IV. 2. Die constitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
vater leibhaftig in ihrer Mitte erschien, auch gegen die Gräfin hatten sie nichts einzuwenden; sie hofften, ihre Stadt werde wieder wie vor Zeiten Residenz werden, und gewannen Wilhelm's Herz durch unterthänige Beflissenheit so gänzlich, daß er sich selber zum Chef ihrer Bürgergarde ernannte. Warum sollten diese südlichen Provinzen, nachdem sie schon das althessische Mauthwesen abgeschüttelt, nicht einen selbständigen Klein- staat unter dem alten Kurfürsten bilden? -- solche Pläne wurden bereits beim Schoppen von begeisterten Hanauer Patrioten erörtert.
Während die Minister in Cassel redlich an den neuen organischen Ge- setzen arbeiteten, bildete der Kurfürst mit der Gräfin und ihrem Meysenbug eine geheimnißvolle absolutistische Gegen-Regierung im schönen Schlosse Philippsruhe am Main; die Bürgerfeste der Casseler wurden durch aller- hand rohen Muthwillen gestört, und Jedermann argwöhnte, daß die Unruh- stifter ihre Weisungen von der Reichenbach empfingen. Während jene den Beitritt zum preußischen Zollvereine vorbereiteten, stand der Kurfürst in Verkehr mit der benachbarten österreichischen Bundesgesandtschaft und suchte insgeheim jede Annäherung an Preußen zu vereiteln. Nach dem Buch- staben der Verfassung war er in seinem guten Rechte, denn diese verbot ihm nur den Sitz der Regierung außer Landes zu verlegen; auf die Dauer mußte ein solches Doppel-Regiment doch unerträglich werden. Die Casseler murrten, weil ihnen die Kundschaft des Hofes entzogen und sogar das unentbehrliche Hoftheater geschlossen wurde; umsonst hielt Hänlein den Stadträthen vertraulich vor, nach so grober Verletzung der Ehrerbietung sei die Stadt doch verpflichtet, sich bei dem beleidigten Landesherrn zu entschuldigen. Heißsporne meinten schon: da der Kurfürst an der Aus- übung der Regierung verhindert sei, so müsse seine Gemahlin die Regent- schaft übernehmen.
Im April wurde der neue Landtag gewählt, ohne heftigen Kampf, noch nach der stillen Weise der alten Zeit. Die Abgeordneten gehörten in ihrer großen Mehrheit der liberalen Partei an; sie beschlossen den Kur- fürsten durch Abgesandte zur Rückkehr aufzufordern, weil er im Hanauer Lande "des verfassungsmäßigen Rathes der verantwortlichen Minister fast gänzlich entbehre". Der aber antwortete durch heftige Vorwürfe gegen die Undankbarkeit seiner Unterthanen; seine Casseler ließ er bedeuten, durch Worte könne das Andenken übler Thaten nicht verlöscht werden. Im Landtage brach die gereizte Stimmung überall durch. Der Voran- schlag wies ein Deficit von fast 0,4 Mill. Thlr. bei einer Gesammtein- nahme von kaum 2,888 Mill. auf. Allein das Heer mit seinen 9000 Mann erforderte eine Million, und manche neue unabweisbare Ausgaben standen noch bevor; so sollten "die Amerikaner", jene unglücklichen einst an England verkauften Soldaten, endlich einen bescheidenen Ruhegehalt empfangen, aber nur die im Lande lebenden, denn gegen Ausländer, also beschloß der Landtag, dürfe man "bei der allgemeinen Landesnoth keine unnöthige
IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
vater leibhaftig in ihrer Mitte erſchien, auch gegen die Gräfin hatten ſie nichts einzuwenden; ſie hofften, ihre Stadt werde wieder wie vor Zeiten Reſidenz werden, und gewannen Wilhelm’s Herz durch unterthänige Befliſſenheit ſo gänzlich, daß er ſich ſelber zum Chef ihrer Bürgergarde ernannte. Warum ſollten dieſe ſüdlichen Provinzen, nachdem ſie ſchon das altheſſiſche Mauthweſen abgeſchüttelt, nicht einen ſelbſtändigen Klein- ſtaat unter dem alten Kurfürſten bilden? — ſolche Pläne wurden bereits beim Schoppen von begeiſterten Hanauer Patrioten erörtert.
Während die Miniſter in Caſſel redlich an den neuen organiſchen Ge- ſetzen arbeiteten, bildete der Kurfürſt mit der Gräfin und ihrem Meyſenbug eine geheimnißvolle abſolutiſtiſche Gegen-Regierung im ſchönen Schloſſe Philippsruhe am Main; die Bürgerfeſte der Caſſeler wurden durch aller- hand rohen Muthwillen geſtört, und Jedermann argwöhnte, daß die Unruh- ſtifter ihre Weiſungen von der Reichenbach empfingen. Während jene den Beitritt zum preußiſchen Zollvereine vorbereiteten, ſtand der Kurfürſt in Verkehr mit der benachbarten öſterreichiſchen Bundesgeſandtſchaft und ſuchte insgeheim jede Annäherung an Preußen zu vereiteln. Nach dem Buch- ſtaben der Verfaſſung war er in ſeinem guten Rechte, denn dieſe verbot ihm nur den Sitz der Regierung außer Landes zu verlegen; auf die Dauer mußte ein ſolches Doppel-Regiment doch unerträglich werden. Die Caſſeler murrten, weil ihnen die Kundſchaft des Hofes entzogen und ſogar das unentbehrliche Hoftheater geſchloſſen wurde; umſonſt hielt Hänlein den Stadträthen vertraulich vor, nach ſo grober Verletzung der Ehrerbietung ſei die Stadt doch verpflichtet, ſich bei dem beleidigten Landesherrn zu entſchuldigen. Heißſporne meinten ſchon: da der Kurfürſt an der Aus- übung der Regierung verhindert ſei, ſo müſſe ſeine Gemahlin die Regent- ſchaft übernehmen.
Im April wurde der neue Landtag gewählt, ohne heftigen Kampf, noch nach der ſtillen Weiſe der alten Zeit. Die Abgeordneten gehörten in ihrer großen Mehrheit der liberalen Partei an; ſie beſchloſſen den Kur- fürſten durch Abgeſandte zur Rückkehr aufzufordern, weil er im Hanauer Lande „des verfaſſungsmäßigen Rathes der verantwortlichen Miniſter faſt gänzlich entbehre“. Der aber antwortete durch heftige Vorwürfe gegen die Undankbarkeit ſeiner Unterthanen; ſeine Caſſeler ließ er bedeuten, durch Worte könne das Andenken übler Thaten nicht verlöſcht werden. Im Landtage brach die gereizte Stimmung überall durch. Der Voran- ſchlag wies ein Deficit von faſt 0,4 Mill. Thlr. bei einer Geſammtein- nahme von kaum 2,888 Mill. auf. Allein das Heer mit ſeinen 9000 Mann erforderte eine Million, und manche neue unabweisbare Ausgaben ſtanden noch bevor; ſo ſollten „die Amerikaner“, jene unglücklichen einſt an England verkauften Soldaten, endlich einen beſcheidenen Ruhegehalt empfangen, aber nur die im Lande lebenden, denn gegen Ausländer, alſo beſchloß der Landtag, dürfe man „bei der allgemeinen Landesnoth keine unnöthige
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IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
vater leibhaftig in ihrer Mitte erſchien, auch gegen die Gräfin hatten ſie
nichts einzuwenden; ſie hofften, ihre Stadt werde wieder wie vor Zeiten
Reſidenz werden, und gewannen Wilhelm’s Herz durch unterthänige
Befliſſenheit ſo gänzlich, daß er ſich ſelber zum Chef ihrer Bürgergarde
ernannte. Warum ſollten dieſe ſüdlichen Provinzen, nachdem ſie ſchon
das altheſſiſche Mauthweſen abgeſchüttelt, nicht einen ſelbſtändigen Klein-
ſtaat unter dem alten Kurfürſten bilden? — ſolche Pläne wurden bereits
beim Schoppen von begeiſterten Hanauer Patrioten erörtert.
Während die Miniſter in Caſſel redlich an den neuen organiſchen Ge-
ſetzen arbeiteten, bildete der Kurfürſt mit der Gräfin und ihrem Meyſenbug
eine geheimnißvolle abſolutiſtiſche Gegen-Regierung im ſchönen Schloſſe
Philippsruhe am Main; die Bürgerfeſte der Caſſeler wurden durch aller-
hand rohen Muthwillen geſtört, und Jedermann argwöhnte, daß die Unruh-
ſtifter ihre Weiſungen von der Reichenbach empfingen. Während jene den
Beitritt zum preußiſchen Zollvereine vorbereiteten, ſtand der Kurfürſt in
Verkehr mit der benachbarten öſterreichiſchen Bundesgeſandtſchaft und ſuchte
insgeheim jede Annäherung an Preußen zu vereiteln. Nach dem Buch-
ſtaben der Verfaſſung war er in ſeinem guten Rechte, denn dieſe verbot ihm
nur den Sitz der Regierung außer Landes zu verlegen; auf die Dauer
mußte ein ſolches Doppel-Regiment doch unerträglich werden. Die Caſſeler
murrten, weil ihnen die Kundſchaft des Hofes entzogen und ſogar das
unentbehrliche Hoftheater geſchloſſen wurde; umſonſt hielt Hänlein den
Stadträthen vertraulich vor, nach ſo grober Verletzung der Ehrerbietung
ſei die Stadt doch verpflichtet, ſich bei dem beleidigten Landesherrn zu
entſchuldigen. Heißſporne meinten ſchon: da der Kurfürſt an der Aus-
übung der Regierung verhindert ſei, ſo müſſe ſeine Gemahlin die Regent-
ſchaft übernehmen.
Im April wurde der neue Landtag gewählt, ohne heftigen Kampf,
noch nach der ſtillen Weiſe der alten Zeit. Die Abgeordneten gehörten in
ihrer großen Mehrheit der liberalen Partei an; ſie beſchloſſen den Kur-
fürſten durch Abgeſandte zur Rückkehr aufzufordern, weil er im Hanauer
Lande „des verfaſſungsmäßigen Rathes der verantwortlichen Miniſter faſt
gänzlich entbehre“. Der aber antwortete durch heftige Vorwürfe gegen
die Undankbarkeit ſeiner Unterthanen; ſeine Caſſeler ließ er bedeuten,
durch Worte könne das Andenken übler Thaten nicht verlöſcht werden.
Im Landtage brach die gereizte Stimmung überall durch. Der Voran-
ſchlag wies ein Deficit von faſt 0,4 Mill. Thlr. bei einer Geſammtein-
nahme von kaum 2,888 Mill. auf. Allein das Heer mit ſeinen 9000 Mann
erforderte eine Million, und manche neue unabweisbare Ausgaben ſtanden
noch bevor; ſo ſollten „die Amerikaner“, jene unglücklichen einſt an England
verkauften Soldaten, endlich einen beſcheidenen Ruhegehalt empfangen,
aber nur die im Lande lebenden, denn gegen Ausländer, alſo beſchloß der
Landtag, dürfe man „bei der allgemeinen Landesnoth keine unnöthige
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/152>, abgerufen am 05.12.2024.
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