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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
gegen die anglikanische Kirche zugleich die Machtstellung des parlamenta-
rischen Adels und öffnete die Bresche für den Einzug eines demokratischen
Zeitalters. Laut und lauter erklang sofort der Ruf nach Reform des
Parlaments. Noch einmal, aber in völlig veränderter Gestalt zeigte sich
der für Englands Geschichte so folgenreiche landschaftliche Gegensatz des
Südostens und des Nordwestens. Wie oft hatten in früheren Jahrhun-
derten die Mächte der Bewegung in den Ebenen des Südostens ihr Lager
aufgeschlagen; seitdem war das Bergland des Nordwestens längst aus seiner
Abgeschiedenheit herausgetreten, hier lagen die Bergwerke und die Fabrik-
städte des neuen Englands, hier begannen sich die alten socialen Macht-
verhältnisse gänzlich zu verschieben, da das Landvolk unaufhaltsam in die
Städte strömte, und gebieterisch forderten die mächtig aufblühenden großen
Gewerbsplätze ihren Antheil am Parlamente, während die verfaulten Wahl-
flecken des Südostens mehr und mehr verödeten. Als im Sommer 1830
die Neuwahlen begannen, hatte soeben Wilhelm IV. den Thron bestiegen,
der Matrosenkönig, wie das Volk ihn nannte, ein wohlwollender, derb
gemüthlicher Herr, beschränkten Geistes, aber ehrlich und der Zeit nicht
so ganz entfremdet wie vordem sein Bruder Georg IV.

Mitten hinein in die Stürme des Wahlkampfs fielen nun zündend
die Nachrichten aus Paris. Der alte Nationalhaß war mit einem male
verschwunden, Zeitungen und Volksredner wetteiferten im Lobe der großen
Nation, mancher Heißsporn schwenkte seinen Hut mit den drei Farben,
in Schaaren eilten die Besitzenden nach Paris, um sich dort mit den
Nationalgardisten zu verbrüdern und den wahrheitsgetreuen Berichten
dieser Bürgerhelden über die Wunder der großen Woche andächtig zu
lauschen. Die weltbürgerlichen Lehren des festländischen Radicalismus,
die zur Zeit der ersten Revolution nur in den vereinzelten demokratischen
Clubs der Hauptstadt Anklang gefunden hatten, drangen nun zuerst bis
in die Massen des Volks; in den Arbeiterversammlungen ward der Bruder-
bund der befreiten Völker besungen: "Seht, frei ist Frankreich schon!
Italiens Helden droh'n. Deutschland wird mit uns gehn, Polen soll
auferstehn!" Radicale und Liberale fanden sich zusammen im Kampfe
gegen die Aristokratie. Während Cobbet durch die fanatischen Aufsätze
seines "Registers" die Massen aufwiegelte und selbst in den Vereinen
wohlhabender Londoner schon radicale Wünsche, sogar die Forderung des
Zwangsmandats für die Abgeordneten, laut wurden, vertraten Brougham
und Jeffrey in der whiggistischen Edinburgh Review behutsamer die An-
sprüche der erstarkten Mittelklassen.

Unterdessen erfanden die gelehrten Radicalen der Westminster Review
die wissenschaftlichen Formeln für die Weltanschauung des herannahenden
demokratischen Zeitalters. Es waren die Schüler Jeremias Bentham's,
der jetzt noch am späten Abend eines arbeitsreichen Lebens seine Saaten
aufgehen sah. Der alte Einsiedler stand noch immer fest auf dem Boden

IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
gegen die anglikaniſche Kirche zugleich die Machtſtellung des parlamenta-
riſchen Adels und öffnete die Breſche für den Einzug eines demokratiſchen
Zeitalters. Laut und lauter erklang ſofort der Ruf nach Reform des
Parlaments. Noch einmal, aber in völlig veränderter Geſtalt zeigte ſich
der für Englands Geſchichte ſo folgenreiche landſchaftliche Gegenſatz des
Südoſtens und des Nordweſtens. Wie oft hatten in früheren Jahrhun-
derten die Mächte der Bewegung in den Ebenen des Südoſtens ihr Lager
aufgeſchlagen; ſeitdem war das Bergland des Nordweſtens längſt aus ſeiner
Abgeſchiedenheit herausgetreten, hier lagen die Bergwerke und die Fabrik-
ſtädte des neuen Englands, hier begannen ſich die alten ſocialen Macht-
verhältniſſe gänzlich zu verſchieben, da das Landvolk unaufhaltſam in die
Städte ſtrömte, und gebieteriſch forderten die mächtig aufblühenden großen
Gewerbsplätze ihren Antheil am Parlamente, während die verfaulten Wahl-
flecken des Südoſtens mehr und mehr verödeten. Als im Sommer 1830
die Neuwahlen begannen, hatte ſoeben Wilhelm IV. den Thron beſtiegen,
der Matroſenkönig, wie das Volk ihn nannte, ein wohlwollender, derb
gemüthlicher Herr, beſchränkten Geiſtes, aber ehrlich und der Zeit nicht
ſo ganz entfremdet wie vordem ſein Bruder Georg IV.

Mitten hinein in die Stürme des Wahlkampfs fielen nun zündend
die Nachrichten aus Paris. Der alte Nationalhaß war mit einem male
verſchwunden, Zeitungen und Volksredner wetteiferten im Lobe der großen
Nation, mancher Heißſporn ſchwenkte ſeinen Hut mit den drei Farben,
in Schaaren eilten die Beſitzenden nach Paris, um ſich dort mit den
Nationalgardiſten zu verbrüdern und den wahrheitsgetreuen Berichten
dieſer Bürgerhelden über die Wunder der großen Woche andächtig zu
lauſchen. Die weltbürgerlichen Lehren des feſtländiſchen Radicalismus,
die zur Zeit der erſten Revolution nur in den vereinzelten demokratiſchen
Clubs der Hauptſtadt Anklang gefunden hatten, drangen nun zuerſt bis
in die Maſſen des Volks; in den Arbeiterverſammlungen ward der Bruder-
bund der befreiten Völker beſungen: „Seht, frei iſt Frankreich ſchon!
Italiens Helden droh’n. Deutſchland wird mit uns gehn, Polen ſoll
auferſtehn!“ Radicale und Liberale fanden ſich zuſammen im Kampfe
gegen die Ariſtokratie. Während Cobbet durch die fanatiſchen Aufſätze
ſeines „Regiſters“ die Maſſen aufwiegelte und ſelbſt in den Vereinen
wohlhabender Londoner ſchon radicale Wünſche, ſogar die Forderung des
Zwangsmandats für die Abgeordneten, laut wurden, vertraten Brougham
und Jeffrey in der whiggiſtiſchen Edinburgh Review behutſamer die An-
ſprüche der erſtarkten Mittelklaſſen.

Unterdeſſen erfanden die gelehrten Radicalen der Weſtminſter Review
die wiſſenſchaftlichen Formeln für die Weltanſchauung des herannahenden
demokratiſchen Zeitalters. Es waren die Schüler Jeremias Bentham’s,
der jetzt noch am ſpäten Abend eines arbeitsreichen Lebens ſeine Saaten
aufgehen ſah. Der alte Einſiedler ſtand noch immer feſt auf dem Boden

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[22/0036] IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. gegen die anglikaniſche Kirche zugleich die Machtſtellung des parlamenta- riſchen Adels und öffnete die Breſche für den Einzug eines demokratiſchen Zeitalters. Laut und lauter erklang ſofort der Ruf nach Reform des Parlaments. Noch einmal, aber in völlig veränderter Geſtalt zeigte ſich der für Englands Geſchichte ſo folgenreiche landſchaftliche Gegenſatz des Südoſtens und des Nordweſtens. Wie oft hatten in früheren Jahrhun- derten die Mächte der Bewegung in den Ebenen des Südoſtens ihr Lager aufgeſchlagen; ſeitdem war das Bergland des Nordweſtens längſt aus ſeiner Abgeſchiedenheit herausgetreten, hier lagen die Bergwerke und die Fabrik- ſtädte des neuen Englands, hier begannen ſich die alten ſocialen Macht- verhältniſſe gänzlich zu verſchieben, da das Landvolk unaufhaltſam in die Städte ſtrömte, und gebieteriſch forderten die mächtig aufblühenden großen Gewerbsplätze ihren Antheil am Parlamente, während die verfaulten Wahl- flecken des Südoſtens mehr und mehr verödeten. Als im Sommer 1830 die Neuwahlen begannen, hatte ſoeben Wilhelm IV. den Thron beſtiegen, der Matroſenkönig, wie das Volk ihn nannte, ein wohlwollender, derb gemüthlicher Herr, beſchränkten Geiſtes, aber ehrlich und der Zeit nicht ſo ganz entfremdet wie vordem ſein Bruder Georg IV. Mitten hinein in die Stürme des Wahlkampfs fielen nun zündend die Nachrichten aus Paris. Der alte Nationalhaß war mit einem male verſchwunden, Zeitungen und Volksredner wetteiferten im Lobe der großen Nation, mancher Heißſporn ſchwenkte ſeinen Hut mit den drei Farben, in Schaaren eilten die Beſitzenden nach Paris, um ſich dort mit den Nationalgardiſten zu verbrüdern und den wahrheitsgetreuen Berichten dieſer Bürgerhelden über die Wunder der großen Woche andächtig zu lauſchen. Die weltbürgerlichen Lehren des feſtländiſchen Radicalismus, die zur Zeit der erſten Revolution nur in den vereinzelten demokratiſchen Clubs der Hauptſtadt Anklang gefunden hatten, drangen nun zuerſt bis in die Maſſen des Volks; in den Arbeiterverſammlungen ward der Bruder- bund der befreiten Völker beſungen: „Seht, frei iſt Frankreich ſchon! Italiens Helden droh’n. Deutſchland wird mit uns gehn, Polen ſoll auferſtehn!“ Radicale und Liberale fanden ſich zuſammen im Kampfe gegen die Ariſtokratie. Während Cobbet durch die fanatiſchen Aufſätze ſeines „Regiſters“ die Maſſen aufwiegelte und ſelbſt in den Vereinen wohlhabender Londoner ſchon radicale Wünſche, ſogar die Forderung des Zwangsmandats für die Abgeordneten, laut wurden, vertraten Brougham und Jeffrey in der whiggiſtiſchen Edinburgh Review behutſamer die An- ſprüche der erſtarkten Mittelklaſſen. Unterdeſſen erfanden die gelehrten Radicalen der Weſtminſter Review die wiſſenſchaftlichen Formeln für die Weltanſchauung des herannahenden demokratiſchen Zeitalters. Es waren die Schüler Jeremias Bentham’s, der jetzt noch am ſpäten Abend eines arbeitsreichen Lebens ſeine Saaten aufgehen ſah. Der alte Einſiedler ſtand noch immer feſt auf dem Boden

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/36>, abgerufen am 22.11.2024.