eine wohl angebrachte Grobheit, die den unschuldigen Leuten wie der unwillkürliche Gefühlsausbruch eines Biedermannes klang, und immer blieb den Hörern der Eindruck, als ob sie tief in die Falten seines treuen Herzens hineingeblickt hätten.
Schon auf den Bänken der Opposition hatte er mit dem Lächeln des Augurs die schmeichelhafte Behauptung ausgesprochen, jedes Mitglied des Unterhauses könne sich ein sachverständiges Urtheil über die aus- wärtige Politik bilden, wenn diese nur ganz ehrlich und offen verfahre. Demgemäß betrieb er als Minister eifrig die Anfertigung kunstvoller Blaubücher, die von Allem etwas, von dem Wesentlichen nichts erzählten, so daß jeder Leser der Times sich fortan rühmen durfte die europäische Politik des volksthümlichen Staatsmannes von Grund aus zu kennen. Gleich Canning wollte Palmerston den Weltfrieden erhalten, um den britischen Handel nicht zu verderben; doch gleich seinem Meister wünschte er ebenso aufrichtig, daß immer eine sanfte Kriegsgefahr über dem Fest- lande schwebte, damit England freie Hand behielt sein Kolonialreich zu erweitern und die Märkte der ganzen Welt zu besetzen. Vor Allem galt es, die beiden gefährlichsten Nebenbuhler, Frankreich und Rußland aus- einander zu halten, und der Geschäftsverstand des bekehrten Torys ent- deckte sogleich, wie leicht sich dies Ziel erreichen ließ, wenn man die politischen Leidenschaften des Tages gewandt ausbeutete. Richtig zubereitet konnte die liberale Phrase für Alt-England ein ebenso nützlicher und zu- dem weniger kostspieliger Ausfuhrartikel werden wie Kohlen, Eisen und Kattun. Wenn England sich an den neuen französischen Gewalthaber anschloß, um ihn zu stützen und zugleich im Zaume zu halten, wenn diese entente cordiale der Westmächte der aufgeregten Zeit beständig als ein Bund der Freiheit gegen den Despotismus, des Lichtes gegen die Finsterniß angepriesen wurde, so war eine ehrliche Verständigung zwischen Frankreich und den conservativen Ostmächten unmöglich.
Dank der Tendenzpolitik Metternich's bestand in der Welt schon seit Jahren der Wahn, daß die Parteiung der Staatengesellschaft nicht durch die Weltstellung und die auswärtigen Interessen der Mächte be- stimmt würde, sondern, wie einst im Zeitalter der Religionskriege, allein durch ihre inneren Zustände. Palmerston's Nüchternheit hat an dies Märchen der Parteileidenschaft nie geglaubt; er wußte wohl, daß die Verfassungskämpfe der Gegenwart bei Weitem nicht so tief in die Macht- verhältnisse Europas eingriffen wie einst die kirchlichen Gegensätze. Jedoch er bemächtigte sich des allgemein verbreiteten Wahnes und verkündete ungescheut: dies selbstgenügsame Inselreich, das sich in Jahrhunderten niemals um die Verfassung der Nachbarlande gekümmert hatte, sei der natürliche Bundesgenosse aller constitutionellen Staaten. Mit dem Rede- schwall eines Marktschreiers verherrlichte er die Trefflichkeit, die unver- gängliche Dauer dieses "auf die besten Grundsätze der menschlichen Natur,
Die liberalen Weſtmächte.
eine wohl angebrachte Grobheit, die den unſchuldigen Leuten wie der unwillkürliche Gefühlsausbruch eines Biedermannes klang, und immer blieb den Hörern der Eindruck, als ob ſie tief in die Falten ſeines treuen Herzens hineingeblickt hätten.
Schon auf den Bänken der Oppoſition hatte er mit dem Lächeln des Augurs die ſchmeichelhafte Behauptung ausgeſprochen, jedes Mitglied des Unterhauſes könne ſich ein ſachverſtändiges Urtheil über die aus- wärtige Politik bilden, wenn dieſe nur ganz ehrlich und offen verfahre. Demgemäß betrieb er als Miniſter eifrig die Anfertigung kunſtvoller Blaubücher, die von Allem etwas, von dem Weſentlichen nichts erzählten, ſo daß jeder Leſer der Times ſich fortan rühmen durfte die europäiſche Politik des volksthümlichen Staatsmannes von Grund aus zu kennen. Gleich Canning wollte Palmerſton den Weltfrieden erhalten, um den britiſchen Handel nicht zu verderben; doch gleich ſeinem Meiſter wünſchte er ebenſo aufrichtig, daß immer eine ſanfte Kriegsgefahr über dem Feſt- lande ſchwebte, damit England freie Hand behielt ſein Kolonialreich zu erweitern und die Märkte der ganzen Welt zu beſetzen. Vor Allem galt es, die beiden gefährlichſten Nebenbuhler, Frankreich und Rußland aus- einander zu halten, und der Geſchäftsverſtand des bekehrten Torys ent- deckte ſogleich, wie leicht ſich dies Ziel erreichen ließ, wenn man die politiſchen Leidenſchaften des Tages gewandt ausbeutete. Richtig zubereitet konnte die liberale Phraſe für Alt-England ein ebenſo nützlicher und zu- dem weniger koſtſpieliger Ausfuhrartikel werden wie Kohlen, Eiſen und Kattun. Wenn England ſich an den neuen franzöſiſchen Gewalthaber anſchloß, um ihn zu ſtützen und zugleich im Zaume zu halten, wenn dieſe entente cordiale der Weſtmächte der aufgeregten Zeit beſtändig als ein Bund der Freiheit gegen den Despotismus, des Lichtes gegen die Finſterniß angeprieſen wurde, ſo war eine ehrliche Verſtändigung zwiſchen Frankreich und den conſervativen Oſtmächten unmöglich.
Dank der Tendenzpolitik Metternich’s beſtand in der Welt ſchon ſeit Jahren der Wahn, daß die Parteiung der Staatengeſellſchaft nicht durch die Weltſtellung und die auswärtigen Intereſſen der Mächte be- ſtimmt würde, ſondern, wie einſt im Zeitalter der Religionskriege, allein durch ihre inneren Zuſtände. Palmerſton’s Nüchternheit hat an dies Märchen der Parteileidenſchaft nie geglaubt; er wußte wohl, daß die Verfaſſungskämpfe der Gegenwart bei Weitem nicht ſo tief in die Macht- verhältniſſe Europas eingriffen wie einſt die kirchlichen Gegenſätze. Jedoch er bemächtigte ſich des allgemein verbreiteten Wahnes und verkündete ungeſcheut: dies ſelbſtgenügſame Inſelreich, das ſich in Jahrhunderten niemals um die Verfaſſung der Nachbarlande gekümmert hatte, ſei der natürliche Bundesgenoſſe aller conſtitutionellen Staaten. Mit dem Rede- ſchwall eines Marktſchreiers verherrlichte er die Trefflichkeit, die unver- gängliche Dauer dieſes „auf die beſten Grundſätze der menſchlichen Natur,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0043"n="29"/><fwplace="top"type="header">Die liberalen Weſtmächte.</fw><lb/>
eine wohl angebrachte Grobheit, die den unſchuldigen Leuten wie der<lb/>
unwillkürliche Gefühlsausbruch eines Biedermannes klang, und immer<lb/>
blieb den Hörern der Eindruck, als ob ſie tief in die Falten ſeines treuen<lb/>
Herzens hineingeblickt hätten.</p><lb/><p>Schon auf den Bänken der Oppoſition hatte er mit dem Lächeln<lb/>
des Augurs die ſchmeichelhafte Behauptung ausgeſprochen, jedes Mitglied<lb/>
des Unterhauſes könne ſich ein ſachverſtändiges Urtheil über die aus-<lb/>
wärtige Politik bilden, wenn dieſe nur ganz ehrlich und offen verfahre.<lb/>
Demgemäß betrieb er als Miniſter eifrig die Anfertigung kunſtvoller<lb/>
Blaubücher, die von Allem etwas, von dem Weſentlichen nichts erzählten,<lb/>ſo daß jeder Leſer der Times ſich fortan rühmen durfte die europäiſche<lb/>
Politik des volksthümlichen Staatsmannes von Grund aus zu kennen.<lb/>
Gleich Canning wollte Palmerſton den Weltfrieden erhalten, um den<lb/>
britiſchen Handel nicht zu verderben; doch gleich ſeinem Meiſter wünſchte<lb/>
er ebenſo aufrichtig, daß immer eine ſanfte Kriegsgefahr über dem Feſt-<lb/>
lande ſchwebte, damit England freie Hand behielt ſein Kolonialreich zu<lb/>
erweitern und die Märkte der ganzen Welt zu beſetzen. Vor Allem galt<lb/>
es, die beiden gefährlichſten Nebenbuhler, Frankreich und Rußland aus-<lb/>
einander zu halten, und der Geſchäftsverſtand des bekehrten Torys ent-<lb/>
deckte ſogleich, wie leicht ſich dies Ziel erreichen ließ, wenn man die<lb/>
politiſchen Leidenſchaften des Tages gewandt ausbeutete. Richtig zubereitet<lb/>
konnte die liberale Phraſe für Alt-England ein ebenſo nützlicher und zu-<lb/>
dem weniger koſtſpieliger Ausfuhrartikel werden wie Kohlen, Eiſen und<lb/>
Kattun. Wenn England ſich an den neuen franzöſiſchen Gewalthaber<lb/>
anſchloß, um ihn zu ſtützen und zugleich im Zaume zu halten, wenn<lb/>
dieſe <hirendition="#aq">entente cordiale</hi> der Weſtmächte der aufgeregten Zeit beſtändig als<lb/>
ein Bund der Freiheit gegen den Despotismus, des Lichtes gegen die<lb/>
Finſterniß angeprieſen wurde, ſo war eine ehrliche Verſtändigung zwiſchen<lb/>
Frankreich und den conſervativen Oſtmächten unmöglich.</p><lb/><p>Dank der Tendenzpolitik Metternich’s beſtand in der Welt ſchon<lb/>ſeit Jahren der Wahn, daß die Parteiung der Staatengeſellſchaft nicht<lb/>
durch die Weltſtellung und die auswärtigen Intereſſen der Mächte be-<lb/>ſtimmt würde, ſondern, wie einſt im Zeitalter der Religionskriege, allein<lb/>
durch ihre inneren Zuſtände. Palmerſton’s Nüchternheit hat an dies<lb/>
Märchen der Parteileidenſchaft nie geglaubt; er wußte wohl, daß die<lb/>
Verfaſſungskämpfe der Gegenwart bei Weitem nicht ſo tief in die Macht-<lb/>
verhältniſſe Europas eingriffen wie einſt die kirchlichen Gegenſätze. Jedoch<lb/>
er bemächtigte ſich des allgemein verbreiteten Wahnes und verkündete<lb/>
ungeſcheut: dies ſelbſtgenügſame Inſelreich, das ſich in Jahrhunderten<lb/>
niemals um die Verfaſſung der Nachbarlande gekümmert hatte, ſei der<lb/>
natürliche Bundesgenoſſe aller conſtitutionellen Staaten. Mit dem Rede-<lb/>ſchwall eines Marktſchreiers verherrlichte er die Trefflichkeit, die unver-<lb/>
gängliche Dauer dieſes „auf die beſten Grundſätze der menſchlichen Natur,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[29/0043]
Die liberalen Weſtmächte.
eine wohl angebrachte Grobheit, die den unſchuldigen Leuten wie der
unwillkürliche Gefühlsausbruch eines Biedermannes klang, und immer
blieb den Hörern der Eindruck, als ob ſie tief in die Falten ſeines treuen
Herzens hineingeblickt hätten.
Schon auf den Bänken der Oppoſition hatte er mit dem Lächeln
des Augurs die ſchmeichelhafte Behauptung ausgeſprochen, jedes Mitglied
des Unterhauſes könne ſich ein ſachverſtändiges Urtheil über die aus-
wärtige Politik bilden, wenn dieſe nur ganz ehrlich und offen verfahre.
Demgemäß betrieb er als Miniſter eifrig die Anfertigung kunſtvoller
Blaubücher, die von Allem etwas, von dem Weſentlichen nichts erzählten,
ſo daß jeder Leſer der Times ſich fortan rühmen durfte die europäiſche
Politik des volksthümlichen Staatsmannes von Grund aus zu kennen.
Gleich Canning wollte Palmerſton den Weltfrieden erhalten, um den
britiſchen Handel nicht zu verderben; doch gleich ſeinem Meiſter wünſchte
er ebenſo aufrichtig, daß immer eine ſanfte Kriegsgefahr über dem Feſt-
lande ſchwebte, damit England freie Hand behielt ſein Kolonialreich zu
erweitern und die Märkte der ganzen Welt zu beſetzen. Vor Allem galt
es, die beiden gefährlichſten Nebenbuhler, Frankreich und Rußland aus-
einander zu halten, und der Geſchäftsverſtand des bekehrten Torys ent-
deckte ſogleich, wie leicht ſich dies Ziel erreichen ließ, wenn man die
politiſchen Leidenſchaften des Tages gewandt ausbeutete. Richtig zubereitet
konnte die liberale Phraſe für Alt-England ein ebenſo nützlicher und zu-
dem weniger koſtſpieliger Ausfuhrartikel werden wie Kohlen, Eiſen und
Kattun. Wenn England ſich an den neuen franzöſiſchen Gewalthaber
anſchloß, um ihn zu ſtützen und zugleich im Zaume zu halten, wenn
dieſe entente cordiale der Weſtmächte der aufgeregten Zeit beſtändig als
ein Bund der Freiheit gegen den Despotismus, des Lichtes gegen die
Finſterniß angeprieſen wurde, ſo war eine ehrliche Verſtändigung zwiſchen
Frankreich und den conſervativen Oſtmächten unmöglich.
Dank der Tendenzpolitik Metternich’s beſtand in der Welt ſchon
ſeit Jahren der Wahn, daß die Parteiung der Staatengeſellſchaft nicht
durch die Weltſtellung und die auswärtigen Intereſſen der Mächte be-
ſtimmt würde, ſondern, wie einſt im Zeitalter der Religionskriege, allein
durch ihre inneren Zuſtände. Palmerſton’s Nüchternheit hat an dies
Märchen der Parteileidenſchaft nie geglaubt; er wußte wohl, daß die
Verfaſſungskämpfe der Gegenwart bei Weitem nicht ſo tief in die Macht-
verhältniſſe Europas eingriffen wie einſt die kirchlichen Gegenſätze. Jedoch
er bemächtigte ſich des allgemein verbreiteten Wahnes und verkündete
ungeſcheut: dies ſelbſtgenügſame Inſelreich, das ſich in Jahrhunderten
niemals um die Verfaſſung der Nachbarlande gekümmert hatte, ſei der
natürliche Bundesgenoſſe aller conſtitutionellen Staaten. Mit dem Rede-
ſchwall eines Marktſchreiers verherrlichte er die Trefflichkeit, die unver-
gängliche Dauer dieſes „auf die beſten Grundſätze der menſchlichen Natur,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/43>, abgerufen am 29.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.