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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 5. Wiederbefestigung der alten Gewalten.

Höher als das Alles galt dem Czaren das Vorgehen der Ostmächte
gegen das Bürgerkönigthum, und auch diesen Herzenswunsch wollte ihm
Metternich gern erfüllen. Kaiser Franz zeigte sich über das Unwesen der
Pariser Propaganda um so mehr aufgebracht, da Ludwig Philipp eben
jetzt sich erdreistet hatte, die Hilfe Metternich's gegen die zahlreichen Legi-
timisten anzurufen, die sich in Oesterreich in der Nähe des vertriebenen
Königs Karl aufhielten. Daß die Unzufriedenen aller Länder auf die
stille Unterstützung der Westmächte rechnen konnten, war ein öffentliches
Geheimniß; zahlreiche Demagogen bereisten das Festland unter falschen
Namen, mit englischen Pässen; mehrere der Diplomaten aus Palmerston's
Schule, vornehmlich der hitzköpfige Lord Minto, versammelten an den kleinen
Höfen die Oppositionsparteien um sich. Wenn die Ostmächte solchen Frie-
densstörungen, zunächst durch eine gemeinsame Beschwerde in Paris, offen
entgegentreten wollten, so thaten sie nur was ihnen zustand, und Frank-
reich selbst konnte ihre Berechtigung nicht bestreiten. Aber wie ließ sich
mit dieser Beschwerde die schon in Schwedt besprochene Erklärung gegen
die Nicht-Einmischungslehre des Julikönigthums angemessen verbinden?
Nikolaus vergaß oder wollte vergessen, daß er seinem Schwiegervater von
einem förmlichen Vertrage kein Wort gesagt hatte. Hier unter den Oester-
reichern fühlte er sich freier und verlangte ein feierliches Manifest, das,
ähnlich wie einst das Troppauer Rundschreiben, der Welt die Heilslehre
des Einmischungsrechts verkünden sollte. Was kümmerte es ihn in seiner
blinden Leidenschaft, daß die Welt sich seit dem Troppauer Congreß von
Grund aus verwandelt hatte, und man nicht mehr dem schwachen Neapel,
sondern der fanatischen Kriegsbegierde der Radicalen Frankreichs gegen-
überstand? Metternich aber ging auf den thörichten Vorschlag ein; die
Furcht vor der italienischen Revolution und der glühende Wunsch, den
Czaren ganz für sich zu gewinnen, ließen ihn der gewohnten Vorsicht völlig
vergessen. "Der Zustand Europas ist unerträglich, man muß ein Ende
machen", so sagte er zu den Russen, obgleich er einen Krieg im Ernst
nicht wünschte.

Nun ward ein förmlicher Vertrag verabredet: die drei Mächte be-
kennen sich ausdrücklich zu dem Rechtsgrundsatze der Einmischung und
sind "bereit, jederzeit ihre vereinte Macht aufzubieten um die rechtmäßige
Intervention zu unterstützen". Diesen Vertrag wollte man sodann ge-
meinsam dem französischen Hofe vorlegen und zugleich in einer kurzen,
herrischen Erklärung den Wunsch aussprechen, "daß alle anderen Regie-
rungen fortfahren würden diese Grundsätze zur Richtschnur ihres Han-
delns zu nehmen". Unmittelbaren Vortheil für sein Rußland konnte
Nikolaus von einem solchen Abkommen nicht erwarten; er wußte, daß die
Türkei damals noch nicht zu dem Gebiete des europäischen Völkerrechts
gerechnet wurde, und seine Verbündeten mithin auch nicht beabsichtigten,
ihre Einmischungslehre etwa zu Rußlands Gunsten im Oriente anzuwen-

IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.

Höher als das Alles galt dem Czaren das Vorgehen der Oſtmächte
gegen das Bürgerkönigthum, und auch dieſen Herzenswunſch wollte ihm
Metternich gern erfüllen. Kaiſer Franz zeigte ſich über das Unweſen der
Pariſer Propaganda um ſo mehr aufgebracht, da Ludwig Philipp eben
jetzt ſich erdreiſtet hatte, die Hilfe Metternich’s gegen die zahlreichen Legi-
timiſten anzurufen, die ſich in Oeſterreich in der Nähe des vertriebenen
Königs Karl aufhielten. Daß die Unzufriedenen aller Länder auf die
ſtille Unterſtützung der Weſtmächte rechnen konnten, war ein öffentliches
Geheimniß; zahlreiche Demagogen bereiſten das Feſtland unter falſchen
Namen, mit engliſchen Päſſen; mehrere der Diplomaten aus Palmerſton’s
Schule, vornehmlich der hitzköpfige Lord Minto, verſammelten an den kleinen
Höfen die Oppoſitionsparteien um ſich. Wenn die Oſtmächte ſolchen Frie-
densſtörungen, zunächſt durch eine gemeinſame Beſchwerde in Paris, offen
entgegentreten wollten, ſo thaten ſie nur was ihnen zuſtand, und Frank-
reich ſelbſt konnte ihre Berechtigung nicht beſtreiten. Aber wie ließ ſich
mit dieſer Beſchwerde die ſchon in Schwedt beſprochene Erklärung gegen
die Nicht-Einmiſchungslehre des Julikönigthums angemeſſen verbinden?
Nikolaus vergaß oder wollte vergeſſen, daß er ſeinem Schwiegervater von
einem förmlichen Vertrage kein Wort geſagt hatte. Hier unter den Oeſter-
reichern fühlte er ſich freier und verlangte ein feierliches Manifeſt, das,
ähnlich wie einſt das Troppauer Rundſchreiben, der Welt die Heilslehre
des Einmiſchungsrechts verkünden ſollte. Was kümmerte es ihn in ſeiner
blinden Leidenſchaft, daß die Welt ſich ſeit dem Troppauer Congreß von
Grund aus verwandelt hatte, und man nicht mehr dem ſchwachen Neapel,
ſondern der fanatiſchen Kriegsbegierde der Radicalen Frankreichs gegen-
überſtand? Metternich aber ging auf den thörichten Vorſchlag ein; die
Furcht vor der italieniſchen Revolution und der glühende Wunſch, den
Czaren ganz für ſich zu gewinnen, ließen ihn der gewohnten Vorſicht völlig
vergeſſen. „Der Zuſtand Europas iſt unerträglich, man muß ein Ende
machen“, ſo ſagte er zu den Ruſſen, obgleich er einen Krieg im Ernſt
nicht wünſchte.

Nun ward ein förmlicher Vertrag verabredet: die drei Mächte be-
kennen ſich ausdrücklich zu dem Rechtsgrundſatze der Einmiſchung und
ſind „bereit, jederzeit ihre vereinte Macht aufzubieten um die rechtmäßige
Intervention zu unterſtützen“. Dieſen Vertrag wollte man ſodann ge-
meinſam dem franzöſiſchen Hofe vorlegen und zugleich in einer kurzen,
herriſchen Erklärung den Wunſch ausſprechen, „daß alle anderen Regie-
rungen fortfahren würden dieſe Grundſätze zur Richtſchnur ihres Han-
delns zu nehmen“. Unmittelbaren Vortheil für ſein Rußland konnte
Nikolaus von einem ſolchen Abkommen nicht erwarten; er wußte, daß die
Türkei damals noch nicht zu dem Gebiete des europäiſchen Völkerrechts
gerechnet wurde, und ſeine Verbündeten mithin auch nicht beabſichtigten,
ihre Einmiſchungslehre etwa zu Rußlands Gunſten im Oriente anzuwen-

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[332/0346] IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten. Höher als das Alles galt dem Czaren das Vorgehen der Oſtmächte gegen das Bürgerkönigthum, und auch dieſen Herzenswunſch wollte ihm Metternich gern erfüllen. Kaiſer Franz zeigte ſich über das Unweſen der Pariſer Propaganda um ſo mehr aufgebracht, da Ludwig Philipp eben jetzt ſich erdreiſtet hatte, die Hilfe Metternich’s gegen die zahlreichen Legi- timiſten anzurufen, die ſich in Oeſterreich in der Nähe des vertriebenen Königs Karl aufhielten. Daß die Unzufriedenen aller Länder auf die ſtille Unterſtützung der Weſtmächte rechnen konnten, war ein öffentliches Geheimniß; zahlreiche Demagogen bereiſten das Feſtland unter falſchen Namen, mit engliſchen Päſſen; mehrere der Diplomaten aus Palmerſton’s Schule, vornehmlich der hitzköpfige Lord Minto, verſammelten an den kleinen Höfen die Oppoſitionsparteien um ſich. Wenn die Oſtmächte ſolchen Frie- densſtörungen, zunächſt durch eine gemeinſame Beſchwerde in Paris, offen entgegentreten wollten, ſo thaten ſie nur was ihnen zuſtand, und Frank- reich ſelbſt konnte ihre Berechtigung nicht beſtreiten. Aber wie ließ ſich mit dieſer Beſchwerde die ſchon in Schwedt beſprochene Erklärung gegen die Nicht-Einmiſchungslehre des Julikönigthums angemeſſen verbinden? Nikolaus vergaß oder wollte vergeſſen, daß er ſeinem Schwiegervater von einem förmlichen Vertrage kein Wort geſagt hatte. Hier unter den Oeſter- reichern fühlte er ſich freier und verlangte ein feierliches Manifeſt, das, ähnlich wie einſt das Troppauer Rundſchreiben, der Welt die Heilslehre des Einmiſchungsrechts verkünden ſollte. Was kümmerte es ihn in ſeiner blinden Leidenſchaft, daß die Welt ſich ſeit dem Troppauer Congreß von Grund aus verwandelt hatte, und man nicht mehr dem ſchwachen Neapel, ſondern der fanatiſchen Kriegsbegierde der Radicalen Frankreichs gegen- überſtand? Metternich aber ging auf den thörichten Vorſchlag ein; die Furcht vor der italieniſchen Revolution und der glühende Wunſch, den Czaren ganz für ſich zu gewinnen, ließen ihn der gewohnten Vorſicht völlig vergeſſen. „Der Zuſtand Europas iſt unerträglich, man muß ein Ende machen“, ſo ſagte er zu den Ruſſen, obgleich er einen Krieg im Ernſt nicht wünſchte. Nun ward ein förmlicher Vertrag verabredet: die drei Mächte be- kennen ſich ausdrücklich zu dem Rechtsgrundſatze der Einmiſchung und ſind „bereit, jederzeit ihre vereinte Macht aufzubieten um die rechtmäßige Intervention zu unterſtützen“. Dieſen Vertrag wollte man ſodann ge- meinſam dem franzöſiſchen Hofe vorlegen und zugleich in einer kurzen, herriſchen Erklärung den Wunſch ausſprechen, „daß alle anderen Regie- rungen fortfahren würden dieſe Grundſätze zur Richtſchnur ihres Han- delns zu nehmen“. Unmittelbaren Vortheil für ſein Rußland konnte Nikolaus von einem ſolchen Abkommen nicht erwarten; er wußte, daß die Türkei damals noch nicht zu dem Gebiete des europäiſchen Völkerrechts gerechnet wurde, und ſeine Verbündeten mithin auch nicht beabſichtigten, ihre Einmiſchungslehre etwa zu Rußlands Gunſten im Oriente anzuwen-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/346>, abgerufen am 24.11.2024.