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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
die beiden Nationen. Den schwerfälligen, langsam erwarmenden, grund-
ehrlichen Holsten mißfiel das bewegliche und verschlagene dänische Wesen;
seit dem Königsgesetze herrschte auch im dänischen Staate ein bürgerlich-
bureaukratischer Geist, der sich mit der aristokratischen, altständischen Selbst-
verwaltung der Herzogthümer schwer vertrug. Aber noch waren diese
Gegensätze dem deutschen Grenzvolke nicht zum Bewußtsein gekommen.
Man hatte so lange Freud und Leid mit einander getheilt, so lange in
gemeinsamer Verehrung emporgeblickt zu den langweiligen oldenburgischen
Friedrichen und Christianen, die sich zumeist nur durch die Ziffer hinter
ihrem Namen von einander unterschieden, und noch in den zwanziger
Jahren sagte mancher ehrliche Deutsche in Schleswig arglos: Seeländer
und Jüten, Holsten und Isländer seien allesammt gute Dänen.

In vielhundertjährigem Sonderleben hatte der deutsche Particula-
rismus sich hier natürlich sehr stark und eigenartig ausgebildet. Er war
nicht eigentlich politisch, da der seltsame Zwitterzustand des Landes zu
politischem Ehrgeiz keinen Anlaß bot, sondern bekundete sich, ganz wie
bei den Schwaben, in der Unduldsamkeit eines unermeßlichen persönlichen
Selbstgefühls. Für den Kieler vom alten Schrot und Korn bestanden
auf Erden nur zwei Nationen: die "Butenminschen" und wir; die erstere
umfaßte Alles was über Lübeck und Hamburg hinaus bis zum Südpole
wohnte und wurde nur mit sehr gemäßigter Hochachtung betrachtet. Und
dies Selbstbewußtsein war nicht grundlos. Im Verlaufe einer ehren-
reichen Geschichte hatten sich diese Sachsen, Ditmarschen, Angeln und
Friesen ein lebendiges Gemeingefühl gebildet, ihre alte Volksfreiheit und
ihre deutsche Eigenart tapfer behauptet. Die vielgefeierte Holstentreue stand
selbst unter den treuen Deutschen in besonderem Ansehen, und wie viel
köstliche geistige Kraft hier noch schlummerte, das bewies im sechzehnten
und siebzehnten Jahrhundert die Kunstfertigkeit der holsteinischen Holz-
schnitzer, das bewiesen neuerdings Carstens und die beiden Niebuhr. Wäh-
rend der literarischen Bewegung des alten Jahrhunderts zeigte die ent-
legene Mark mehr dankbare Empfänglichkeit als schöpferische Kraft; nur der
Eutiner Freundeskreis der Stolberg, Voß, Boie, Jacobi und der Wands-
becker Bote des frommen Matthias Claudius zählten mit in den Kämpfen
der Zeit. Auch von der nationalen Leidenschaft des Befreiungskriegs ver-
spürte man in Schleswigholstein wenig. Aber in seiner Abgeschiedenheit
bewahrte sich das hochbegabte Volk eine glückliche Frische der Empfindung,
und in der nächsten Generation sollte dieser Boden, der so lange brach
gelegen, dem Vaterlande eine erstaunliche Fülle literarischer und politischer
Talente schenken.

Da der abwesende König seine deutschen Herzogthümer der Regel nach
sich selber überließ, so wurde Schleswigholstein, in noch höherem Maße
sogar als Hannover, ein Land des Herkommens und der uralten Gewohn-
heiten. Wie viele natürliche Gegensätze drängten sich hier auf dem schmalen

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
die beiden Nationen. Den ſchwerfälligen, langſam erwarmenden, grund-
ehrlichen Holſten mißfiel das bewegliche und verſchlagene däniſche Weſen;
ſeit dem Königsgeſetze herrſchte auch im däniſchen Staate ein bürgerlich-
bureaukratiſcher Geiſt, der ſich mit der ariſtokratiſchen, altſtändiſchen Selbſt-
verwaltung der Herzogthümer ſchwer vertrug. Aber noch waren dieſe
Gegenſätze dem deutſchen Grenzvolke nicht zum Bewußtſein gekommen.
Man hatte ſo lange Freud und Leid mit einander getheilt, ſo lange in
gemeinſamer Verehrung emporgeblickt zu den langweiligen oldenburgiſchen
Friedrichen und Chriſtianen, die ſich zumeiſt nur durch die Ziffer hinter
ihrem Namen von einander unterſchieden, und noch in den zwanziger
Jahren ſagte mancher ehrliche Deutſche in Schleswig arglos: Seeländer
und Jüten, Holſten und Isländer ſeien alleſammt gute Dänen.

In vielhundertjährigem Sonderleben hatte der deutſche Particula-
rismus ſich hier natürlich ſehr ſtark und eigenartig ausgebildet. Er war
nicht eigentlich politiſch, da der ſeltſame Zwitterzuſtand des Landes zu
politiſchem Ehrgeiz keinen Anlaß bot, ſondern bekundete ſich, ganz wie
bei den Schwaben, in der Unduldſamkeit eines unermeßlichen perſönlichen
Selbſtgefühls. Für den Kieler vom alten Schrot und Korn beſtanden
auf Erden nur zwei Nationen: die „Butenminſchen“ und wir; die erſtere
umfaßte Alles was über Lübeck und Hamburg hinaus bis zum Südpole
wohnte und wurde nur mit ſehr gemäßigter Hochachtung betrachtet. Und
dies Selbſtbewußtſein war nicht grundlos. Im Verlaufe einer ehren-
reichen Geſchichte hatten ſich dieſe Sachſen, Ditmarſchen, Angeln und
Frieſen ein lebendiges Gemeingefühl gebildet, ihre alte Volksfreiheit und
ihre deutſche Eigenart tapfer behauptet. Die vielgefeierte Holſtentreue ſtand
ſelbſt unter den treuen Deutſchen in beſonderem Anſehen, und wie viel
köſtliche geiſtige Kraft hier noch ſchlummerte, das bewies im ſechzehnten
und ſiebzehnten Jahrhundert die Kunſtfertigkeit der holſteiniſchen Holz-
ſchnitzer, das bewieſen neuerdings Carſtens und die beiden Niebuhr. Wäh-
rend der literariſchen Bewegung des alten Jahrhunderts zeigte die ent-
legene Mark mehr dankbare Empfänglichkeit als ſchöpferiſche Kraft; nur der
Eutiner Freundeskreis der Stolberg, Voß, Boie, Jacobi und der Wands-
becker Bote des frommen Matthias Claudius zählten mit in den Kämpfen
der Zeit. Auch von der nationalen Leidenſchaft des Befreiungskriegs ver-
ſpürte man in Schleswigholſtein wenig. Aber in ſeiner Abgeſchiedenheit
bewahrte ſich das hochbegabte Volk eine glückliche Friſche der Empfindung,
und in der nächſten Generation ſollte dieſer Boden, der ſo lange brach
gelegen, dem Vaterlande eine erſtaunliche Fülle literariſcher und politiſcher
Talente ſchenken.

Da der abweſende König ſeine deutſchen Herzogthümer der Regel nach
ſich ſelber überließ, ſo wurde Schleswigholſtein, in noch höherem Maße
ſogar als Hannover, ein Land des Herkommens und der uralten Gewohn-
heiten. Wie viele natürliche Gegenſätze drängten ſich hier auf dem ſchmalen

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[588/0604] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. die beiden Nationen. Den ſchwerfälligen, langſam erwarmenden, grund- ehrlichen Holſten mißfiel das bewegliche und verſchlagene däniſche Weſen; ſeit dem Königsgeſetze herrſchte auch im däniſchen Staate ein bürgerlich- bureaukratiſcher Geiſt, der ſich mit der ariſtokratiſchen, altſtändiſchen Selbſt- verwaltung der Herzogthümer ſchwer vertrug. Aber noch waren dieſe Gegenſätze dem deutſchen Grenzvolke nicht zum Bewußtſein gekommen. Man hatte ſo lange Freud und Leid mit einander getheilt, ſo lange in gemeinſamer Verehrung emporgeblickt zu den langweiligen oldenburgiſchen Friedrichen und Chriſtianen, die ſich zumeiſt nur durch die Ziffer hinter ihrem Namen von einander unterſchieden, und noch in den zwanziger Jahren ſagte mancher ehrliche Deutſche in Schleswig arglos: Seeländer und Jüten, Holſten und Isländer ſeien alleſammt gute Dänen. In vielhundertjährigem Sonderleben hatte der deutſche Particula- rismus ſich hier natürlich ſehr ſtark und eigenartig ausgebildet. Er war nicht eigentlich politiſch, da der ſeltſame Zwitterzuſtand des Landes zu politiſchem Ehrgeiz keinen Anlaß bot, ſondern bekundete ſich, ganz wie bei den Schwaben, in der Unduldſamkeit eines unermeßlichen perſönlichen Selbſtgefühls. Für den Kieler vom alten Schrot und Korn beſtanden auf Erden nur zwei Nationen: die „Butenminſchen“ und wir; die erſtere umfaßte Alles was über Lübeck und Hamburg hinaus bis zum Südpole wohnte und wurde nur mit ſehr gemäßigter Hochachtung betrachtet. Und dies Selbſtbewußtſein war nicht grundlos. Im Verlaufe einer ehren- reichen Geſchichte hatten ſich dieſe Sachſen, Ditmarſchen, Angeln und Frieſen ein lebendiges Gemeingefühl gebildet, ihre alte Volksfreiheit und ihre deutſche Eigenart tapfer behauptet. Die vielgefeierte Holſtentreue ſtand ſelbſt unter den treuen Deutſchen in beſonderem Anſehen, und wie viel köſtliche geiſtige Kraft hier noch ſchlummerte, das bewies im ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhundert die Kunſtfertigkeit der holſteiniſchen Holz- ſchnitzer, das bewieſen neuerdings Carſtens und die beiden Niebuhr. Wäh- rend der literariſchen Bewegung des alten Jahrhunderts zeigte die ent- legene Mark mehr dankbare Empfänglichkeit als ſchöpferiſche Kraft; nur der Eutiner Freundeskreis der Stolberg, Voß, Boie, Jacobi und der Wands- becker Bote des frommen Matthias Claudius zählten mit in den Kämpfen der Zeit. Auch von der nationalen Leidenſchaft des Befreiungskriegs ver- ſpürte man in Schleswigholſtein wenig. Aber in ſeiner Abgeſchiedenheit bewahrte ſich das hochbegabte Volk eine glückliche Friſche der Empfindung, und in der nächſten Generation ſollte dieſer Boden, der ſo lange brach gelegen, dem Vaterlande eine erſtaunliche Fülle literariſcher und politiſcher Talente ſchenken. Da der abweſende König ſeine deutſchen Herzogthümer der Regel nach ſich ſelber überließ, ſo wurde Schleswigholſtein, in noch höherem Maße ſogar als Hannover, ein Land des Herkommens und der uralten Gewohn- heiten. Wie viele natürliche Gegenſätze drängten ſich hier auf dem ſchmalen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 588. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/604>, abgerufen am 23.11.2024.