in der Hauptstadt los. Während die Besitzenden, nach der unverbrüch- lichen Gewohnheit der Pariser Bourgeoisie, sich in ihren Häusern ver- steckten, eilten die napoleonischen Veteranen und die republikanische Jugend aus den Schulen, den Fabriken, den Werkstätten -- allesammt geschwo- rene Feinde der Dynastie -- freudig auf die Barrikaden. Dies alte Kampfmittel aus den Straßenschlachten der Hugenotten und der Fronde war vor drei Jahren wieder in Gebrauch gelangt und wurde wie alle die anderen Wunder neufranzösischer Freiheit von den Nachbarvölkern gelehrig aufgenommen, so daß in den nächsten zwei Jahrzehnten fast jede Hauptstadt des Festlandes sich einmal mindestens den Genuß eines Barrikadenkampfes vergönnte.
Am ersten Tage des Aufstandes erklang noch der Ruf: es lebe die Charte; am zweiten hieß es schon: nieder mit den Bourbonen, es lebe die Freiheit, die Republik -- oder auch Napoleon II.; dreifarbige Fahnen wehten überall, und zugleich begann der dem französischen Gemüthe so wohlthuende Kampf gegen Stein und Erz, die königlichen Lilien wurden wo sie sich nur zeigten herausgehauen, abgerissen, besudelt, verbrannt. Nach drei Tagen gaben die schlecht geführten und nicht ganz zuverlässigen Truppen das Spiel verloren. Ein maßloses Selbstgefühl schwellte den Siegern die Herzen. Wie überschwänglich war, alle diese Jahre hindurch, die Heldenthat der Bastillestürmer gepriesen worden, die feige Nieder- metzelung einer Handvoll Invaliden durch eine Pöbelmasse. Diesmal hatte das Pariser Volk wirklich einen schweren Kampf siegreich durchgefochten, mit Muth und Ausdauer, und nicht ohne ritterliche Hochherzigkeit; denn die Ausbrüche grausamer Wuth, an denen sich besonders die Verwilderung der Gassenjugend offenbarte, blieben doch vereinzelt. Nun war dies Frank- reich wieder das gelobte Land der Freiheit, berechtigt, durch die Propaganda seiner Revolution die dankbaren Völker zu beherrschen und zu beglücken. Irgend einen bestimmten Plan für die Zukunft hegten die Sieger der Julischlacht freilich eben so wenig wie der greise Lafayette, der zum Be- fehlshaber der wiederhergestellten Nationalgarde erhoben, sich wieder selbst- gefällig auf den Wellen der Volksgunst wiegte und wieder lediglich die hohlen Kraftworte seiner alten Menschenrechte zu wiederholen wußte. Nur der Haß gegen die Bourbonen, nur eine unklare revolutionäre Leidenschaft hatte diese jungen Radicalen auf die Barrikaden geführt.
Sofort nach der Entscheidung traten aber die Führer der parlamen- tarischen Opposition aus ihren Schlupfwinkeln hervor; die aufgelöste Kam- mer versammelte sich eigenmächtig, um den Straßenkämpfern die Frucht ihres Sieges zu entwinden. Der König verweilte unterdessen auf den Schlössern in der Umgegend der Hauptstadt; völlig entmuthigt nahm er nunmehr (30. Juli) die Ordonnanzen zurück und versuchte ein gemäßigtes Cabinet zu bilden. Wenn unter den monarchischen Parteien noch einige Treue und Entschlossenheit lebte, so konnte nach diesem Eingeständniß des
IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
in der Hauptſtadt los. Während die Beſitzenden, nach der unverbrüch- lichen Gewohnheit der Pariſer Bourgeoiſie, ſich in ihren Häuſern ver- ſteckten, eilten die napoleoniſchen Veteranen und die republikaniſche Jugend aus den Schulen, den Fabriken, den Werkſtätten — alleſammt geſchwo- rene Feinde der Dynaſtie — freudig auf die Barrikaden. Dies alte Kampfmittel aus den Straßenſchlachten der Hugenotten und der Fronde war vor drei Jahren wieder in Gebrauch gelangt und wurde wie alle die anderen Wunder neufranzöſiſcher Freiheit von den Nachbarvölkern gelehrig aufgenommen, ſo daß in den nächſten zwei Jahrzehnten faſt jede Hauptſtadt des Feſtlandes ſich einmal mindeſtens den Genuß eines Barrikadenkampfes vergönnte.
Am erſten Tage des Aufſtandes erklang noch der Ruf: es lebe die Charte; am zweiten hieß es ſchon: nieder mit den Bourbonen, es lebe die Freiheit, die Republik — oder auch Napoleon II.; dreifarbige Fahnen wehten überall, und zugleich begann der dem franzöſiſchen Gemüthe ſo wohlthuende Kampf gegen Stein und Erz, die königlichen Lilien wurden wo ſie ſich nur zeigten herausgehauen, abgeriſſen, beſudelt, verbrannt. Nach drei Tagen gaben die ſchlecht geführten und nicht ganz zuverläſſigen Truppen das Spiel verloren. Ein maßloſes Selbſtgefühl ſchwellte den Siegern die Herzen. Wie überſchwänglich war, alle dieſe Jahre hindurch, die Heldenthat der Baſtilleſtürmer geprieſen worden, die feige Nieder- metzelung einer Handvoll Invaliden durch eine Pöbelmaſſe. Diesmal hatte das Pariſer Volk wirklich einen ſchweren Kampf ſiegreich durchgefochten, mit Muth und Ausdauer, und nicht ohne ritterliche Hochherzigkeit; denn die Ausbrüche grauſamer Wuth, an denen ſich beſonders die Verwilderung der Gaſſenjugend offenbarte, blieben doch vereinzelt. Nun war dies Frank- reich wieder das gelobte Land der Freiheit, berechtigt, durch die Propaganda ſeiner Revolution die dankbaren Völker zu beherrſchen und zu beglücken. Irgend einen beſtimmten Plan für die Zukunft hegten die Sieger der Juliſchlacht freilich eben ſo wenig wie der greiſe Lafayette, der zum Be- fehlshaber der wiederhergeſtellten Nationalgarde erhoben, ſich wieder ſelbſt- gefällig auf den Wellen der Volksgunſt wiegte und wieder lediglich die hohlen Kraftworte ſeiner alten Menſchenrechte zu wiederholen wußte. Nur der Haß gegen die Bourbonen, nur eine unklare revolutionäre Leidenſchaft hatte dieſe jungen Radicalen auf die Barrikaden geführt.
Sofort nach der Entſcheidung traten aber die Führer der parlamen- tariſchen Oppoſition aus ihren Schlupfwinkeln hervor; die aufgelöſte Kam- mer verſammelte ſich eigenmächtig, um den Straßenkämpfern die Frucht ihres Sieges zu entwinden. Der König verweilte unterdeſſen auf den Schlöſſern in der Umgegend der Hauptſtadt; völlig entmuthigt nahm er nunmehr (30. Juli) die Ordonnanzen zurück und verſuchte ein gemäßigtes Cabinet zu bilden. Wenn unter den monarchiſchen Parteien noch einige Treue und Entſchloſſenheit lebte, ſo konnte nach dieſem Eingeſtändniß des
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in der Hauptſtadt los. Während die Beſitzenden, nach der unverbrüch-
lichen Gewohnheit der Pariſer Bourgeoiſie, ſich in ihren Häuſern ver-
ſteckten, eilten die napoleoniſchen Veteranen und die republikaniſche Jugend
aus den Schulen, den Fabriken, den Werkſtätten — alleſammt geſchwo-
rene Feinde der Dynaſtie — freudig auf die Barrikaden. Dies alte
Kampfmittel aus den Straßenſchlachten der Hugenotten und der Fronde
war vor drei Jahren wieder in Gebrauch gelangt und wurde wie alle die
anderen Wunder neufranzöſiſcher Freiheit von den Nachbarvölkern gelehrig
aufgenommen, ſo daß in den nächſten zwei Jahrzehnten faſt jede Hauptſtadt
des Feſtlandes ſich einmal mindeſtens den Genuß eines Barrikadenkampfes
vergönnte.
Am erſten Tage des Aufſtandes erklang noch der Ruf: es lebe die
Charte; am zweiten hieß es ſchon: nieder mit den Bourbonen, es lebe
die Freiheit, die Republik — oder auch Napoleon II.; dreifarbige Fahnen
wehten überall, und zugleich begann der dem franzöſiſchen Gemüthe ſo
wohlthuende Kampf gegen Stein und Erz, die königlichen Lilien wurden
wo ſie ſich nur zeigten herausgehauen, abgeriſſen, beſudelt, verbrannt.
Nach drei Tagen gaben die ſchlecht geführten und nicht ganz zuverläſſigen
Truppen das Spiel verloren. Ein maßloſes Selbſtgefühl ſchwellte den
Siegern die Herzen. Wie überſchwänglich war, alle dieſe Jahre hindurch,
die Heldenthat der Baſtilleſtürmer geprieſen worden, die feige Nieder-
metzelung einer Handvoll Invaliden durch eine Pöbelmaſſe. Diesmal hatte
das Pariſer Volk wirklich einen ſchweren Kampf ſiegreich durchgefochten,
mit Muth und Ausdauer, und nicht ohne ritterliche Hochherzigkeit; denn
die Ausbrüche grauſamer Wuth, an denen ſich beſonders die Verwilderung
der Gaſſenjugend offenbarte, blieben doch vereinzelt. Nun war dies Frank-
reich wieder das gelobte Land der Freiheit, berechtigt, durch die Propaganda
ſeiner Revolution die dankbaren Völker zu beherrſchen und zu beglücken.
Irgend einen beſtimmten Plan für die Zukunft hegten die Sieger der
Juliſchlacht freilich eben ſo wenig wie der greiſe Lafayette, der zum Be-
fehlshaber der wiederhergeſtellten Nationalgarde erhoben, ſich wieder ſelbſt-
gefällig auf den Wellen der Volksgunſt wiegte und wieder lediglich die hohlen
Kraftworte ſeiner alten Menſchenrechte zu wiederholen wußte. Nur der
Haß gegen die Bourbonen, nur eine unklare revolutionäre Leidenſchaft
hatte dieſe jungen Radicalen auf die Barrikaden geführt.
Sofort nach der Entſcheidung traten aber die Führer der parlamen-
tariſchen Oppoſition aus ihren Schlupfwinkeln hervor; die aufgelöſte Kam-
mer verſammelte ſich eigenmächtig, um den Straßenkämpfern die Frucht
ihres Sieges zu entwinden. Der König verweilte unterdeſſen auf den
Schlöſſern in der Umgegend der Hauptſtadt; völlig entmuthigt nahm er
nunmehr (30. Juli) die Ordonnanzen zurück und verſuchte ein gemäßigtes
Cabinet zu bilden. Wenn unter den monarchiſchen Parteien noch einige
Treue und Entſchloſſenheit lebte, ſo konnte nach dieſem Eingeſtändniß des
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/28>, abgerufen am 22.11.2024.
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