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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Rahel. Die junge Kritik.
auf den ersten Blick verblüffen konnten. Das unglückliche Buch blieb lange
eine Fundgrube für die aphoristischen Halbgedanken der Feuilletons. --

Aus diesen Pariser und Berliner Quellen nährte sich eine neue Lite-
ratenschule, welche von einem ihrer Mitglieder, Wienbarg, den Namen des
Jungen Deutschlands empfing, obgleich sie weder jugendlich noch deutsch
war. Alle ihre Genossen stammten aus Norddeutschland, aus dem ge-
bildeten aber bildlosen Theile des Vaterlandes, wie Goethe zu sagen pflegte,
und in Allen zeigte sich die Verstandesbildung ungleich stärker als die Macht
der Phantasie. Auch bisher war jede Revolution unserer Literatur von
dem rührigeren Norden ausgegangen, und immer hatten die neuen Ideale
erst durch die überlegene Dichterkraft der Oberdeutschen ihre Vollendung
erlangt, das classische Ideal durch Schiller und Goethe, das romantische
durch Uhland und Rückert. Diesmal aber verhielten sich Süd- und Mittel-
deutschland erst gleichgiltig, dann feindselig; denn hier im lieben, warmen
Neste deutscher Dichtung und Sprachbildung witterte man rasch heraus,
daß die neue literarische Bewegung jüdisch-französischen Ursprungs war
und mithin unfruchtbar bleiben mußte.

Da die lyrische Begabung den jungen Schriftstellern sammt und son-
ders fehlte, so machten sie aus der Noth eine Tugend und behaupteten, nur
die Prosa enthalte noch "literarische Keime". Lebendige Gestalten zu schaffen,
die ewigen Empfindungen des Menschenherzens auszusprechen überließen
sie den ideenlosen Handwerkern, die man vordem Künstler genannt hatte;
sie wollten die Tendenzen des Zeitgeistes vertreten, und es kam ihnen nichts
darauf an, ob sie ihre zeitgemäßen Reflexionen in das Gewand einer Novelle,
einer Reisebeschreibung einkleideten oder die allein angemessene Form der
Feuilletonplauderei wählten. Die Dichtung sollte nicht mehr durch ihre
Ideale das Leben verklären, sondern das Leben sollte mit seinen endlichen
Zwecken und Tageslaunen die Poesie beherrschen. Daher sind auch die
Schriften des Jungen Deutschlands bis auf die letzte Zeile vergessen worden
sobald die Geschichte über die Tendenzen der dreißiger Jahre hinwegschritt.
Die neuen Stürmer und Dränger verglichen sich gern mit Lenz, Heinse
und den anderen Kraftgenies aus den Tagen des Werther; sie bemerkten
nicht, daß sie selbst nur offene Thüren einrannten, da die Herrschaft des
Philisterthums durch Goethe längst gebrochen war und die neue Gesellschaft,
wenngleich sie noch zuweilen einem Anfalle zimperlicher Scheinheiligkeit
unterlag, doch in der Regel dem heißen Blute der Jugend eine sehr duld-
same Nachsicht gewährte. Sie wähnten, ihre "junge Kritik" müsse ebenso
schöpferisch wirken, wie einst Lessing's kritische Schriften, während die deutsche
Dichtung in ihrer stolzen Ungebundenheit eines Befreiers längst nicht mehr
bedurfte. Ihr Radicalismus war erkünstelt, ohne Ernst, ohne nachhaltige
Leidenschaft; manches ihrer Schlagworte benutzten sie nur als einen Unter-
grund, von dem sich die Größe ihres eigenen, zerrissenen Ich wirksam ab-
heben sollte.

Rahel. Die junge Kritik.
auf den erſten Blick verblüffen konnten. Das unglückliche Buch blieb lange
eine Fundgrube für die aphoriſtiſchen Halbgedanken der Feuilletons. —

Aus dieſen Pariſer und Berliner Quellen nährte ſich eine neue Lite-
ratenſchule, welche von einem ihrer Mitglieder, Wienbarg, den Namen des
Jungen Deutſchlands empfing, obgleich ſie weder jugendlich noch deutſch
war. Alle ihre Genoſſen ſtammten aus Norddeutſchland, aus dem ge-
bildeten aber bildloſen Theile des Vaterlandes, wie Goethe zu ſagen pflegte,
und in Allen zeigte ſich die Verſtandesbildung ungleich ſtärker als die Macht
der Phantaſie. Auch bisher war jede Revolution unſerer Literatur von
dem rührigeren Norden ausgegangen, und immer hatten die neuen Ideale
erſt durch die überlegene Dichterkraft der Oberdeutſchen ihre Vollendung
erlangt, das claſſiſche Ideal durch Schiller und Goethe, das romantiſche
durch Uhland und Rückert. Diesmal aber verhielten ſich Süd- und Mittel-
deutſchland erſt gleichgiltig, dann feindſelig; denn hier im lieben, warmen
Neſte deutſcher Dichtung und Sprachbildung witterte man raſch heraus,
daß die neue literariſche Bewegung jüdiſch-franzöſiſchen Urſprungs war
und mithin unfruchtbar bleiben mußte.

Da die lyriſche Begabung den jungen Schriftſtellern ſammt und ſon-
ders fehlte, ſo machten ſie aus der Noth eine Tugend und behaupteten, nur
die Proſa enthalte noch „literariſche Keime“. Lebendige Geſtalten zu ſchaffen,
die ewigen Empfindungen des Menſchenherzens auszuſprechen überließen
ſie den ideenloſen Handwerkern, die man vordem Künſtler genannt hatte;
ſie wollten die Tendenzen des Zeitgeiſtes vertreten, und es kam ihnen nichts
darauf an, ob ſie ihre zeitgemäßen Reflexionen in das Gewand einer Novelle,
einer Reiſebeſchreibung einkleideten oder die allein angemeſſene Form der
Feuilletonplauderei wählten. Die Dichtung ſollte nicht mehr durch ihre
Ideale das Leben verklären, ſondern das Leben ſollte mit ſeinen endlichen
Zwecken und Tageslaunen die Poeſie beherrſchen. Daher ſind auch die
Schriften des Jungen Deutſchlands bis auf die letzte Zeile vergeſſen worden
ſobald die Geſchichte über die Tendenzen der dreißiger Jahre hinwegſchritt.
Die neuen Stürmer und Dränger verglichen ſich gern mit Lenz, Heinſe
und den anderen Kraftgenies aus den Tagen des Werther; ſie bemerkten
nicht, daß ſie ſelbſt nur offene Thüren einrannten, da die Herrſchaft des
Philiſterthums durch Goethe längſt gebrochen war und die neue Geſellſchaft,
wenngleich ſie noch zuweilen einem Anfalle zimperlicher Scheinheiligkeit
unterlag, doch in der Regel dem heißen Blute der Jugend eine ſehr duld-
ſame Nachſicht gewährte. Sie wähnten, ihre „junge Kritik“ müſſe ebenſo
ſchöpferiſch wirken, wie einſt Leſſing’s kritiſche Schriften, während die deutſche
Dichtung in ihrer ſtolzen Ungebundenheit eines Befreiers längſt nicht mehr
bedurfte. Ihr Radicalismus war erkünſtelt, ohne Ernſt, ohne nachhaltige
Leidenſchaft; manches ihrer Schlagworte benutzten ſie nur als einen Unter-
grund, von dem ſich die Größe ihres eigenen, zerriſſenen Ich wirkſam ab-
heben ſollte.

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[429/0443] Rahel. Die junge Kritik. auf den erſten Blick verblüffen konnten. Das unglückliche Buch blieb lange eine Fundgrube für die aphoriſtiſchen Halbgedanken der Feuilletons. — Aus dieſen Pariſer und Berliner Quellen nährte ſich eine neue Lite- ratenſchule, welche von einem ihrer Mitglieder, Wienbarg, den Namen des Jungen Deutſchlands empfing, obgleich ſie weder jugendlich noch deutſch war. Alle ihre Genoſſen ſtammten aus Norddeutſchland, aus dem ge- bildeten aber bildloſen Theile des Vaterlandes, wie Goethe zu ſagen pflegte, und in Allen zeigte ſich die Verſtandesbildung ungleich ſtärker als die Macht der Phantaſie. Auch bisher war jede Revolution unſerer Literatur von dem rührigeren Norden ausgegangen, und immer hatten die neuen Ideale erſt durch die überlegene Dichterkraft der Oberdeutſchen ihre Vollendung erlangt, das claſſiſche Ideal durch Schiller und Goethe, das romantiſche durch Uhland und Rückert. Diesmal aber verhielten ſich Süd- und Mittel- deutſchland erſt gleichgiltig, dann feindſelig; denn hier im lieben, warmen Neſte deutſcher Dichtung und Sprachbildung witterte man raſch heraus, daß die neue literariſche Bewegung jüdiſch-franzöſiſchen Urſprungs war und mithin unfruchtbar bleiben mußte. Da die lyriſche Begabung den jungen Schriftſtellern ſammt und ſon- ders fehlte, ſo machten ſie aus der Noth eine Tugend und behaupteten, nur die Proſa enthalte noch „literariſche Keime“. Lebendige Geſtalten zu ſchaffen, die ewigen Empfindungen des Menſchenherzens auszuſprechen überließen ſie den ideenloſen Handwerkern, die man vordem Künſtler genannt hatte; ſie wollten die Tendenzen des Zeitgeiſtes vertreten, und es kam ihnen nichts darauf an, ob ſie ihre zeitgemäßen Reflexionen in das Gewand einer Novelle, einer Reiſebeſchreibung einkleideten oder die allein angemeſſene Form der Feuilletonplauderei wählten. Die Dichtung ſollte nicht mehr durch ihre Ideale das Leben verklären, ſondern das Leben ſollte mit ſeinen endlichen Zwecken und Tageslaunen die Poeſie beherrſchen. Daher ſind auch die Schriften des Jungen Deutſchlands bis auf die letzte Zeile vergeſſen worden ſobald die Geſchichte über die Tendenzen der dreißiger Jahre hinwegſchritt. Die neuen Stürmer und Dränger verglichen ſich gern mit Lenz, Heinſe und den anderen Kraftgenies aus den Tagen des Werther; ſie bemerkten nicht, daß ſie ſelbſt nur offene Thüren einrannten, da die Herrſchaft des Philiſterthums durch Goethe längſt gebrochen war und die neue Geſellſchaft, wenngleich ſie noch zuweilen einem Anfalle zimperlicher Scheinheiligkeit unterlag, doch in der Regel dem heißen Blute der Jugend eine ſehr duld- ſame Nachſicht gewährte. Sie wähnten, ihre „junge Kritik“ müſſe ebenſo ſchöpferiſch wirken, wie einſt Leſſing’s kritiſche Schriften, während die deutſche Dichtung in ihrer ſtolzen Ungebundenheit eines Befreiers längſt nicht mehr bedurfte. Ihr Radicalismus war erkünſtelt, ohne Ernſt, ohne nachhaltige Leidenſchaft; manches ihrer Schlagworte benutzten ſie nur als einen Unter- grund, von dem ſich die Größe ihres eigenen, zerriſſenen Ich wirkſam ab- heben ſollte.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/443>, abgerufen am 24.11.2024.