleiſt, der himmel-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/466>, abgerufen am 24.11.2024.