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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 10. Preußen und die orientalische Frage.
Jahrzehnten gesetzlich geordnet war, und selbst den Großfürsten Nikolaus,
dem nunmehr die Krone gebührte, nicht unterrichtet. Verwundert sah nun
die Welt das unerhörte Schauspiel, wie zwei fürstliche Brüder nicht um
den Besitz, sondern um die Zurückweisung einer mächtigen Krone mitein-
ander rangen. Nikolaus huldigte mit den Truppen der Hauptstadt dem
älteren Bruder, der fern in Warschau weilte; drei Wochen lang blieb das
ungeheuere Reich ohne anerkannten Herrscher. Da erst, auf Constantins
wiederholten Befehl, entschloß sich Nikolaus, die Krone zu übernehmen,
aber der neue Thronwechsel bewog jene Verschworenen, deren Anschläge
der sterbende Alexander noch erfahren hatte, vor der Zeit loszubrechen.
Der lange Aufenthalt des russischen Heeres in Frankreich trug jetzt seine
Früchte. Oberst Pestel und viele andere der begabtesten und vornehmsten
Officiere von der Garde waren einig in dem tollen Gedanken, diesem
Reiche eine republikanische Verfassung aufzuerlegen -- durch meuterische
Soldaten, die in einem Athem das Väterchen Constantin und seine Frau,
die Constitution hoch leben ließen. Der Straßenaufruhr in Petersburg ward
niedergeworfen, die Verschworenen in den Südprovinzen, noch ehe sie los-
schlagen konnten, verhaftet. Ein furchtbares Strafgericht erging über die
unglücklichen Dekabristen.

So über Leichen hinweg stieg Czar Nikolaus auf den Thron, der
härteste Selbstherrscher des Jahrhunderts, ein Mann ohne Nerven, streng,
nüchtern, ausdauernd, pflichtgetreu, willensstark, ein beschränkter Kopf, der
gerade durch seine Gedankenarmuth, durch die zweifellose Bestimmtheit
seiner dürftigen Begriffe in einer Zeit der Gährung und des Zweifels
sicher, furchtbar, groß erschien. Für das Heer erzogen, hatte der junge
Großfürst von seinem kaiserlichen Bruder, der ihn wie einen Sohn be-
vormundete, nicht die Erlaubniß zur Theilnahme an den Befreiungskriegen
erlangen und darum auch nicht durch den Augenschein lernen können, wie
schwach in Wahrheit die Streitkräfte waren, welche das gefürchtete Ruß-
land nach Westeuropa sendete. Erst nach dem Frieden bereiste er die
Schlachtfelder und folgte im Geiste dem Siegesfluge des Doppeladlers
von der Moskwa bis zur Seine; urtheilslos glaubte er Alles, was ihm
unterthänige Begleiter von den Wundern moskowitischer Tapferkeit er-
zählten und kehrte heim mit der festen Ueberzeugung, daß Rußland allein
die Welt befreit habe. Unbegrenzt erschien ihm jetzt die Gewalt des weißen
Czaren. Die überspannten Vorstellungen von Rußlands Macht, welche
er überall an den Höfen des Westens verbreitet fand, mußten ihn in
solcher Ansicht bestärken; und wenn er nachher durch ein Menschenalter
im Besitze dieser göttergleichen Macht schwelgen konnte, ohne dem Wahn-
sinn der Cäsaren zu verfallen, so verdankte er dies Glück lediglich seinem
stählernen Körper und der schwunglosen Mittelmäßigkeit seines Geistes.
Härter ward er wohl mit den Jahren, doch das Gleichgewicht der Seele
verlor er niemals. Nach der Heimkehr lebte er ganz seinem militärischen

III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage.
Jahrzehnten geſetzlich geordnet war, und ſelbſt den Großfürſten Nikolaus,
dem nunmehr die Krone gebührte, nicht unterrichtet. Verwundert ſah nun
die Welt das unerhörte Schauſpiel, wie zwei fürſtliche Brüder nicht um
den Beſitz, ſondern um die Zurückweiſung einer mächtigen Krone mitein-
ander rangen. Nikolaus huldigte mit den Truppen der Hauptſtadt dem
älteren Bruder, der fern in Warſchau weilte; drei Wochen lang blieb das
ungeheuere Reich ohne anerkannten Herrſcher. Da erſt, auf Conſtantins
wiederholten Befehl, entſchloß ſich Nikolaus, die Krone zu übernehmen,
aber der neue Thronwechſel bewog jene Verſchworenen, deren Anſchläge
der ſterbende Alexander noch erfahren hatte, vor der Zeit loszubrechen.
Der lange Aufenthalt des ruſſiſchen Heeres in Frankreich trug jetzt ſeine
Früchte. Oberſt Peſtel und viele andere der begabteſten und vornehmſten
Officiere von der Garde waren einig in dem tollen Gedanken, dieſem
Reiche eine republikaniſche Verfaſſung aufzuerlegen — durch meuteriſche
Soldaten, die in einem Athem das Väterchen Conſtantin und ſeine Frau,
die Conſtitution hoch leben ließen. Der Straßenaufruhr in Petersburg ward
niedergeworfen, die Verſchworenen in den Südprovinzen, noch ehe ſie los-
ſchlagen konnten, verhaftet. Ein furchtbares Strafgericht erging über die
unglücklichen Dekabriſten.

So über Leichen hinweg ſtieg Czar Nikolaus auf den Thron, der
härteſte Selbſtherrſcher des Jahrhunderts, ein Mann ohne Nerven, ſtreng,
nüchtern, ausdauernd, pflichtgetreu, willensſtark, ein beſchränkter Kopf, der
gerade durch ſeine Gedankenarmuth, durch die zweifelloſe Beſtimmtheit
ſeiner dürftigen Begriffe in einer Zeit der Gährung und des Zweifels
ſicher, furchtbar, groß erſchien. Für das Heer erzogen, hatte der junge
Großfürſt von ſeinem kaiſerlichen Bruder, der ihn wie einen Sohn be-
vormundete, nicht die Erlaubniß zur Theilnahme an den Befreiungskriegen
erlangen und darum auch nicht durch den Augenſchein lernen können, wie
ſchwach in Wahrheit die Streitkräfte waren, welche das gefürchtete Ruß-
land nach Weſteuropa ſendete. Erſt nach dem Frieden bereiſte er die
Schlachtfelder und folgte im Geiſte dem Siegesfluge des Doppeladlers
von der Moskwa bis zur Seine; urtheilslos glaubte er Alles, was ihm
unterthänige Begleiter von den Wundern moskowitiſcher Tapferkeit er-
zählten und kehrte heim mit der feſten Ueberzeugung, daß Rußland allein
die Welt befreit habe. Unbegrenzt erſchien ihm jetzt die Gewalt des weißen
Czaren. Die überſpannten Vorſtellungen von Rußlands Macht, welche
er überall an den Höfen des Weſtens verbreitet fand, mußten ihn in
ſolcher Anſicht beſtärken; und wenn er nachher durch ein Menſchenalter
im Beſitze dieſer göttergleichen Macht ſchwelgen konnte, ohne dem Wahn-
ſinn der Cäſaren zu verfallen, ſo verdankte er dies Glück lediglich ſeinem
ſtählernen Körper und der ſchwungloſen Mittelmäßigkeit ſeines Geiſtes.
Härter ward er wohl mit den Jahren, doch das Gleichgewicht der Seele
verlor er niemals. Nach der Heimkehr lebte er ganz ſeinem militäriſchen

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[726/0742] III. 10. Preußen und die orientaliſche Frage. Jahrzehnten geſetzlich geordnet war, und ſelbſt den Großfürſten Nikolaus, dem nunmehr die Krone gebührte, nicht unterrichtet. Verwundert ſah nun die Welt das unerhörte Schauſpiel, wie zwei fürſtliche Brüder nicht um den Beſitz, ſondern um die Zurückweiſung einer mächtigen Krone mitein- ander rangen. Nikolaus huldigte mit den Truppen der Hauptſtadt dem älteren Bruder, der fern in Warſchau weilte; drei Wochen lang blieb das ungeheuere Reich ohne anerkannten Herrſcher. Da erſt, auf Conſtantins wiederholten Befehl, entſchloß ſich Nikolaus, die Krone zu übernehmen, aber der neue Thronwechſel bewog jene Verſchworenen, deren Anſchläge der ſterbende Alexander noch erfahren hatte, vor der Zeit loszubrechen. Der lange Aufenthalt des ruſſiſchen Heeres in Frankreich trug jetzt ſeine Früchte. Oberſt Peſtel und viele andere der begabteſten und vornehmſten Officiere von der Garde waren einig in dem tollen Gedanken, dieſem Reiche eine republikaniſche Verfaſſung aufzuerlegen — durch meuteriſche Soldaten, die in einem Athem das Väterchen Conſtantin und ſeine Frau, die Conſtitution hoch leben ließen. Der Straßenaufruhr in Petersburg ward niedergeworfen, die Verſchworenen in den Südprovinzen, noch ehe ſie los- ſchlagen konnten, verhaftet. Ein furchtbares Strafgericht erging über die unglücklichen Dekabriſten. So über Leichen hinweg ſtieg Czar Nikolaus auf den Thron, der härteſte Selbſtherrſcher des Jahrhunderts, ein Mann ohne Nerven, ſtreng, nüchtern, ausdauernd, pflichtgetreu, willensſtark, ein beſchränkter Kopf, der gerade durch ſeine Gedankenarmuth, durch die zweifelloſe Beſtimmtheit ſeiner dürftigen Begriffe in einer Zeit der Gährung und des Zweifels ſicher, furchtbar, groß erſchien. Für das Heer erzogen, hatte der junge Großfürſt von ſeinem kaiſerlichen Bruder, der ihn wie einen Sohn be- vormundete, nicht die Erlaubniß zur Theilnahme an den Befreiungskriegen erlangen und darum auch nicht durch den Augenſchein lernen können, wie ſchwach in Wahrheit die Streitkräfte waren, welche das gefürchtete Ruß- land nach Weſteuropa ſendete. Erſt nach dem Frieden bereiſte er die Schlachtfelder und folgte im Geiſte dem Siegesfluge des Doppeladlers von der Moskwa bis zur Seine; urtheilslos glaubte er Alles, was ihm unterthänige Begleiter von den Wundern moskowitiſcher Tapferkeit er- zählten und kehrte heim mit der feſten Ueberzeugung, daß Rußland allein die Welt befreit habe. Unbegrenzt erſchien ihm jetzt die Gewalt des weißen Czaren. Die überſpannten Vorſtellungen von Rußlands Macht, welche er überall an den Höfen des Weſtens verbreitet fand, mußten ihn in ſolcher Anſicht beſtärken; und wenn er nachher durch ein Menſchenalter im Beſitze dieſer göttergleichen Macht ſchwelgen konnte, ohne dem Wahn- ſinn der Cäſaren zu verfallen, ſo verdankte er dies Glück lediglich ſeinem ſtählernen Körper und der ſchwungloſen Mittelmäßigkeit ſeines Geiſtes. Härter ward er wohl mit den Jahren, doch das Gleichgewicht der Seele verlor er niemals. Nach der Heimkehr lebte er ganz ſeinem militäriſchen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 726. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/742>, abgerufen am 25.11.2024.