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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
endlich das Unterhaus, nochmals aufgelöst und neu gewählt, seine Zu-
stimmung gab; den Widerstand der Lords brach der König selbst, indem
er die Gegner persönlich auffordern ließ, der entscheidenden Sitzung fern
zu bleiben, denn durch einen Pairschub fürchtete er das tief herabge-
würdigte Ansehen des Oberhauses ganz zu zerstören. Also ward durch
eine unwiderstehliche Volksbewegung die Neugestaltung des Unterhauses
durchgesetzt (1832). Die Reformbill gewährte blos das Unerläßliche:
sie verdoppelte die Zahl der Wähler, was nach den Unterlassungssünden
so vieler Jahre nicht unbescheiden schien, sie beseitigte nur die gänzlich
verrotteten Wahlflecken und gab den neuen Gewerbs- und Handelsplätzen
eine den wirklichen Machtverhältnissen noch keineswegs entsprechende Ver-
tretung.

Was Wunder, daß diese friedliche Neuerung gerade von den ge-
mäßigten Liberalen des Festlandes als ein neuer Beweis englischer
Erbweisheit gepriesen wurde; selbst Dahlmann sah in der Reform ledig-
lich eine heilsame Reinigung der bestehenden Verfassungsorgane, da er
mit seinem Montesquieu das Unterhaus für das demokratische Gegen-
gewicht des Oberhauses hielt. Nur einzelne scharfblickende Conservative
unterschätzten nicht die Bedeutung des großen Umschwungs. In einem
geistvollen Aufsatze der Preußischen Staatszeitung sagte Hegel voraus,
diese Reform werde die Macht der alten parlamentarischen Aristokratie
in ihren Grundfesten erschüttern, und der Erfolg gab ihm Recht. Bis-
her wurde nur ein Viertel der Commoners frei gewählt, die andern ver-
dankten ihre Sitze allesammt der Gunst der Grundherren und des Cabi-
nets. Von nun an gaben in der Hälfte der Wahlbezirke die Mittelklassen
den Ausschlag, und obwohl der Adel die gewohnten Künste der Wahl-
beherrschung auch jetzt noch in zeitgemäßen Formen und mit großem
Erfolge spielen ließ, so wurde doch das Haus der Gemeinen allmählich,
was es unter den Welfen nie gewesen war, eine Volksvertretung. Un-
aufhaltsam aber sank die Macht des Oberhauses, denn die Lords hatten
bisher einen großen Theil ihres Einflusses unmerklich, durch die Be-
herrschung der Volkswahlen und der Abstimmungen des Unterhauses
ausgeübt. Den verrotteten Wahlflecken verdankte das alte Haus der
Gemeinen den frischen Nachwuchs seiner jugendlichen Staatsmänner;
fortan war der Eintritt erschwert; an der Seltenheit der Talente, an
dem Sinken der Beredsamkeit ließ sich bald erkennen, daß die großen
Tage des englischen Parlamentarismus zu Ende gingen.

Neben den altgeschichtlichen Namen der Whigs und Torys kamen
bereits die unbestimmten festländischen Bezeichnungen: Liberale und Con-
servative in Gebrauch; denn die beiden alten erblichen Adelsparteien zer-
splitterten sich bald nach französischer Weise in sechs Fractionen, kleine
Meinungs- und Interessengruppen, die nur mühsam unter einen Hut
gebracht wurden. Der Führer dieses neuen Unterhauses gebot nicht mehr

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
endlich das Unterhaus, nochmals aufgelöſt und neu gewählt, ſeine Zu-
ſtimmung gab; den Widerſtand der Lords brach der König ſelbſt, indem
er die Gegner perſönlich auffordern ließ, der entſcheidenden Sitzung fern
zu bleiben, denn durch einen Pairſchub fürchtete er das tief herabge-
würdigte Anſehen des Oberhauſes ganz zu zerſtören. Alſo ward durch
eine unwiderſtehliche Volksbewegung die Neugeſtaltung des Unterhauſes
durchgeſetzt (1832). Die Reformbill gewährte blos das Unerläßliche:
ſie verdoppelte die Zahl der Wähler, was nach den Unterlaſſungsſünden
ſo vieler Jahre nicht unbeſcheiden ſchien, ſie beſeitigte nur die gänzlich
verrotteten Wahlflecken und gab den neuen Gewerbs- und Handelsplätzen
eine den wirklichen Machtverhältniſſen noch keineswegs entſprechende Ver-
tretung.

Was Wunder, daß dieſe friedliche Neuerung gerade von den ge-
mäßigten Liberalen des Feſtlandes als ein neuer Beweis engliſcher
Erbweisheit geprieſen wurde; ſelbſt Dahlmann ſah in der Reform ledig-
lich eine heilſame Reinigung der beſtehenden Verfaſſungsorgane, da er
mit ſeinem Montesquieu das Unterhaus für das demokratiſche Gegen-
gewicht des Oberhauſes hielt. Nur einzelne ſcharfblickende Conſervative
unterſchätzten nicht die Bedeutung des großen Umſchwungs. In einem
geiſtvollen Aufſatze der Preußiſchen Staatszeitung ſagte Hegel voraus,
dieſe Reform werde die Macht der alten parlamentariſchen Ariſtokratie
in ihren Grundfeſten erſchüttern, und der Erfolg gab ihm Recht. Bis-
her wurde nur ein Viertel der Commoners frei gewählt, die andern ver-
dankten ihre Sitze alleſammt der Gunſt der Grundherren und des Cabi-
nets. Von nun an gaben in der Hälfte der Wahlbezirke die Mittelklaſſen
den Ausſchlag, und obwohl der Adel die gewohnten Künſte der Wahl-
beherrſchung auch jetzt noch in zeitgemäßen Formen und mit großem
Erfolge ſpielen ließ, ſo wurde doch das Haus der Gemeinen allmählich,
was es unter den Welfen nie geweſen war, eine Volksvertretung. Un-
aufhaltſam aber ſank die Macht des Oberhauſes, denn die Lords hatten
bisher einen großen Theil ihres Einfluſſes unmerklich, durch die Be-
herrſchung der Volkswahlen und der Abſtimmungen des Unterhauſes
ausgeübt. Den verrotteten Wahlflecken verdankte das alte Haus der
Gemeinen den friſchen Nachwuchs ſeiner jugendlichen Staatsmänner;
fortan war der Eintritt erſchwert; an der Seltenheit der Talente, an
dem Sinken der Beredſamkeit ließ ſich bald erkennen, daß die großen
Tage des engliſchen Parlamentarismus zu Ende gingen.

Neben den altgeſchichtlichen Namen der Whigs und Torys kamen
bereits die unbeſtimmten feſtländiſchen Bezeichnungen: Liberale und Con-
ſervative in Gebrauch; denn die beiden alten erblichen Adelsparteien zer-
ſplitterten ſich bald nach franzöſiſcher Weiſe in ſechs Fractionen, kleine
Meinungs- und Intereſſengruppen, die nur mühſam unter einen Hut
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[24/0038] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. endlich das Unterhaus, nochmals aufgelöſt und neu gewählt, ſeine Zu- ſtimmung gab; den Widerſtand der Lords brach der König ſelbſt, indem er die Gegner perſönlich auffordern ließ, der entſcheidenden Sitzung fern zu bleiben, denn durch einen Pairſchub fürchtete er das tief herabge- würdigte Anſehen des Oberhauſes ganz zu zerſtören. Alſo ward durch eine unwiderſtehliche Volksbewegung die Neugeſtaltung des Unterhauſes durchgeſetzt (1832). Die Reformbill gewährte blos das Unerläßliche: ſie verdoppelte die Zahl der Wähler, was nach den Unterlaſſungsſünden ſo vieler Jahre nicht unbeſcheiden ſchien, ſie beſeitigte nur die gänzlich verrotteten Wahlflecken und gab den neuen Gewerbs- und Handelsplätzen eine den wirklichen Machtverhältniſſen noch keineswegs entſprechende Ver- tretung. Was Wunder, daß dieſe friedliche Neuerung gerade von den ge- mäßigten Liberalen des Feſtlandes als ein neuer Beweis engliſcher Erbweisheit geprieſen wurde; ſelbſt Dahlmann ſah in der Reform ledig- lich eine heilſame Reinigung der beſtehenden Verfaſſungsorgane, da er mit ſeinem Montesquieu das Unterhaus für das demokratiſche Gegen- gewicht des Oberhauſes hielt. Nur einzelne ſcharfblickende Conſervative unterſchätzten nicht die Bedeutung des großen Umſchwungs. In einem geiſtvollen Aufſatze der Preußiſchen Staatszeitung ſagte Hegel voraus, dieſe Reform werde die Macht der alten parlamentariſchen Ariſtokratie in ihren Grundfeſten erſchüttern, und der Erfolg gab ihm Recht. Bis- her wurde nur ein Viertel der Commoners frei gewählt, die andern ver- dankten ihre Sitze alleſammt der Gunſt der Grundherren und des Cabi- nets. Von nun an gaben in der Hälfte der Wahlbezirke die Mittelklaſſen den Ausſchlag, und obwohl der Adel die gewohnten Künſte der Wahl- beherrſchung auch jetzt noch in zeitgemäßen Formen und mit großem Erfolge ſpielen ließ, ſo wurde doch das Haus der Gemeinen allmählich, was es unter den Welfen nie geweſen war, eine Volksvertretung. Un- aufhaltſam aber ſank die Macht des Oberhauſes, denn die Lords hatten bisher einen großen Theil ihres Einfluſſes unmerklich, durch die Be- herrſchung der Volkswahlen und der Abſtimmungen des Unterhauſes ausgeübt. Den verrotteten Wahlflecken verdankte das alte Haus der Gemeinen den friſchen Nachwuchs ſeiner jugendlichen Staatsmänner; fortan war der Eintritt erſchwert; an der Seltenheit der Talente, an dem Sinken der Beredſamkeit ließ ſich bald erkennen, daß die großen Tage des engliſchen Parlamentarismus zu Ende gingen. Neben den altgeſchichtlichen Namen der Whigs und Torys kamen bereits die unbeſtimmten feſtländiſchen Bezeichnungen: Liberale und Con- ſervative in Gebrauch; denn die beiden alten erblichen Adelsparteien zer- ſplitterten ſich bald nach franzöſiſcher Weiſe in ſechs Fractionen, kleine Meinungs- und Intereſſengruppen, die nur mühſam unter einen Hut gebracht wurden. Der Führer dieſes neuen Unterhauſes gebot nicht mehr

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/38>, abgerufen am 29.11.2024.