selbst in der orientalischen Frage, welche die beiden Kaisermächte schon so oft entzweit hatte, dem Petersburger Cabinet eine ganz unerwartete Unter- würfigkeit erwies.
So hoffärtig und leidenschaftlich die russische Politik im Westen auf- trat, ebenso klug und überlegen zeigte sie sich im Orient, wo sie allein den Boden genau kannte. Seit dem Frieden von Adrianopel spielte der Czar die Rolle des hochherzigen Beschützers der Türkei. Er erleichterte dem Sultan die Ausführung des Friedensvertrages in jeder Weise, erließ ihm einen großen Theil der Kriegskosten, suchte die Pforte durch seine Geschöpfe mittelbar zu beherrschen, und seine Kronräthe gelangten nach reiflicher Berathung sogar zu dem förmlichen Beschlusse, daß die Erhaltung des osmanischen Reiches vorläufig im Interesse Rußlands geboten sei. Als freilich das Londoner Cabinet den Wunsch aussprach, Rußland möge die Unverletzlichkeit der Türkei durch einen Vertrag mit England sicher- stellen, da wurde das harmlose Ansinnen in Petersburg entschieden zurück- gewiesen.
Seit dem Jahre 1831 begannen neue Gefahren über das Türkenreich heraufzuziehen. Mehemed Ali, der gewaltige Vicekönig von Aegypten, der Bekämpfer der griechischen Giaurs heischte von dem Großherrn die längst versprochene Belehnung mit den syrischen Paschaliks, er wagte den Auf- ruhr, und in unaufhaltsamem Siegeszuge führte sein Sohn Ibrahim das Heer der Aegypter durch Syrien bis in den Nordwesten Kleinasiens. Zu Anfang 1833 standen die Sieger nur noch wenige Märsche vom Bos- porus entfernt, der Hauptstadt fast ebenso nahe wie Diebitsch vier Jahre zuvor, und wieder wie damals meinte die erschrockene europäische Diplo- matie schon das Ende der Osmanenherrschaft vor Augen zu sehen. In Wahrheit konnte diese furchtbare Empörung dem wankenden türkischen Reiche vielleicht die Rettung bringen, wenn anders Rettung noch möglich war. Mehemed Ali war nach orientalischen Begriffen kein Hochverräther, und die brünstige Verehrung, welche er mitten im Kriege dem Sultan bezeigte, doch nicht ganz erheuchelt; an die Entthronung des Hauses Os- mans konnte und durfte er nicht denken. Wenn es dem kühnsten und schlauesten Staatsmanne der orientalischen Welt gelang, seinem Hause das erbliche Großwesirat neben dem Kalifengeschlechte zu erwerben, dann blieb immerhin denkbar, daß der türkische Staat sich von innen heraus noch einmal verjüngte wie einst das Frankenreich unter der Herrschaft der karolingischen Hausmeier. Der Befreier der heiligen Stätten von Mekka durfte auf die begeisterte Hingebung aller gläubigen Moslemin zählen, und sein napoleonisches Regiment in Aegypten zeigte, wie meisterhaft er verstand, die Herrscherkünste Europas dem Leben des Morgenlandes an- zupassen.
Aber jene Zerfahrenheit der öffentlichen Meinung Europas, welche dem osmanischen Reiche so oft schon das Dasein gefristet hatte, gereichte
Mehemed Ali’s Erhebung.
ſelbſt in der orientaliſchen Frage, welche die beiden Kaiſermächte ſchon ſo oft entzweit hatte, dem Petersburger Cabinet eine ganz unerwartete Unter- würfigkeit erwies.
So hoffärtig und leidenſchaftlich die ruſſiſche Politik im Weſten auf- trat, ebenſo klug und überlegen zeigte ſie ſich im Orient, wo ſie allein den Boden genau kannte. Seit dem Frieden von Adrianopel ſpielte der Czar die Rolle des hochherzigen Beſchützers der Türkei. Er erleichterte dem Sultan die Ausführung des Friedensvertrages in jeder Weiſe, erließ ihm einen großen Theil der Kriegskoſten, ſuchte die Pforte durch ſeine Geſchöpfe mittelbar zu beherrſchen, und ſeine Kronräthe gelangten nach reiflicher Berathung ſogar zu dem förmlichen Beſchluſſe, daß die Erhaltung des osmaniſchen Reiches vorläufig im Intereſſe Rußlands geboten ſei. Als freilich das Londoner Cabinet den Wunſch ausſprach, Rußland möge die Unverletzlichkeit der Türkei durch einen Vertrag mit England ſicher- ſtellen, da wurde das harmloſe Anſinnen in Petersburg entſchieden zurück- gewieſen.
Seit dem Jahre 1831 begannen neue Gefahren über das Türkenreich heraufzuziehen. Mehemed Ali, der gewaltige Vicekönig von Aegypten, der Bekämpfer der griechiſchen Giaurs heiſchte von dem Großherrn die längſt verſprochene Belehnung mit den ſyriſchen Paſchaliks, er wagte den Auf- ruhr, und in unaufhaltſamem Siegeszuge führte ſein Sohn Ibrahim das Heer der Aegypter durch Syrien bis in den Nordweſten Kleinaſiens. Zu Anfang 1833 ſtanden die Sieger nur noch wenige Märſche vom Bos- porus entfernt, der Hauptſtadt faſt ebenſo nahe wie Diebitſch vier Jahre zuvor, und wieder wie damals meinte die erſchrockene europäiſche Diplo- matie ſchon das Ende der Osmanenherrſchaft vor Augen zu ſehen. In Wahrheit konnte dieſe furchtbare Empörung dem wankenden türkiſchen Reiche vielleicht die Rettung bringen, wenn anders Rettung noch möglich war. Mehemed Ali war nach orientaliſchen Begriffen kein Hochverräther, und die brünſtige Verehrung, welche er mitten im Kriege dem Sultan bezeigte, doch nicht ganz erheuchelt; an die Entthronung des Hauſes Os- mans konnte und durfte er nicht denken. Wenn es dem kühnſten und ſchlaueſten Staatsmanne der orientaliſchen Welt gelang, ſeinem Hauſe das erbliche Großweſirat neben dem Kalifengeſchlechte zu erwerben, dann blieb immerhin denkbar, daß der türkiſche Staat ſich von innen heraus noch einmal verjüngte wie einſt das Frankenreich unter der Herrſchaft der karolingiſchen Hausmeier. Der Befreier der heiligen Stätten von Mekka durfte auf die begeiſterte Hingebung aller gläubigen Moslemin zählen, und ſein napoleoniſches Regiment in Aegypten zeigte, wie meiſterhaft er verſtand, die Herrſcherkünſte Europas dem Leben des Morgenlandes an- zupaſſen.
Aber jene Zerfahrenheit der öffentlichen Meinung Europas, welche dem osmaniſchen Reiche ſo oft ſchon das Daſein gefriſtet hatte, gereichte
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[325/0339]
Mehemed Ali’s Erhebung.
ſelbſt in der orientaliſchen Frage, welche die beiden Kaiſermächte ſchon ſo
oft entzweit hatte, dem Petersburger Cabinet eine ganz unerwartete Unter-
würfigkeit erwies.
So hoffärtig und leidenſchaftlich die ruſſiſche Politik im Weſten auf-
trat, ebenſo klug und überlegen zeigte ſie ſich im Orient, wo ſie allein
den Boden genau kannte. Seit dem Frieden von Adrianopel ſpielte der
Czar die Rolle des hochherzigen Beſchützers der Türkei. Er erleichterte
dem Sultan die Ausführung des Friedensvertrages in jeder Weiſe, erließ
ihm einen großen Theil der Kriegskoſten, ſuchte die Pforte durch ſeine
Geſchöpfe mittelbar zu beherrſchen, und ſeine Kronräthe gelangten nach
reiflicher Berathung ſogar zu dem förmlichen Beſchluſſe, daß die Erhaltung
des osmaniſchen Reiches vorläufig im Intereſſe Rußlands geboten ſei.
Als freilich das Londoner Cabinet den Wunſch ausſprach, Rußland möge
die Unverletzlichkeit der Türkei durch einen Vertrag mit England ſicher-
ſtellen, da wurde das harmloſe Anſinnen in Petersburg entſchieden zurück-
gewieſen.
Seit dem Jahre 1831 begannen neue Gefahren über das Türkenreich
heraufzuziehen. Mehemed Ali, der gewaltige Vicekönig von Aegypten, der
Bekämpfer der griechiſchen Giaurs heiſchte von dem Großherrn die längſt
verſprochene Belehnung mit den ſyriſchen Paſchaliks, er wagte den Auf-
ruhr, und in unaufhaltſamem Siegeszuge führte ſein Sohn Ibrahim das
Heer der Aegypter durch Syrien bis in den Nordweſten Kleinaſiens. Zu
Anfang 1833 ſtanden die Sieger nur noch wenige Märſche vom Bos-
porus entfernt, der Hauptſtadt faſt ebenſo nahe wie Diebitſch vier Jahre
zuvor, und wieder wie damals meinte die erſchrockene europäiſche Diplo-
matie ſchon das Ende der Osmanenherrſchaft vor Augen zu ſehen. In
Wahrheit konnte dieſe furchtbare Empörung dem wankenden türkiſchen
Reiche vielleicht die Rettung bringen, wenn anders Rettung noch möglich
war. Mehemed Ali war nach orientaliſchen Begriffen kein Hochverräther,
und die brünſtige Verehrung, welche er mitten im Kriege dem Sultan
bezeigte, doch nicht ganz erheuchelt; an die Entthronung des Hauſes Os-
mans konnte und durfte er nicht denken. Wenn es dem kühnſten und
ſchlaueſten Staatsmanne der orientaliſchen Welt gelang, ſeinem Hauſe
das erbliche Großweſirat neben dem Kalifengeſchlechte zu erwerben, dann
blieb immerhin denkbar, daß der türkiſche Staat ſich von innen heraus
noch einmal verjüngte wie einſt das Frankenreich unter der Herrſchaft der
karolingiſchen Hausmeier. Der Befreier der heiligen Stätten von Mekka
durfte auf die begeiſterte Hingebung aller gläubigen Moslemin zählen,
und ſein napoleoniſches Regiment in Aegypten zeigte, wie meiſterhaft er
verſtand, die Herrſcherkünſte Europas dem Leben des Morgenlandes an-
zupaſſen.
Aber jene Zerfahrenheit der öffentlichen Meinung Europas, welche
dem osmaniſchen Reiche ſo oft ſchon das Daſein gefriſtet hatte, gereichte
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/339>, abgerufen am 24.11.2024.
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