wendigkeit herantrete, "sich von dem Zustande des augenblicklichen Welt- laufes im realen und idealen Sinne zu unterrichten".
Noch mächtiger redete dies starke Zukunftsgefühl aus seinem letzten großen Werke, einer prophetischen Dichtung, die von der thatenarmen und zuchtlosen Mitwelt kaum begriffen, erst heute einem an Heldenkraft und darum auch an frommer Ehrfurcht reicheren Geschlechte langsam verständ- lich wird. Sehr selten geschieht es, daß ein greiser Meister verscheidet, bevor er sein Lieblingswerk vollendet hat; es ist, als läge in solchen Leib und Seele spannenden Aufgaben eine geheimnißvolle Kraft, die den Lebens- faden nicht abreißen läßt. Seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigte die Gestalt des Faust die Gemüther der Menschen so lebhaft, wie nur je ein historischer Held. Philosophen und Poeten versuchten das Bruchstück zu er- gänzen, jeder fühlende Leser fragte unwillkürlich, wie dieser hohe Mensch enden müsse, in dem Alle die eigensten Züge des deutschen Geistes er- kannten. Goethe wußte, daß die Augen der Besten seines Volkes auf ihn ge- richtet waren, wenn er jetzt in jedem frohen Augenblicke an seiner Dichtung still weiter arbeitete und den ganzen Schatz seiner unvergleichlichen Lebens- erfahrung wie in ein großes Tagebuch in sie eintrug. Wenige Wochen vor seinem Tode, fast sechzig Jahre nachdem er den ersten kühnen Plan gefaßt, schloß er das Werk ab, so weit der unendliche Stoff sich erschöpfen ließ, und gestand, daß er sein ferneres Leben nunmehr nur noch als ein reines Geschenk Gottes betrachten wolle. So durch zwei Menschenalter beständig fortgebildet und ergänzt, mußte der zweite Theil des Gedichts an ursprünglicher Frische und künstlerischer Rundung eben so viel ver- lieren, wie er an Gedankenfülle gewann.
Der Faust war das echte Kind der Epoche des dichterischen Sturmes und Dranges; nur die Jugend, die Alles verheißt und Alles verlangt, konnte in dem Bilde des ungeduldig wider die allgemeinen Erdenschranken ankämpfenden Titanen ihr eigenes Herz wiederfinden. Schon als er den ersten Theil herausgab, empfand der Dichter zuweilen, wie fern ihm jetzt dieser himmelstürmende Trotz seiner jungen Tage lag, und er klagte: "So gieb mir auch die Zeiten wieder, wo ich noch selbst im Werden war." Um die zarten Nerven der Leser zu schonen, beseitigte er aus den ersten Entwürfen manchen Zug genialer Frechheit, der zum Wesen der gespenstischen Fabel gehörte, sogar das schauerlich schöne Blutlied der Dämonen: "Wo fließet heißes Menschenblut, der Dunst ist allem Zauber gut," und der diabolische Humor der Walpurgisnacht auf dem Blocksberge verblaßte etwas unter seinen umbildenden Händen. Seitdem waren nochmals zwanzig reiche Jahre über sein Haupt dahingegangen; er fühlte sich den Gestalten seiner Dichtung so fremd, daß er keinen Anstand nahm, die lieblich naive Garten- scene des ersten Theils für die Composition des Fürsten Radziwill zu einem frostigen Opern-Quartett umzuarbeiten. Nicht ohne gewaltsame Selbstüberwindung konnte er also aus der beschaulichen Stimmung des
IV. 7. Das Junge Deutſchland.
wendigkeit herantrete, „ſich von dem Zuſtande des augenblicklichen Welt- laufes im realen und idealen Sinne zu unterrichten“.
Noch mächtiger redete dies ſtarke Zukunftsgefühl aus ſeinem letzten großen Werke, einer prophetiſchen Dichtung, die von der thatenarmen und zuchtloſen Mitwelt kaum begriffen, erſt heute einem an Heldenkraft und darum auch an frommer Ehrfurcht reicheren Geſchlechte langſam verſtänd- lich wird. Sehr ſelten geſchieht es, daß ein greiſer Meiſter verſcheidet, bevor er ſein Lieblingswerk vollendet hat; es iſt, als läge in ſolchen Leib und Seele ſpannenden Aufgaben eine geheimnißvolle Kraft, die den Lebens- faden nicht abreißen läßt. Seit mehr als zwanzig Jahren beſchäftigte die Geſtalt des Fauſt die Gemüther der Menſchen ſo lebhaft, wie nur je ein hiſtoriſcher Held. Philoſophen und Poeten verſuchten das Bruchſtück zu er- gänzen, jeder fühlende Leſer fragte unwillkürlich, wie dieſer hohe Menſch enden müſſe, in dem Alle die eigenſten Züge des deutſchen Geiſtes er- kannten. Goethe wußte, daß die Augen der Beſten ſeines Volkes auf ihn ge- richtet waren, wenn er jetzt in jedem frohen Augenblicke an ſeiner Dichtung ſtill weiter arbeitete und den ganzen Schatz ſeiner unvergleichlichen Lebens- erfahrung wie in ein großes Tagebuch in ſie eintrug. Wenige Wochen vor ſeinem Tode, faſt ſechzig Jahre nachdem er den erſten kühnen Plan gefaßt, ſchloß er das Werk ab, ſo weit der unendliche Stoff ſich erſchöpfen ließ, und geſtand, daß er ſein ferneres Leben nunmehr nur noch als ein reines Geſchenk Gottes betrachten wolle. So durch zwei Menſchenalter beſtändig fortgebildet und ergänzt, mußte der zweite Theil des Gedichts an urſprünglicher Friſche und künſtleriſcher Rundung eben ſo viel ver- lieren, wie er an Gedankenfülle gewann.
Der Fauſt war das echte Kind der Epoche des dichteriſchen Sturmes und Dranges; nur die Jugend, die Alles verheißt und Alles verlangt, konnte in dem Bilde des ungeduldig wider die allgemeinen Erdenſchranken ankämpfenden Titanen ihr eigenes Herz wiederfinden. Schon als er den erſten Theil herausgab, empfand der Dichter zuweilen, wie fern ihm jetzt dieſer himmelſtürmende Trotz ſeiner jungen Tage lag, und er klagte: „So gieb mir auch die Zeiten wieder, wo ich noch ſelbſt im Werden war.“ Um die zarten Nerven der Leſer zu ſchonen, beſeitigte er aus den erſten Entwürfen manchen Zug genialer Frechheit, der zum Weſen der geſpenſtiſchen Fabel gehörte, ſogar das ſchauerlich ſchöne Blutlied der Dämonen: „Wo fließet heißes Menſchenblut, der Dunſt iſt allem Zauber gut,“ und der diaboliſche Humor der Walpurgisnacht auf dem Blocksberge verblaßte etwas unter ſeinen umbildenden Händen. Seitdem waren nochmals zwanzig reiche Jahre über ſein Haupt dahingegangen; er fühlte ſich den Geſtalten ſeiner Dichtung ſo fremd, daß er keinen Anſtand nahm, die lieblich naive Garten- ſcene des erſten Theils für die Compoſition des Fürſten Radziwill zu einem froſtigen Opern-Quartett umzuarbeiten. Nicht ohne gewaltſame Selbſtüberwindung konnte er alſo aus der beſchaulichen Stimmung des
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IV. 7. Das Junge Deutſchland.
wendigkeit herantrete, „ſich von dem Zuſtande des augenblicklichen Welt-
laufes im realen und idealen Sinne zu unterrichten“.
Noch mächtiger redete dies ſtarke Zukunftsgefühl aus ſeinem letzten
großen Werke, einer prophetiſchen Dichtung, die von der thatenarmen und
zuchtloſen Mitwelt kaum begriffen, erſt heute einem an Heldenkraft und
darum auch an frommer Ehrfurcht reicheren Geſchlechte langſam verſtänd-
lich wird. Sehr ſelten geſchieht es, daß ein greiſer Meiſter verſcheidet,
bevor er ſein Lieblingswerk vollendet hat; es iſt, als läge in ſolchen Leib
und Seele ſpannenden Aufgaben eine geheimnißvolle Kraft, die den Lebens-
faden nicht abreißen läßt. Seit mehr als zwanzig Jahren beſchäftigte die
Geſtalt des Fauſt die Gemüther der Menſchen ſo lebhaft, wie nur je ein
hiſtoriſcher Held. Philoſophen und Poeten verſuchten das Bruchſtück zu er-
gänzen, jeder fühlende Leſer fragte unwillkürlich, wie dieſer hohe Menſch
enden müſſe, in dem Alle die eigenſten Züge des deutſchen Geiſtes er-
kannten. Goethe wußte, daß die Augen der Beſten ſeines Volkes auf ihn ge-
richtet waren, wenn er jetzt in jedem frohen Augenblicke an ſeiner Dichtung
ſtill weiter arbeitete und den ganzen Schatz ſeiner unvergleichlichen Lebens-
erfahrung wie in ein großes Tagebuch in ſie eintrug. Wenige Wochen
vor ſeinem Tode, faſt ſechzig Jahre nachdem er den erſten kühnen Plan
gefaßt, ſchloß er das Werk ab, ſo weit der unendliche Stoff ſich erſchöpfen
ließ, und geſtand, daß er ſein ferneres Leben nunmehr nur noch als ein
reines Geſchenk Gottes betrachten wolle. So durch zwei Menſchenalter
beſtändig fortgebildet und ergänzt, mußte der zweite Theil des Gedichts
an urſprünglicher Friſche und künſtleriſcher Rundung eben ſo viel ver-
lieren, wie er an Gedankenfülle gewann.
Der Fauſt war das echte Kind der Epoche des dichteriſchen Sturmes
und Dranges; nur die Jugend, die Alles verheißt und Alles verlangt,
konnte in dem Bilde des ungeduldig wider die allgemeinen Erdenſchranken
ankämpfenden Titanen ihr eigenes Herz wiederfinden. Schon als er den
erſten Theil herausgab, empfand der Dichter zuweilen, wie fern ihm jetzt
dieſer himmelſtürmende Trotz ſeiner jungen Tage lag, und er klagte: „So
gieb mir auch die Zeiten wieder, wo ich noch ſelbſt im Werden war.“ Um die
zarten Nerven der Leſer zu ſchonen, beſeitigte er aus den erſten Entwürfen
manchen Zug genialer Frechheit, der zum Weſen der geſpenſtiſchen Fabel
gehörte, ſogar das ſchauerlich ſchöne Blutlied der Dämonen: „Wo fließet
heißes Menſchenblut, der Dunſt iſt allem Zauber gut,“ und der diaboliſche
Humor der Walpurgisnacht auf dem Blocksberge verblaßte etwas unter
ſeinen umbildenden Händen. Seitdem waren nochmals zwanzig reiche
Jahre über ſein Haupt dahingegangen; er fühlte ſich den Geſtalten ſeiner
Dichtung ſo fremd, daß er keinen Anſtand nahm, die lieblich naive Garten-
ſcene des erſten Theils für die Compoſition des Fürſten Radziwill zu
einem froſtigen Opern-Quartett umzuarbeiten. Nicht ohne gewaltſame
Selbſtüberwindung konnte er alſo aus der beſchaulichen Stimmung des
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/426>, abgerufen am 24.11.2024.
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