Radicale Theorien leiten den Staat aus dem freien Willen des sou- veränen Volkes ab. Die Geschichte lehrt vielmehr, daß in einfachen Ver- hältnissen die Staaten meist gegen den Willen der Mehrheit des Volkes, durch Eroberung und Unterwerfung entstehen; und wie der Krieg selbst in Zeiten bewußter Gesittung immer seine staatenbildende Kraft bewahrt, so wird auch die innere Politik freier Völker keineswegs allein durch die Wandlungen der öffentlichen Meinung bestimmt. Die folgenreichste po- litische That dieses Zeitraumes, die alle die kleinen Kämpfe um constitu- tionelle Rechte gänzlich in den Schatten stellte, vollzog sich unzweifelhaft gegen den Willen der Mehrheit der Deutschen; die Nation wirkte nur mittelbar und halb unbewußt mit, da die Zornreden der Liberalen wider das deutsche Elend und die berechtigten Klagen der Geschäftswelt den Regierungen einen rettenden Entschluß aufzwangen. Der größte praktische Erfolg der Idee der deutschen Einheit war das Werk der nämlichen Kronen, welche die deutschen Farben verfolgten und den Vorschlag eines Deutschen Reichstages als eine revolutionäre Ketzerei zurückwiesen. So unerbittlich zwang die Vernunft, die in den Dingen lag, auch die Widerwilligen und die Ahnungslosen in ihre Dienste.
Nach dem Tode Motz's, des einzigen Staatsmannes, der die poli- tischen Folgen des preußischen Handelsbundes von vornherein ganz über- sah, erhielt sein Freund Maassen, der Begründer des Zollgesetzes, die Leitung des Finanzwesens. Die Wahl des Königs konnte keinen würdigeren Mann treffen. Maassen überragte den Verstorbenen durch umfassende Sachkenntniß; klug, gerecht, wohlwollend verstand er bei den Unterhand- lungen sich das Vertrauen der argwöhnischen kleinen Kronen stets zu er- halten. Freilich fehlten ihm der kühne Wagemuth und der weite staats- männische Blick des Vorgängers; er ließ die Dinge gern an sich kommen und hegte nicht wie jener den Ehrgeiz auf die Leitung der gesammten preußischen Politik einzuwirken, obgleich er als der bedeutendste Kopf des Ministeriums klar erkannte, wie gemächlich die Mittelmäßigkeit in den anderen Departements sich wieder einzunisten begann. Wenn sein ge-
Sechſter Abſchnitt. Der Deutſche Zollverein.
Radicale Theorien leiten den Staat aus dem freien Willen des ſou- veränen Volkes ab. Die Geſchichte lehrt vielmehr, daß in einfachen Ver- hältniſſen die Staaten meiſt gegen den Willen der Mehrheit des Volkes, durch Eroberung und Unterwerfung entſtehen; und wie der Krieg ſelbſt in Zeiten bewußter Geſittung immer ſeine ſtaatenbildende Kraft bewahrt, ſo wird auch die innere Politik freier Völker keineswegs allein durch die Wandlungen der öffentlichen Meinung beſtimmt. Die folgenreichſte po- litiſche That dieſes Zeitraumes, die alle die kleinen Kämpfe um conſtitu- tionelle Rechte gänzlich in den Schatten ſtellte, vollzog ſich unzweifelhaft gegen den Willen der Mehrheit der Deutſchen; die Nation wirkte nur mittelbar und halb unbewußt mit, da die Zornreden der Liberalen wider das deutſche Elend und die berechtigten Klagen der Geſchäftswelt den Regierungen einen rettenden Entſchluß aufzwangen. Der größte praktiſche Erfolg der Idee der deutſchen Einheit war das Werk der nämlichen Kronen, welche die deutſchen Farben verfolgten und den Vorſchlag eines Deutſchen Reichstages als eine revolutionäre Ketzerei zurückwieſen. So unerbittlich zwang die Vernunft, die in den Dingen lag, auch die Widerwilligen und die Ahnungsloſen in ihre Dienſte.
Nach dem Tode Motz’s, des einzigen Staatsmannes, der die poli- tiſchen Folgen des preußiſchen Handelsbundes von vornherein ganz über- ſah, erhielt ſein Freund Maaſſen, der Begründer des Zollgeſetzes, die Leitung des Finanzweſens. Die Wahl des Königs konnte keinen würdigeren Mann treffen. Maaſſen überragte den Verſtorbenen durch umfaſſende Sachkenntniß; klug, gerecht, wohlwollend verſtand er bei den Unterhand- lungen ſich das Vertrauen der argwöhniſchen kleinen Kronen ſtets zu er- halten. Freilich fehlten ihm der kühne Wagemuth und der weite ſtaats- männiſche Blick des Vorgängers; er ließ die Dinge gern an ſich kommen und hegte nicht wie jener den Ehrgeiz auf die Leitung der geſammten preußiſchen Politik einzuwirken, obgleich er als der bedeutendſte Kopf des Miniſteriums klar erkannte, wie gemächlich die Mittelmäßigkeit in den anderen Departements ſich wieder einzuniſten begann. Wenn ſein ge-
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[[350]/0364]
Sechſter Abſchnitt.
Der Deutſche Zollverein.
Radicale Theorien leiten den Staat aus dem freien Willen des ſou-
veränen Volkes ab. Die Geſchichte lehrt vielmehr, daß in einfachen Ver-
hältniſſen die Staaten meiſt gegen den Willen der Mehrheit des Volkes,
durch Eroberung und Unterwerfung entſtehen; und wie der Krieg ſelbſt
in Zeiten bewußter Geſittung immer ſeine ſtaatenbildende Kraft bewahrt,
ſo wird auch die innere Politik freier Völker keineswegs allein durch die
Wandlungen der öffentlichen Meinung beſtimmt. Die folgenreichſte po-
litiſche That dieſes Zeitraumes, die alle die kleinen Kämpfe um conſtitu-
tionelle Rechte gänzlich in den Schatten ſtellte, vollzog ſich unzweifelhaft
gegen den Willen der Mehrheit der Deutſchen; die Nation wirkte nur
mittelbar und halb unbewußt mit, da die Zornreden der Liberalen wider
das deutſche Elend und die berechtigten Klagen der Geſchäftswelt den
Regierungen einen rettenden Entſchluß aufzwangen. Der größte praktiſche
Erfolg der Idee der deutſchen Einheit war das Werk der nämlichen Kronen,
welche die deutſchen Farben verfolgten und den Vorſchlag eines Deutſchen
Reichstages als eine revolutionäre Ketzerei zurückwieſen. So unerbittlich
zwang die Vernunft, die in den Dingen lag, auch die Widerwilligen und
die Ahnungsloſen in ihre Dienſte.
Nach dem Tode Motz’s, des einzigen Staatsmannes, der die poli-
tiſchen Folgen des preußiſchen Handelsbundes von vornherein ganz über-
ſah, erhielt ſein Freund Maaſſen, der Begründer des Zollgeſetzes, die
Leitung des Finanzweſens. Die Wahl des Königs konnte keinen würdigeren
Mann treffen. Maaſſen überragte den Verſtorbenen durch umfaſſende
Sachkenntniß; klug, gerecht, wohlwollend verſtand er bei den Unterhand-
lungen ſich das Vertrauen der argwöhniſchen kleinen Kronen ſtets zu er-
halten. Freilich fehlten ihm der kühne Wagemuth und der weite ſtaats-
männiſche Blick des Vorgängers; er ließ die Dinge gern an ſich kommen
und hegte nicht wie jener den Ehrgeiz auf die Leitung der geſammten
preußiſchen Politik einzuwirken, obgleich er als der bedeutendſte Kopf des
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. [350]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/364>, abgerufen am 21.11.2024.
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