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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Dritter Abschnitt.

Preußens Mittelstellung.

Die einfachen Formeln der Geschichtsphilosophie werden der viel-
gestaltigen Fülle des historischen Lebens niemals gerecht. Weitum in der
aufgeklärten Welt meinte man den Charakter des neuen Zeitalters längst
durchschaut zu haben: der entscheidende Kampf zwischen dem Königthum
von Gottes Gnaden und dem constitutionellen Vernunftrecht schien an-
gebrochen, und kein Thron Westeuropas noch der Zukunft sicher, wenn
er sich nicht mit parlamentarischen Formen umgab. Gleichwohl überstand
Preußen die Stürme der Zeit unter allen deutschen Ländern am glück-
lichsten. Dieser Staat mit seinem vielgeschmähten unbeschränkten König-
thum zeigte eine jedes liberale Gemüth beleidigende Kraft und Gesund-
heit. Ein Felsen im brandenden Meere, stand er inmitten des Aufruhrs,
der alle seine Grenzen umtobte. Während er mit seinen Waffen die
Marken des Vaterlandes am Rhein und an der Prosna schirmte, rettete
er den Deutschen durch die unerschütterliche Strenge seines Rechtes einen
fruchtbaren Schatz altüberlieferten Ansehens, monarchischer Treue, gesetz-
lichen Sinnes, nationalen Stolzes. Die alte Ordnung der Gesellschaft,
die in Sachsen, Hessen, Hannover erst gebrochen werden mußte, war in
Preußen vorlängst zerstört, und die neufranzösischen Schlagworte des süd-
deutschen Liberalismus konnten in dem Volke des Befreiungskrieges nur
langsam Eingang finden.

Von politischen Unruhen blieb Preußen so gänzlich verschont, daß
die Staatsgewalt ungewöhnlicher Vorkehrungen kaum bedurfte. Ein roher
Aufruhr des Aachener Pöbels im August 1830 war offenbar durch die
Arbeiterbewegung im nahen Verviers veranlaßt; die Meuterer richteten
ihren Groll nur gegen die arbeitsparenden Maschinen Cockerill's und wider
die Häuser einiger verhaßten Fabrikanten, die bewaffnete Bürgerschaft trieb
sie bald zu Paaren. Noch weniger bedeutete das wüste Geschrei, das an
einigen Septemberabenden in den Straßen Berlins, selbst vor den Fenstern
des Königs erklang; die Schneidergesellen, die über die Kargheit ihrer
Meister, über den freien Wettbewerb der Näherinnen zürnten, führten
den lärmenden Haufen an, und auch hier riefen die Arbeiter: nieder mit

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Dritter Abſchnitt.

Preußens Mittelſtellung.

Die einfachen Formeln der Geſchichtsphiloſophie werden der viel-
geſtaltigen Fülle des hiſtoriſchen Lebens niemals gerecht. Weitum in der
aufgeklärten Welt meinte man den Charakter des neuen Zeitalters längſt
durchſchaut zu haben: der entſcheidende Kampf zwiſchen dem Königthum
von Gottes Gnaden und dem conſtitutionellen Vernunftrecht ſchien an-
gebrochen, und kein Thron Weſteuropas noch der Zukunft ſicher, wenn
er ſich nicht mit parlamentariſchen Formen umgab. Gleichwohl überſtand
Preußen die Stürme der Zeit unter allen deutſchen Ländern am glück-
lichſten. Dieſer Staat mit ſeinem vielgeſchmähten unbeſchränkten König-
thum zeigte eine jedes liberale Gemüth beleidigende Kraft und Geſund-
heit. Ein Felſen im brandenden Meere, ſtand er inmitten des Aufruhrs,
der alle ſeine Grenzen umtobte. Während er mit ſeinen Waffen die
Marken des Vaterlandes am Rhein und an der Prosna ſchirmte, rettete
er den Deutſchen durch die unerſchütterliche Strenge ſeines Rechtes einen
fruchtbaren Schatz altüberlieferten Anſehens, monarchiſcher Treue, geſetz-
lichen Sinnes, nationalen Stolzes. Die alte Ordnung der Geſellſchaft,
die in Sachſen, Heſſen, Hannover erſt gebrochen werden mußte, war in
Preußen vorlängſt zerſtört, und die neufranzöſiſchen Schlagworte des ſüd-
deutſchen Liberalismus konnten in dem Volke des Befreiungskrieges nur
langſam Eingang finden.

Von politiſchen Unruhen blieb Preußen ſo gänzlich verſchont, daß
die Staatsgewalt ungewöhnlicher Vorkehrungen kaum bedurfte. Ein roher
Aufruhr des Aachener Pöbels im Auguſt 1830 war offenbar durch die
Arbeiterbewegung im nahen Verviers veranlaßt; die Meuterer richteten
ihren Groll nur gegen die arbeitſparenden Maſchinen Cockerill’s und wider
die Häuſer einiger verhaßten Fabrikanten, die bewaffnete Bürgerſchaft trieb
ſie bald zu Paaren. Noch weniger bedeutete das wüſte Geſchrei, das an
einigen Septemberabenden in den Straßen Berlins, ſelbſt vor den Fenſtern
des Königs erklang; die Schneidergeſellen, die über die Kargheit ihrer
Meiſter, über den freien Wettbewerb der Näherinnen zürnten, führten
den lärmenden Haufen an, und auch hier riefen die Arbeiter: nieder mit

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[[179]/0193] Dritter Abſchnitt. Preußens Mittelſtellung. Die einfachen Formeln der Geſchichtsphiloſophie werden der viel- geſtaltigen Fülle des hiſtoriſchen Lebens niemals gerecht. Weitum in der aufgeklärten Welt meinte man den Charakter des neuen Zeitalters längſt durchſchaut zu haben: der entſcheidende Kampf zwiſchen dem Königthum von Gottes Gnaden und dem conſtitutionellen Vernunftrecht ſchien an- gebrochen, und kein Thron Weſteuropas noch der Zukunft ſicher, wenn er ſich nicht mit parlamentariſchen Formen umgab. Gleichwohl überſtand Preußen die Stürme der Zeit unter allen deutſchen Ländern am glück- lichſten. Dieſer Staat mit ſeinem vielgeſchmähten unbeſchränkten König- thum zeigte eine jedes liberale Gemüth beleidigende Kraft und Geſund- heit. Ein Felſen im brandenden Meere, ſtand er inmitten des Aufruhrs, der alle ſeine Grenzen umtobte. Während er mit ſeinen Waffen die Marken des Vaterlandes am Rhein und an der Prosna ſchirmte, rettete er den Deutſchen durch die unerſchütterliche Strenge ſeines Rechtes einen fruchtbaren Schatz altüberlieferten Anſehens, monarchiſcher Treue, geſetz- lichen Sinnes, nationalen Stolzes. Die alte Ordnung der Geſellſchaft, die in Sachſen, Heſſen, Hannover erſt gebrochen werden mußte, war in Preußen vorlängſt zerſtört, und die neufranzöſiſchen Schlagworte des ſüd- deutſchen Liberalismus konnten in dem Volke des Befreiungskrieges nur langſam Eingang finden. Von politiſchen Unruhen blieb Preußen ſo gänzlich verſchont, daß die Staatsgewalt ungewöhnlicher Vorkehrungen kaum bedurfte. Ein roher Aufruhr des Aachener Pöbels im Auguſt 1830 war offenbar durch die Arbeiterbewegung im nahen Verviers veranlaßt; die Meuterer richteten ihren Groll nur gegen die arbeitſparenden Maſchinen Cockerill’s und wider die Häuſer einiger verhaßten Fabrikanten, die bewaffnete Bürgerſchaft trieb ſie bald zu Paaren. Noch weniger bedeutete das wüſte Geſchrei, das an einigen Septemberabenden in den Straßen Berlins, ſelbſt vor den Fenſtern des Königs erklang; die Schneidergeſellen, die über die Kargheit ihrer Meiſter, über den freien Wettbewerb der Näherinnen zürnten, führten den lärmenden Haufen an, und auch hier riefen die Arbeiter: nieder mit 12*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. [179]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/193>, abgerufen am 29.11.2024.