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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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W. Humboldt. Schlosser.
Hinter schroffen, rauhen Formen verbarg er schamhaft ein zartes, reiches
Gemüth. Erst in reifen Jahren gelangte er durch den Einfluß sanfter,
edler Frauen zum inneren Frieden und führte fortan in Heidelberg viele
Jahre lang ein stilles Gelehrtenleben: die Selbstbeschauung und Selbst-
vollendung der freien Persönlichkeit blieb ihm des Daseins höchster Zweck.
Der starke mystische Zug, der in seiner Seele dicht neben dem philosophi-
schen Erkenntnißdrange lag, fand seine Befriedigung in Dante's Werken.
Mit diesem Dichter lebte er in allen guten Stunden, und weil er wußte,
daß die Thatsachen der Geschichte erst vor dem Richterstuhle des Gewissens
Sinn und Bedeutung erhalten, so meinte er sich berufen, gleich seinem
Dante ein historisches Weltgericht zu halten, über den sittlichen Werth und
Unwerth alles Geschehenen nach dem strengen Gesetze Kantischer Pflichten-
lehre abzuurtheilen. Seine wissenschaftliche Stärke lag in der umfassenden
Kenntniß der Literaturgeschichte; er zuerst in Deutschland versuchte die
Entwicklung der Dichtung und Wissenschaft in ihrem Zusammenhange
mit dem gesammten Schicksal der Völker darzustellen.

Und dieser durchaus unpolitische Gelehrte wurde gleichwohl ein Wort-
führer der öffentlichen Meinung, weil er der erste rein bürgerliche Histo-
riker Deutschlands war. Einem freien Bauernlande entsprossen hatte er
einst an dem kleinen Hofe von Varel das wüste Treiben der Emigranten
mit angesehen, das seinen angeborenen Adelshaß bis zum Abscheu steigerte.
Unter den Rechtssätzen seines Kant stand ihm keiner so fest wie der Grund-
satz der Rechtsgleichheit für alle Theilnehmer am Staatsvertrage. Das
Selbstgefühl des Bürgerthums, das so mächtig anwuchs seit die neue
überwiegend bürgerliche Literatur die Nation beherrschte, fand in Schlosser's
Schriften den lautesten und trotzigsten Ausdruck. Darum galt er für
liberal, obwohl er sich den constitutionellen Ideen nie befreunden konnte;
darum wurde er trotz seiner ausgeprägten niederdeutschen Eigenart den
Süddeutschen fast ebenso lieb wie ihr Rotteck, denn dort im Oberlande
war die bürgerliche Gesinnung zur Zeit noch am stärksten. Schlosser be-
trachtete den Staat grundsätzlich nur von unten her, vom Standpunkte
der Regierten; niemals versuchte er sich in die Lage der Regierenden
hineinzudenken, den Zwang der Umstände, der ihre Entschlüsse bestimmte,
billig zu würdigen. Da er, wie alle Gemüthsmenschen, jede Verletzung
seines sittlichen Gefühls mit leidenschaftlicher Bitterkeit empfand, so zeigte
das sittliche Weltgericht, das er halten wollte, sehr wenig von der Erhaben-
heit der Göttlichen Komödie. Ungeschlacht wie er war, ohne Sinn für
den Adel der Form, gerieth er in ein heftiges Poltern und Schelten, die
Freude an der historischen Größe ging ihm verloren, und den Lesern blieb
der trostlose Eindruck, als ob die vielgestaltige Herrlichkeit der Geschichte
nur ein ödes Einerlei glücklicher Schurkenstreiche wäre. Eben diese un-
gerechte und unpolitische Härte des moralischen Urtheils gewann ihm die
Herzen der Mittelstände; denn die strenge Kantische Pflichtenlehre war,

W. Humboldt. Schloſſer.
Hinter ſchroffen, rauhen Formen verbarg er ſchamhaft ein zartes, reiches
Gemüth. Erſt in reifen Jahren gelangte er durch den Einfluß ſanfter,
edler Frauen zum inneren Frieden und führte fortan in Heidelberg viele
Jahre lang ein ſtilles Gelehrtenleben: die Selbſtbeſchauung und Selbſt-
vollendung der freien Perſönlichkeit blieb ihm des Daſeins höchſter Zweck.
Der ſtarke myſtiſche Zug, der in ſeiner Seele dicht neben dem philoſophi-
ſchen Erkenntnißdrange lag, fand ſeine Befriedigung in Dante’s Werken.
Mit dieſem Dichter lebte er in allen guten Stunden, und weil er wußte,
daß die Thatſachen der Geſchichte erſt vor dem Richterſtuhle des Gewiſſens
Sinn und Bedeutung erhalten, ſo meinte er ſich berufen, gleich ſeinem
Dante ein hiſtoriſches Weltgericht zu halten, über den ſittlichen Werth und
Unwerth alles Geſchehenen nach dem ſtrengen Geſetze Kantiſcher Pflichten-
lehre abzuurtheilen. Seine wiſſenſchaftliche Stärke lag in der umfaſſenden
Kenntniß der Literaturgeſchichte; er zuerſt in Deutſchland verſuchte die
Entwicklung der Dichtung und Wiſſenſchaft in ihrem Zuſammenhange
mit dem geſammten Schickſal der Völker darzuſtellen.

Und dieſer durchaus unpolitiſche Gelehrte wurde gleichwohl ein Wort-
führer der öffentlichen Meinung, weil er der erſte rein bürgerliche Hiſto-
riker Deutſchlands war. Einem freien Bauernlande entſproſſen hatte er
einſt an dem kleinen Hofe von Varel das wüſte Treiben der Emigranten
mit angeſehen, das ſeinen angeborenen Adelshaß bis zum Abſcheu ſteigerte.
Unter den Rechtsſätzen ſeines Kant ſtand ihm keiner ſo feſt wie der Grund-
ſatz der Rechtsgleichheit für alle Theilnehmer am Staatsvertrage. Das
Selbſtgefühl des Bürgerthums, das ſo mächtig anwuchs ſeit die neue
überwiegend bürgerliche Literatur die Nation beherrſchte, fand in Schloſſer’s
Schriften den lauteſten und trotzigſten Ausdruck. Darum galt er für
liberal, obwohl er ſich den conſtitutionellen Ideen nie befreunden konnte;
darum wurde er trotz ſeiner ausgeprägten niederdeutſchen Eigenart den
Süddeutſchen faſt ebenſo lieb wie ihr Rotteck, denn dort im Oberlande
war die bürgerliche Geſinnung zur Zeit noch am ſtärkſten. Schloſſer be-
trachtete den Staat grundſätzlich nur von unten her, vom Standpunkte
der Regierten; niemals verſuchte er ſich in die Lage der Regierenden
hineinzudenken, den Zwang der Umſtände, der ihre Entſchlüſſe beſtimmte,
billig zu würdigen. Da er, wie alle Gemüthsmenſchen, jede Verletzung
ſeines ſittlichen Gefühls mit leidenſchaftlicher Bitterkeit empfand, ſo zeigte
das ſittliche Weltgericht, das er halten wollte, ſehr wenig von der Erhaben-
heit der Göttlichen Komödie. Ungeſchlacht wie er war, ohne Sinn für
den Adel der Form, gerieth er in ein heftiges Poltern und Schelten, die
Freude an der hiſtoriſchen Größe ging ihm verloren, und den Leſern blieb
der troſtloſe Eindruck, als ob die vielgeſtaltige Herrlichkeit der Geſchichte
nur ein ödes Einerlei glücklicher Schurkenſtreiche wäre. Eben dieſe un-
gerechte und unpolitiſche Härte des moraliſchen Urtheils gewann ihm die
Herzen der Mittelſtände; denn die ſtrenge Kantiſche Pflichtenlehre war,

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[697/0713] W. Humboldt. Schloſſer. Hinter ſchroffen, rauhen Formen verbarg er ſchamhaft ein zartes, reiches Gemüth. Erſt in reifen Jahren gelangte er durch den Einfluß ſanfter, edler Frauen zum inneren Frieden und führte fortan in Heidelberg viele Jahre lang ein ſtilles Gelehrtenleben: die Selbſtbeſchauung und Selbſt- vollendung der freien Perſönlichkeit blieb ihm des Daſeins höchſter Zweck. Der ſtarke myſtiſche Zug, der in ſeiner Seele dicht neben dem philoſophi- ſchen Erkenntnißdrange lag, fand ſeine Befriedigung in Dante’s Werken. Mit dieſem Dichter lebte er in allen guten Stunden, und weil er wußte, daß die Thatſachen der Geſchichte erſt vor dem Richterſtuhle des Gewiſſens Sinn und Bedeutung erhalten, ſo meinte er ſich berufen, gleich ſeinem Dante ein hiſtoriſches Weltgericht zu halten, über den ſittlichen Werth und Unwerth alles Geſchehenen nach dem ſtrengen Geſetze Kantiſcher Pflichten- lehre abzuurtheilen. Seine wiſſenſchaftliche Stärke lag in der umfaſſenden Kenntniß der Literaturgeſchichte; er zuerſt in Deutſchland verſuchte die Entwicklung der Dichtung und Wiſſenſchaft in ihrem Zuſammenhange mit dem geſammten Schickſal der Völker darzuſtellen. Und dieſer durchaus unpolitiſche Gelehrte wurde gleichwohl ein Wort- führer der öffentlichen Meinung, weil er der erſte rein bürgerliche Hiſto- riker Deutſchlands war. Einem freien Bauernlande entſproſſen hatte er einſt an dem kleinen Hofe von Varel das wüſte Treiben der Emigranten mit angeſehen, das ſeinen angeborenen Adelshaß bis zum Abſcheu ſteigerte. Unter den Rechtsſätzen ſeines Kant ſtand ihm keiner ſo feſt wie der Grund- ſatz der Rechtsgleichheit für alle Theilnehmer am Staatsvertrage. Das Selbſtgefühl des Bürgerthums, das ſo mächtig anwuchs ſeit die neue überwiegend bürgerliche Literatur die Nation beherrſchte, fand in Schloſſer’s Schriften den lauteſten und trotzigſten Ausdruck. Darum galt er für liberal, obwohl er ſich den conſtitutionellen Ideen nie befreunden konnte; darum wurde er trotz ſeiner ausgeprägten niederdeutſchen Eigenart den Süddeutſchen faſt ebenſo lieb wie ihr Rotteck, denn dort im Oberlande war die bürgerliche Geſinnung zur Zeit noch am ſtärkſten. Schloſſer be- trachtete den Staat grundſätzlich nur von unten her, vom Standpunkte der Regierten; niemals verſuchte er ſich in die Lage der Regierenden hineinzudenken, den Zwang der Umſtände, der ihre Entſchlüſſe beſtimmte, billig zu würdigen. Da er, wie alle Gemüthsmenſchen, jede Verletzung ſeines ſittlichen Gefühls mit leidenſchaftlicher Bitterkeit empfand, ſo zeigte das ſittliche Weltgericht, das er halten wollte, ſehr wenig von der Erhaben- heit der Göttlichen Komödie. Ungeſchlacht wie er war, ohne Sinn für den Adel der Form, gerieth er in ein heftiges Poltern und Schelten, die Freude an der hiſtoriſchen Größe ging ihm verloren, und den Leſern blieb der troſtloſe Eindruck, als ob die vielgeſtaltige Herrlichkeit der Geſchichte nur ein ödes Einerlei glücklicher Schurkenſtreiche wäre. Eben dieſe un- gerechte und unpolitiſche Härte des moraliſchen Urtheils gewann ihm die Herzen der Mittelſtände; denn die ſtrenge Kantiſche Pflichtenlehre war,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 697. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/713>, abgerufen am 22.11.2024.