längst gewohnt, je nach Umständen bald sich auf die Wiener Verträge zu be- rufen bald deren Rechtsverbindlichkeit zu bestreiten. Im Tone des besorgten Freundes bat der Lord sodann die deutschen Regierungen, "dem unbedachten Eifer des Bundestags einen Zügel anzulegen und die Annahme von Maß- regeln zu verhindern, welche nur allzu wahrscheinlich zu Erschütterungen und zum Kriege führen müßten." Zugleich warnte Lord Erskine in München dringend vor den Sechs Artikeln, namentlich vor der Bundescommission, welche die Landtage überwachen sollte.*) Diese Heuchelei mußte die deutschen Höfe um so widerwärtiger berühren, da der König von England selbst als König von Hannover bereitwillig bei den letzten Bundesbeschlüssen mit- gewirkt hatte. Der ehrliche Welfe bekundete auch seine Unzufriedenheit mit Palmerston's Haltung so deutlich wie es einem parlamentarischen Schattenkönige möglich war; er sendete eben jetzt den Guelphenorden an Münch und Nagler, ausdrücklich zum Dank für ihre Verdienste um die Sechs Artikel.
Fast noch verdächtiger erschien die Haltung der französischen Diplo- maten, die überall mit den Engländern Hand in Hand gingen. Mortier in München, ein prahlsüchtiger, leichtfertiger Chauvinist, und der junge Reinhard in Dresden wiederholten den alten Rheinbundsgenossen beständig, daß Frankreich bereit sei, sie wider die Tyrannei ihrer deutschen Vor- münder zu schützen; Mortier unterstand sich sogar gegen die Befestigung von Germersheim Einspruch zu erheben. Wenn darauf Werther in Paris oder Jordan in Dresden sich beschwerten, dann hieß es stets, die jungen Diplomaten hätten ihre Weisungen überschritten.**) Gleichwohl führte Sebastiani selbst in seinen vertraulichen Unterredungen mit dem bairischen Gesandten ganz die nämliche Sprache wie Mortier, und sein Amtsblatt brachte aus der Feder des alten Bonapartisten Bignon einen Aufsatz, der die Sechs Artikel für nichtig erklärte, alle Leidenschaften der rheinbün- dischen Zeiten wieder aufzuwiegeln versuchte. Und dazu das räthselhafte Treiben der zahlreichen französischen Agenten am Rhein, die nur zuweilen einmal auf Umwegen den deutschen Höfen eine Warnung zukommen ließen. Sollten diese Leute die deutschen Demagogen überwachen oder ihnen helfen oder auch beides zugleich thun? Niemand wußte es. Nach solchen Erfah- rungen hielten beide deutsche Großmächte für geboten, die englische Zu- dringlichkeit gründlich abzufertigen.
Als der Geschäftsträger Abercrombie dem preußischen Minister die Depesche Palmerston's vorlas, da erwiderte Ancillon mit ungewohnter Schärfe: er wolle ein- für allemal das absichtliche oder unabsichtliche Vorur- theil zerstören, als ob die zwei Großmächte Deutschland beherrschten; in Frank-
*) Küster's Berichte, 18. 21. Sept. 1832.
**) Ancillon an Küster, 11. Juni, 25. Aug.; Jordan's Bericht, 8. Aug., 5. Sept. 1832 u. s. w.
IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
längſt gewohnt, je nach Umſtänden bald ſich auf die Wiener Verträge zu be- rufen bald deren Rechtsverbindlichkeit zu beſtreiten. Im Tone des beſorgten Freundes bat der Lord ſodann die deutſchen Regierungen, „dem unbedachten Eifer des Bundestags einen Zügel anzulegen und die Annahme von Maß- regeln zu verhindern, welche nur allzu wahrſcheinlich zu Erſchütterungen und zum Kriege führen müßten.“ Zugleich warnte Lord Erskine in München dringend vor den Sechs Artikeln, namentlich vor der Bundescommiſſion, welche die Landtage überwachen ſollte.*) Dieſe Heuchelei mußte die deutſchen Höfe um ſo widerwärtiger berühren, da der König von England ſelbſt als König von Hannover bereitwillig bei den letzten Bundesbeſchlüſſen mit- gewirkt hatte. Der ehrliche Welfe bekundete auch ſeine Unzufriedenheit mit Palmerſton’s Haltung ſo deutlich wie es einem parlamentariſchen Schattenkönige möglich war; er ſendete eben jetzt den Guelphenorden an Münch und Nagler, ausdrücklich zum Dank für ihre Verdienſte um die Sechs Artikel.
Faſt noch verdächtiger erſchien die Haltung der franzöſiſchen Diplo- maten, die überall mit den Engländern Hand in Hand gingen. Mortier in München, ein prahlſüchtiger, leichtfertiger Chauviniſt, und der junge Reinhard in Dresden wiederholten den alten Rheinbundsgenoſſen beſtändig, daß Frankreich bereit ſei, ſie wider die Tyrannei ihrer deutſchen Vor- münder zu ſchützen; Mortier unterſtand ſich ſogar gegen die Befeſtigung von Germersheim Einſpruch zu erheben. Wenn darauf Werther in Paris oder Jordan in Dresden ſich beſchwerten, dann hieß es ſtets, die jungen Diplomaten hätten ihre Weiſungen überſchritten.**) Gleichwohl führte Sebaſtiani ſelbſt in ſeinen vertraulichen Unterredungen mit dem bairiſchen Geſandten ganz die nämliche Sprache wie Mortier, und ſein Amtsblatt brachte aus der Feder des alten Bonapartiſten Bignon einen Aufſatz, der die Sechs Artikel für nichtig erklärte, alle Leidenſchaften der rheinbün- diſchen Zeiten wieder aufzuwiegeln verſuchte. Und dazu das räthſelhafte Treiben der zahlreichen franzöſiſchen Agenten am Rhein, die nur zuweilen einmal auf Umwegen den deutſchen Höfen eine Warnung zukommen ließen. Sollten dieſe Leute die deutſchen Demagogen überwachen oder ihnen helfen oder auch beides zugleich thun? Niemand wußte es. Nach ſolchen Erfah- rungen hielten beide deutſche Großmächte für geboten, die engliſche Zu- dringlichkeit gründlich abzufertigen.
Als der Geſchäftsträger Abercrombie dem preußiſchen Miniſter die Depeſche Palmerſton’s vorlas, da erwiderte Ancillon mit ungewohnter Schärfe: er wolle ein- für allemal das abſichtliche oder unabſichtliche Vorur- theil zerſtören, als ob die zwei Großmächte Deutſchland beherrſchten; in Frank-
*) Küſter’s Berichte, 18. 21. Sept. 1832.
**) Ancillon an Küſter, 11. Juni, 25. Aug.; Jordan’s Bericht, 8. Aug., 5. Sept. 1832 u. ſ. w.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0300"n="286"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">IV.</hi> 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.</fw><lb/>
längſt gewohnt, je nach Umſtänden bald ſich auf die Wiener Verträge zu be-<lb/>
rufen bald deren Rechtsverbindlichkeit zu beſtreiten. Im Tone des beſorgten<lb/>
Freundes bat der Lord ſodann die deutſchen Regierungen, „dem unbedachten<lb/>
Eifer des Bundestags einen Zügel anzulegen und die Annahme von Maß-<lb/>
regeln zu verhindern, welche nur allzu wahrſcheinlich zu Erſchütterungen<lb/>
und zum Kriege führen müßten.“ Zugleich warnte Lord Erskine in München<lb/>
dringend vor den Sechs Artikeln, namentlich vor der Bundescommiſſion,<lb/>
welche die Landtage überwachen ſollte.<noteplace="foot"n="*)">Küſter’s Berichte, 18. 21. Sept. 1832.</note> Dieſe Heuchelei mußte die deutſchen<lb/>
Höfe um ſo widerwärtiger berühren, da der König von England ſelbſt als<lb/>
König von Hannover bereitwillig bei den letzten Bundesbeſchlüſſen mit-<lb/>
gewirkt hatte. Der ehrliche Welfe bekundete auch ſeine Unzufriedenheit<lb/>
mit Palmerſton’s Haltung ſo deutlich wie es einem parlamentariſchen<lb/>
Schattenkönige möglich war; er ſendete eben jetzt den Guelphenorden an<lb/>
Münch und Nagler, ausdrücklich zum Dank für ihre Verdienſte um die<lb/>
Sechs Artikel.</p><lb/><p>Faſt noch verdächtiger erſchien die Haltung der franzöſiſchen Diplo-<lb/>
maten, die überall mit den Engländern Hand in Hand gingen. Mortier<lb/>
in München, ein prahlſüchtiger, leichtfertiger Chauviniſt, und der junge<lb/>
Reinhard in Dresden wiederholten den alten Rheinbundsgenoſſen beſtändig,<lb/>
daß Frankreich bereit ſei, ſie wider die Tyrannei ihrer deutſchen Vor-<lb/>
münder zu ſchützen; Mortier unterſtand ſich ſogar gegen die Befeſtigung<lb/>
von Germersheim Einſpruch zu erheben. Wenn darauf Werther in Paris<lb/>
oder Jordan in Dresden ſich beſchwerten, dann hieß es ſtets, die jungen<lb/>
Diplomaten hätten ihre Weiſungen überſchritten.<noteplace="foot"n="**)">Ancillon an Küſter, 11. Juni, 25. Aug.; Jordan’s Bericht, 8. Aug., 5. Sept.<lb/>
1832 u. ſ. w.</note> Gleichwohl führte<lb/>
Sebaſtiani ſelbſt in ſeinen vertraulichen Unterredungen mit dem bairiſchen<lb/>
Geſandten ganz die nämliche Sprache wie Mortier, und ſein Amtsblatt<lb/>
brachte aus der Feder des alten Bonapartiſten Bignon einen Aufſatz, der<lb/>
die Sechs Artikel für nichtig erklärte, alle Leidenſchaften der rheinbün-<lb/>
diſchen Zeiten wieder aufzuwiegeln verſuchte. Und dazu das räthſelhafte<lb/>
Treiben der zahlreichen franzöſiſchen Agenten am Rhein, die nur zuweilen<lb/>
einmal auf Umwegen den deutſchen Höfen eine Warnung zukommen ließen.<lb/>
Sollten dieſe Leute die deutſchen Demagogen überwachen oder ihnen helfen<lb/>
oder auch beides zugleich thun? Niemand wußte es. Nach ſolchen Erfah-<lb/>
rungen hielten beide deutſche Großmächte für geboten, die engliſche Zu-<lb/>
dringlichkeit gründlich abzufertigen.</p><lb/><p>Als der Geſchäftsträger Abercrombie dem preußiſchen Miniſter die<lb/>
Depeſche Palmerſton’s vorlas, da erwiderte Ancillon mit ungewohnter<lb/>
Schärfe: er wolle ein- für allemal das abſichtliche oder unabſichtliche Vorur-<lb/>
theil zerſtören, als ob die zwei Großmächte Deutſchland beherrſchten; in Frank-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[286/0300]
IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
längſt gewohnt, je nach Umſtänden bald ſich auf die Wiener Verträge zu be-
rufen bald deren Rechtsverbindlichkeit zu beſtreiten. Im Tone des beſorgten
Freundes bat der Lord ſodann die deutſchen Regierungen, „dem unbedachten
Eifer des Bundestags einen Zügel anzulegen und die Annahme von Maß-
regeln zu verhindern, welche nur allzu wahrſcheinlich zu Erſchütterungen
und zum Kriege führen müßten.“ Zugleich warnte Lord Erskine in München
dringend vor den Sechs Artikeln, namentlich vor der Bundescommiſſion,
welche die Landtage überwachen ſollte. *) Dieſe Heuchelei mußte die deutſchen
Höfe um ſo widerwärtiger berühren, da der König von England ſelbſt als
König von Hannover bereitwillig bei den letzten Bundesbeſchlüſſen mit-
gewirkt hatte. Der ehrliche Welfe bekundete auch ſeine Unzufriedenheit
mit Palmerſton’s Haltung ſo deutlich wie es einem parlamentariſchen
Schattenkönige möglich war; er ſendete eben jetzt den Guelphenorden an
Münch und Nagler, ausdrücklich zum Dank für ihre Verdienſte um die
Sechs Artikel.
Faſt noch verdächtiger erſchien die Haltung der franzöſiſchen Diplo-
maten, die überall mit den Engländern Hand in Hand gingen. Mortier
in München, ein prahlſüchtiger, leichtfertiger Chauviniſt, und der junge
Reinhard in Dresden wiederholten den alten Rheinbundsgenoſſen beſtändig,
daß Frankreich bereit ſei, ſie wider die Tyrannei ihrer deutſchen Vor-
münder zu ſchützen; Mortier unterſtand ſich ſogar gegen die Befeſtigung
von Germersheim Einſpruch zu erheben. Wenn darauf Werther in Paris
oder Jordan in Dresden ſich beſchwerten, dann hieß es ſtets, die jungen
Diplomaten hätten ihre Weiſungen überſchritten. **) Gleichwohl führte
Sebaſtiani ſelbſt in ſeinen vertraulichen Unterredungen mit dem bairiſchen
Geſandten ganz die nämliche Sprache wie Mortier, und ſein Amtsblatt
brachte aus der Feder des alten Bonapartiſten Bignon einen Aufſatz, der
die Sechs Artikel für nichtig erklärte, alle Leidenſchaften der rheinbün-
diſchen Zeiten wieder aufzuwiegeln verſuchte. Und dazu das räthſelhafte
Treiben der zahlreichen franzöſiſchen Agenten am Rhein, die nur zuweilen
einmal auf Umwegen den deutſchen Höfen eine Warnung zukommen ließen.
Sollten dieſe Leute die deutſchen Demagogen überwachen oder ihnen helfen
oder auch beides zugleich thun? Niemand wußte es. Nach ſolchen Erfah-
rungen hielten beide deutſche Großmächte für geboten, die engliſche Zu-
dringlichkeit gründlich abzufertigen.
Als der Geſchäftsträger Abercrombie dem preußiſchen Miniſter die
Depeſche Palmerſton’s vorlas, da erwiderte Ancillon mit ungewohnter
Schärfe: er wolle ein- für allemal das abſichtliche oder unabſichtliche Vorur-
theil zerſtören, als ob die zwei Großmächte Deutſchland beherrſchten; in Frank-
*) Küſter’s Berichte, 18. 21. Sept. 1832.
**) Ancillon an Küſter, 11. Juni, 25. Aug.; Jordan’s Bericht, 8. Aug., 5. Sept.
1832 u. ſ. w.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/300>, abgerufen am 23.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.