Freiheit legte Stüve allein Werth; die Dogmen des constitutionellen Ver- nunftrechts ließen die Mehrheit des Landtags kalt. Die Stände selber ge- standen unbefangen, daß man die häufige Wiederkehr großer Staatsprocesse nicht erleichtern dürfe; sie verlangten darum das Recht der Ministeranklage nur für den Fall absichtlicher Verfassungsverletzung und behielten sich für leichtere Streitigkeiten lediglich eine Beschwerde an den König vor.
So kam das Staatsgrundgesetz zu Stande, unzweifelhaft die be- scheidenste unter den neuen norddeutschen Verfassungen; bei allen Män- geln doch ein achtungswerthes Werk erfahrener Einsicht und behutsamer Mäßigung. Dahlmann meinte zufrieden, hier sei der Weg betreten, der für Deutschland frommen könne. Eine Zeit lang gewann es den An- schein, als sollte unter diesen besonnenen niederdeutschen Reformern eine neue Schule des gemäßigten Liberalismus sich bilden, wie sie der Nation gerade noth that, ehrlich constitutionell und doch dem historischen Rechte nicht feindlich gesinnt, eine Schule, die nach Stein's Vorbild das Künf- tige aus dem Vergangenen zu entwickeln suchte. Unterstützt von Rose, Stüve, Dahlmann und dem wackeren Pädagogen Kohlrausch, ließ Stein's Vertrauter Pertz, der gelehrte Herausgeber der Monumenta Germa- niae, die Hannoversche Zeitung erscheinen, die erste namhafte politische Zeitschrift des kleinen Königreichs, ein streng nationales Blatt, das den abstrakten Theorien des modischen Liberalismus ebenso nachdrücklich ent- gegen trat wie seiner polnisch-französischen Schwärmerei und darum von der süddeutschen Presse als ein Organ der pfäffischen Reaktion gebrand- markt wurde. Sein Wahlspruch lautete: "Treue ist der Grundzug des deutschen Charakters, und Treue ist Freiheit." Nach einem kurzen viel- verheißenden Anlaufe verfiel die Zeitung leider bald der Ermattung, welche das ganze Land heimsuchte; unter den Männern des praktischen Lebens hatte sie nie viele Mitarbeiter gefunden, und die politisirenden Gelehrten, die selten lange bei der Stange aushalten, zogen sich nach und nach zurück.
Ueber der neuen Verfassung schwebte kein glücklicher Stern. Nachdem die Vereinbarung mühsam gelungen war blieb man noch ein halbes Jahr hindurch in peinlicher Ungewißheit und erfuhr nur durch Gerüchte, daß Schele und der österreichische Gesandte in London Alles aufboten um das Schiff noch dicht vor dem Hafen stranden zu lassen. Am 26. Sept. 1833 unterzeichnete der König endlich das Staatsgrundgesetz, nachdem er etwa vierzehn unwesentliche Paragraphen des vereinbarten Entwurfs einseitig abgeändert hatte. Der neue Landtag beeilte sich zwar auf Stüve's An- trag die Aenderungen nachträglich gutzuheißen; immer blieb es ein ver- hängnißvoller Fehler, daß dieser Staat, der seit dem Kriege aus einem zweifelhaften Rechtszustande in den andern taumelte, nun schon zum dritten male eine Verfassung erhielt, deren Giltigkeit sich mindestens mit Scheingründen anfechten ließ.
11*
Schele. Stüve. Dahlmann.
Freiheit legte Stüve allein Werth; die Dogmen des conſtitutionellen Ver- nunftrechts ließen die Mehrheit des Landtags kalt. Die Stände ſelber ge- ſtanden unbefangen, daß man die häufige Wiederkehr großer Staatsproceſſe nicht erleichtern dürfe; ſie verlangten darum das Recht der Miniſteranklage nur für den Fall abſichtlicher Verfaſſungsverletzung und behielten ſich für leichtere Streitigkeiten lediglich eine Beſchwerde an den König vor.
So kam das Staatsgrundgeſetz zu Stande, unzweifelhaft die be- ſcheidenſte unter den neuen norddeutſchen Verfaſſungen; bei allen Män- geln doch ein achtungswerthes Werk erfahrener Einſicht und behutſamer Mäßigung. Dahlmann meinte zufrieden, hier ſei der Weg betreten, der für Deutſchland frommen könne. Eine Zeit lang gewann es den An- ſchein, als ſollte unter dieſen beſonnenen niederdeutſchen Reformern eine neue Schule des gemäßigten Liberalismus ſich bilden, wie ſie der Nation gerade noth that, ehrlich conſtitutionell und doch dem hiſtoriſchen Rechte nicht feindlich geſinnt, eine Schule, die nach Stein’s Vorbild das Künf- tige aus dem Vergangenen zu entwickeln ſuchte. Unterſtützt von Roſe, Stüve, Dahlmann und dem wackeren Pädagogen Kohlrauſch, ließ Stein’s Vertrauter Pertz, der gelehrte Herausgeber der Monumenta Germa- niae, die Hannoverſche Zeitung erſcheinen, die erſte namhafte politiſche Zeitſchrift des kleinen Königreichs, ein ſtreng nationales Blatt, das den abſtrakten Theorien des modiſchen Liberalismus ebenſo nachdrücklich ent- gegen trat wie ſeiner polniſch-franzöſiſchen Schwärmerei und darum von der ſüddeutſchen Preſſe als ein Organ der pfäffiſchen Reaktion gebrand- markt wurde. Sein Wahlſpruch lautete: „Treue iſt der Grundzug des deutſchen Charakters, und Treue iſt Freiheit.“ Nach einem kurzen viel- verheißenden Anlaufe verfiel die Zeitung leider bald der Ermattung, welche das ganze Land heimſuchte; unter den Männern des praktiſchen Lebens hatte ſie nie viele Mitarbeiter gefunden, und die politiſirenden Gelehrten, die ſelten lange bei der Stange aushalten, zogen ſich nach und nach zurück.
Ueber der neuen Verfaſſung ſchwebte kein glücklicher Stern. Nachdem die Vereinbarung mühſam gelungen war blieb man noch ein halbes Jahr hindurch in peinlicher Ungewißheit und erfuhr nur durch Gerüchte, daß Schele und der öſterreichiſche Geſandte in London Alles aufboten um das Schiff noch dicht vor dem Hafen ſtranden zu laſſen. Am 26. Sept. 1833 unterzeichnete der König endlich das Staatsgrundgeſetz, nachdem er etwa vierzehn unweſentliche Paragraphen des vereinbarten Entwurfs einſeitig abgeändert hatte. Der neue Landtag beeilte ſich zwar auf Stüve’s An- trag die Aenderungen nachträglich gutzuheißen; immer blieb es ein ver- hängnißvoller Fehler, daß dieſer Staat, der ſeit dem Kriege aus einem zweifelhaften Rechtszuſtande in den andern taumelte, nun ſchon zum dritten male eine Verfaſſung erhielt, deren Giltigkeit ſich mindeſtens mit Scheingründen anfechten ließ.
11*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0177"n="163"/><fwplace="top"type="header">Schele. Stüve. Dahlmann.</fw><lb/>
Freiheit legte Stüve allein Werth; die Dogmen des conſtitutionellen Ver-<lb/>
nunftrechts ließen die Mehrheit des Landtags kalt. Die Stände ſelber ge-<lb/>ſtanden unbefangen, daß man die häufige Wiederkehr großer Staatsproceſſe<lb/>
nicht erleichtern dürfe; ſie verlangten darum das Recht der Miniſteranklage<lb/>
nur für den Fall abſichtlicher Verfaſſungsverletzung und behielten ſich für<lb/>
leichtere Streitigkeiten lediglich eine Beſchwerde an den König vor.</p><lb/><p>So kam das Staatsgrundgeſetz zu Stande, unzweifelhaft die be-<lb/>ſcheidenſte unter den neuen norddeutſchen Verfaſſungen; bei allen Män-<lb/>
geln doch ein achtungswerthes Werk erfahrener Einſicht und behutſamer<lb/>
Mäßigung. Dahlmann meinte zufrieden, hier ſei der Weg betreten, der<lb/>
für Deutſchland frommen könne. Eine Zeit lang gewann es den An-<lb/>ſchein, als ſollte unter dieſen beſonnenen niederdeutſchen Reformern eine<lb/>
neue Schule des gemäßigten Liberalismus ſich bilden, wie ſie der Nation<lb/>
gerade noth that, ehrlich conſtitutionell und doch dem hiſtoriſchen Rechte<lb/>
nicht feindlich geſinnt, eine Schule, die nach Stein’s Vorbild das Künf-<lb/>
tige aus dem Vergangenen zu entwickeln ſuchte. Unterſtützt von Roſe,<lb/>
Stüve, Dahlmann und dem wackeren Pädagogen Kohlrauſch, ließ Stein’s<lb/>
Vertrauter Pertz, der gelehrte Herausgeber der <hirendition="#aq">Monumenta Germa-<lb/>
niae,</hi> die Hannoverſche Zeitung erſcheinen, die erſte namhafte politiſche<lb/>
Zeitſchrift des kleinen Königreichs, ein ſtreng nationales Blatt, das den<lb/>
abſtrakten Theorien des modiſchen Liberalismus ebenſo nachdrücklich ent-<lb/>
gegen trat wie ſeiner polniſch-franzöſiſchen Schwärmerei und darum von<lb/>
der ſüddeutſchen Preſſe als ein Organ der pfäffiſchen Reaktion gebrand-<lb/>
markt wurde. Sein Wahlſpruch lautete: „Treue iſt der Grundzug des<lb/>
deutſchen Charakters, und Treue iſt Freiheit.“ Nach einem kurzen viel-<lb/>
verheißenden Anlaufe verfiel die Zeitung leider bald der Ermattung,<lb/>
welche das ganze Land heimſuchte; unter den Männern des praktiſchen<lb/>
Lebens hatte ſie nie viele Mitarbeiter gefunden, und die politiſirenden<lb/>
Gelehrten, die ſelten lange bei der Stange aushalten, zogen ſich nach<lb/>
und nach zurück.</p><lb/><p>Ueber der neuen Verfaſſung ſchwebte kein glücklicher Stern. Nachdem<lb/>
die Vereinbarung mühſam gelungen war blieb man noch ein halbes Jahr<lb/>
hindurch in peinlicher Ungewißheit und erfuhr nur durch Gerüchte, daß<lb/>
Schele und der öſterreichiſche Geſandte in London Alles aufboten um das<lb/>
Schiff noch dicht vor dem Hafen ſtranden zu laſſen. Am 26. Sept. 1833<lb/>
unterzeichnete der König endlich das Staatsgrundgeſetz, nachdem er etwa<lb/>
vierzehn unweſentliche Paragraphen des vereinbarten Entwurfs einſeitig<lb/>
abgeändert hatte. Der neue Landtag beeilte ſich zwar auf Stüve’s An-<lb/>
trag die Aenderungen nachträglich gutzuheißen; immer blieb es ein ver-<lb/>
hängnißvoller Fehler, daß dieſer Staat, der ſeit dem Kriege aus einem<lb/>
zweifelhaften Rechtszuſtande in den andern taumelte, nun ſchon zum<lb/>
dritten male eine Verfaſſung erhielt, deren Giltigkeit ſich mindeſtens mit<lb/>
Scheingründen anfechten ließ.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">11*</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[163/0177]
Schele. Stüve. Dahlmann.
Freiheit legte Stüve allein Werth; die Dogmen des conſtitutionellen Ver-
nunftrechts ließen die Mehrheit des Landtags kalt. Die Stände ſelber ge-
ſtanden unbefangen, daß man die häufige Wiederkehr großer Staatsproceſſe
nicht erleichtern dürfe; ſie verlangten darum das Recht der Miniſteranklage
nur für den Fall abſichtlicher Verfaſſungsverletzung und behielten ſich für
leichtere Streitigkeiten lediglich eine Beſchwerde an den König vor.
So kam das Staatsgrundgeſetz zu Stande, unzweifelhaft die be-
ſcheidenſte unter den neuen norddeutſchen Verfaſſungen; bei allen Män-
geln doch ein achtungswerthes Werk erfahrener Einſicht und behutſamer
Mäßigung. Dahlmann meinte zufrieden, hier ſei der Weg betreten, der
für Deutſchland frommen könne. Eine Zeit lang gewann es den An-
ſchein, als ſollte unter dieſen beſonnenen niederdeutſchen Reformern eine
neue Schule des gemäßigten Liberalismus ſich bilden, wie ſie der Nation
gerade noth that, ehrlich conſtitutionell und doch dem hiſtoriſchen Rechte
nicht feindlich geſinnt, eine Schule, die nach Stein’s Vorbild das Künf-
tige aus dem Vergangenen zu entwickeln ſuchte. Unterſtützt von Roſe,
Stüve, Dahlmann und dem wackeren Pädagogen Kohlrauſch, ließ Stein’s
Vertrauter Pertz, der gelehrte Herausgeber der Monumenta Germa-
niae, die Hannoverſche Zeitung erſcheinen, die erſte namhafte politiſche
Zeitſchrift des kleinen Königreichs, ein ſtreng nationales Blatt, das den
abſtrakten Theorien des modiſchen Liberalismus ebenſo nachdrücklich ent-
gegen trat wie ſeiner polniſch-franzöſiſchen Schwärmerei und darum von
der ſüddeutſchen Preſſe als ein Organ der pfäffiſchen Reaktion gebrand-
markt wurde. Sein Wahlſpruch lautete: „Treue iſt der Grundzug des
deutſchen Charakters, und Treue iſt Freiheit.“ Nach einem kurzen viel-
verheißenden Anlaufe verfiel die Zeitung leider bald der Ermattung,
welche das ganze Land heimſuchte; unter den Männern des praktiſchen
Lebens hatte ſie nie viele Mitarbeiter gefunden, und die politiſirenden
Gelehrten, die ſelten lange bei der Stange aushalten, zogen ſich nach
und nach zurück.
Ueber der neuen Verfaſſung ſchwebte kein glücklicher Stern. Nachdem
die Vereinbarung mühſam gelungen war blieb man noch ein halbes Jahr
hindurch in peinlicher Ungewißheit und erfuhr nur durch Gerüchte, daß
Schele und der öſterreichiſche Geſandte in London Alles aufboten um das
Schiff noch dicht vor dem Hafen ſtranden zu laſſen. Am 26. Sept. 1833
unterzeichnete der König endlich das Staatsgrundgeſetz, nachdem er etwa
vierzehn unweſentliche Paragraphen des vereinbarten Entwurfs einſeitig
abgeändert hatte. Der neue Landtag beeilte ſich zwar auf Stüve’s An-
trag die Aenderungen nachträglich gutzuheißen; immer blieb es ein ver-
hängnißvoller Fehler, daß dieſer Staat, der ſeit dem Kriege aus einem
zweifelhaften Rechtszuſtande in den andern taumelte, nun ſchon zum
dritten male eine Verfaſſung erhielt, deren Giltigkeit ſich mindeſtens mit
Scheingründen anfechten ließ.
11*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/177>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.