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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 2. Die constitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
Glauben, daß man die Politik von der Moral nicht scheiden könne: "Wenn
ich hierin mich irrte, ich würde keine Stunde mehr mit der Politik mich
beschäftigen." Ihm war kein Zweifel, daß man der Erhaltung den Vorzug
geben müsse vor der Verbesserung, weil Erhaltung zugleich Bedingung
der Verbesserung sei.

Das Zünglein in der Wage war Stüve, der durch seine Sachkenntniß,
seinen praktischen Verstand, seine herrische, aber auch rechtzeitig vermit-
telnde Haltung die Verhandlungen immer wieder auf nahe, erreichbare
Ziele zu lenken wußte. Rehberg nannte ihn "die Seele der Reform, die
Hoffnung meines zur Arbeit unfähigen Alters"; Wallmoden schloß sich
ihm als treuer Helfer an, versöhnend und beschwichtigend so oft der ge-
strenge kleine Osnabrücker durch seine Schärfe verletzte. Durch eine Schrift
"über die gegenwärtige Lage Hannovers" hatte Stüve soeben abermals
bewiesen, wie richtig er die Mächte des Beharrens in seinem Lande zu
schätzen wußte. Eine Verfassung war ihm nur werthvoll, "wenn ihre
Grundsätze durch die Verwaltung lebendig werden". Ueber die "Kanne-
gießerei" der süddeutschen Liberalen urtheilte er sehr abschätzig: sie verstehen
nur auf Rußland zu schimpfen, die Polen zu verherrlichen und nach
Preßfreiheit zu schreien.*) Das neue Staatsgrundgesetz, so sagte er oft,
sollte nicht einer theoretischen Schablone entsprechen, sondern die im täg-
lichen Leben fühlbaren Mißstände beseitigen, und unter diesen stellte er
das alte System der Kassentrennung obenan. Die Regierung gab nur
dem allgemeinen Wunsche des Landes nach, als sie dem Landtage vorschlug,
daß die königliche Domänenkasse mit der ständischen Generalsteuerkasse ver-
einigt werden, der König aber zur Bestreitung der Kosten seines Hofhalts
sich eine Anzahl Domänen als Krondotation auswählen solle.

Damit ward die Einheit des Staatshaushaltes hergestellt und das
ständische Schatzcollegium aufgehoben, das bisher die Steuerkasse ver-
waltet und in endlosen Händeln beständig versucht hatte, der Königlichen
Kasse die volle Hälfte der Staatsausgaben aufzubürden. Dem Monarchen
brachte die Kassenvereinigung nur Vortheil; sie überhob ihn des unwür-
digen Streites mit den Schatzräthen und erhöhte sein freies Einkommen
auf mehr als das Doppelte. Gleichwohl entschloß sich der König nur
schwer, in die unabweisbare Reform zu willigen, denn er kannte seine
deutschen Stammlande kaum und beurtheilte sie nach dem englischen
Maßstabe. Gerade in England, wo doch Begriff und Name der Civil-
liste entstanden waren, hatte die Krone stets aus der Civilliste einen
Theil der Staatsverwaltungskosten bestritten, und erst ganz neuerdings,
1831, war es dem Cabinet Grey nach schweren Kämpfen gelungen, Hof-
ausgaben und Staatsausgaben scharf zu sondern. Die Torys aber

*) Ich benutze hier u. A. eine handschriftliche Biographie Stüve's von dessen
Neffen, Hrn. Regierungspräsidenten Stüve in Osnabrück.

IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
Glauben, daß man die Politik von der Moral nicht ſcheiden könne: „Wenn
ich hierin mich irrte, ich würde keine Stunde mehr mit der Politik mich
beſchäftigen.“ Ihm war kein Zweifel, daß man der Erhaltung den Vorzug
geben müſſe vor der Verbeſſerung, weil Erhaltung zugleich Bedingung
der Verbeſſerung ſei.

Das Zünglein in der Wage war Stüve, der durch ſeine Sachkenntniß,
ſeinen praktiſchen Verſtand, ſeine herriſche, aber auch rechtzeitig vermit-
telnde Haltung die Verhandlungen immer wieder auf nahe, erreichbare
Ziele zu lenken wußte. Rehberg nannte ihn „die Seele der Reform, die
Hoffnung meines zur Arbeit unfähigen Alters“; Wallmoden ſchloß ſich
ihm als treuer Helfer an, verſöhnend und beſchwichtigend ſo oft der ge-
ſtrenge kleine Osnabrücker durch ſeine Schärfe verletzte. Durch eine Schrift
„über die gegenwärtige Lage Hannovers“ hatte Stüve ſoeben abermals
bewieſen, wie richtig er die Mächte des Beharrens in ſeinem Lande zu
ſchätzen wußte. Eine Verfaſſung war ihm nur werthvoll, „wenn ihre
Grundſätze durch die Verwaltung lebendig werden“. Ueber die „Kanne-
gießerei“ der ſüddeutſchen Liberalen urtheilte er ſehr abſchätzig: ſie verſtehen
nur auf Rußland zu ſchimpfen, die Polen zu verherrlichen und nach
Preßfreiheit zu ſchreien.*) Das neue Staatsgrundgeſetz, ſo ſagte er oft,
ſollte nicht einer theoretiſchen Schablone entſprechen, ſondern die im täg-
lichen Leben fühlbaren Mißſtände beſeitigen, und unter dieſen ſtellte er
das alte Syſtem der Kaſſentrennung obenan. Die Regierung gab nur
dem allgemeinen Wunſche des Landes nach, als ſie dem Landtage vorſchlug,
daß die königliche Domänenkaſſe mit der ſtändiſchen Generalſteuerkaſſe ver-
einigt werden, der König aber zur Beſtreitung der Koſten ſeines Hofhalts
ſich eine Anzahl Domänen als Krondotation auswählen ſolle.

Damit ward die Einheit des Staatshaushaltes hergeſtellt und das
ſtändiſche Schatzcollegium aufgehoben, das bisher die Steuerkaſſe ver-
waltet und in endloſen Händeln beſtändig verſucht hatte, der Königlichen
Kaſſe die volle Hälfte der Staatsausgaben aufzubürden. Dem Monarchen
brachte die Kaſſenvereinigung nur Vortheil; ſie überhob ihn des unwür-
digen Streites mit den Schatzräthen und erhöhte ſein freies Einkommen
auf mehr als das Doppelte. Gleichwohl entſchloß ſich der König nur
ſchwer, in die unabweisbare Reform zu willigen, denn er kannte ſeine
deutſchen Stammlande kaum und beurtheilte ſie nach dem engliſchen
Maßſtabe. Gerade in England, wo doch Begriff und Name der Civil-
liſte entſtanden waren, hatte die Krone ſtets aus der Civilliſte einen
Theil der Staatsverwaltungskoſten beſtritten, und erſt ganz neuerdings,
1831, war es dem Cabinet Grey nach ſchweren Kämpfen gelungen, Hof-
ausgaben und Staatsausgaben ſcharf zu ſondern. Die Torys aber

*) Ich benutze hier u. A. eine handſchriftliche Biographie Stüve’s von deſſen
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[160/0174] IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland. Glauben, daß man die Politik von der Moral nicht ſcheiden könne: „Wenn ich hierin mich irrte, ich würde keine Stunde mehr mit der Politik mich beſchäftigen.“ Ihm war kein Zweifel, daß man der Erhaltung den Vorzug geben müſſe vor der Verbeſſerung, weil Erhaltung zugleich Bedingung der Verbeſſerung ſei. Das Zünglein in der Wage war Stüve, der durch ſeine Sachkenntniß, ſeinen praktiſchen Verſtand, ſeine herriſche, aber auch rechtzeitig vermit- telnde Haltung die Verhandlungen immer wieder auf nahe, erreichbare Ziele zu lenken wußte. Rehberg nannte ihn „die Seele der Reform, die Hoffnung meines zur Arbeit unfähigen Alters“; Wallmoden ſchloß ſich ihm als treuer Helfer an, verſöhnend und beſchwichtigend ſo oft der ge- ſtrenge kleine Osnabrücker durch ſeine Schärfe verletzte. Durch eine Schrift „über die gegenwärtige Lage Hannovers“ hatte Stüve ſoeben abermals bewieſen, wie richtig er die Mächte des Beharrens in ſeinem Lande zu ſchätzen wußte. Eine Verfaſſung war ihm nur werthvoll, „wenn ihre Grundſätze durch die Verwaltung lebendig werden“. Ueber die „Kanne- gießerei“ der ſüddeutſchen Liberalen urtheilte er ſehr abſchätzig: ſie verſtehen nur auf Rußland zu ſchimpfen, die Polen zu verherrlichen und nach Preßfreiheit zu ſchreien. *) Das neue Staatsgrundgeſetz, ſo ſagte er oft, ſollte nicht einer theoretiſchen Schablone entſprechen, ſondern die im täg- lichen Leben fühlbaren Mißſtände beſeitigen, und unter dieſen ſtellte er das alte Syſtem der Kaſſentrennung obenan. Die Regierung gab nur dem allgemeinen Wunſche des Landes nach, als ſie dem Landtage vorſchlug, daß die königliche Domänenkaſſe mit der ſtändiſchen Generalſteuerkaſſe ver- einigt werden, der König aber zur Beſtreitung der Koſten ſeines Hofhalts ſich eine Anzahl Domänen als Krondotation auswählen ſolle. Damit ward die Einheit des Staatshaushaltes hergeſtellt und das ſtändiſche Schatzcollegium aufgehoben, das bisher die Steuerkaſſe ver- waltet und in endloſen Händeln beſtändig verſucht hatte, der Königlichen Kaſſe die volle Hälfte der Staatsausgaben aufzubürden. Dem Monarchen brachte die Kaſſenvereinigung nur Vortheil; ſie überhob ihn des unwür- digen Streites mit den Schatzräthen und erhöhte ſein freies Einkommen auf mehr als das Doppelte. Gleichwohl entſchloß ſich der König nur ſchwer, in die unabweisbare Reform zu willigen, denn er kannte ſeine deutſchen Stammlande kaum und beurtheilte ſie nach dem engliſchen Maßſtabe. Gerade in England, wo doch Begriff und Name der Civil- liſte entſtanden waren, hatte die Krone ſtets aus der Civilliſte einen Theil der Staatsverwaltungskoſten beſtritten, und erſt ganz neuerdings, 1831, war es dem Cabinet Grey nach ſchweren Kämpfen gelungen, Hof- ausgaben und Staatsausgaben ſcharf zu ſondern. Die Torys aber *) Ich benutze hier u. A. eine handſchriftliche Biographie Stüve’s von deſſen Neffen, Hrn. Regierungspräſidenten Stüve in Osnabrück.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/174>, abgerufen am 05.12.2024.