III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
den, die Gewerbsprivilegien der Städte, die Patrimonialgerichte, das heim- liche Gerichtsverfahren mitsammt der Folter, die man allerdings nicht mehr anzuwenden wagte, die Vermischung von Justiz und Verwaltung, die gestrenge Censurordnung vom Jahre 1705. Sogar in Hildesheim mußte die Ablösung der bäuerlichen Lasten sofort eingestellt werden, ob- gleich dies Land von der Krone Preußen durch förmlichen Vertrag an das Königreich Westphalen gelangt war und die fremdländische Gesetzgebung hier mithin zu Recht bestand. Gegen Personen und wohlerworbene Rechte verfuhr die Restauration nach Landesbrauch rücksichtsvoll. Grobes Un- recht ward wohl nur einmal geübt: gegen den edlen Franzosen Charles von Villers, der in den napoleonischen Tagen muthig für die Rechte der deutschen Nation eingetreten war und nun, zur Entrüstung der gesammten gelehrten Welt, seine Göttinger Aemter aufgeben mußte. Die regierenden Klassen richteten sich wieder bequemlich ein im deutschen China, wie der Freiherr vom Stein das Welfenland zu nennen pflegte.
Der Schwerpunkt der Verwaltung lag in den 155 Aemtern, den warmen Nestern der kleinen Bureaukratie; ein halbständisches Landraths- amt, wie in Altpreußen, war hier unmöglich, da der anspruchsvolle wel- fische Adel nur etwa 7 Procent des Bodens besaß. In diesen winzigen Bezirken sorgte der Oberamtmann (war er von Adel, so hieß er Ober- hauptmann) patriarchalisch für Rechtspflege und Verwaltung; oft war er zugleich Pächter der königlichen Domänen, so daß sich sein Amtseinkommen mitsammt den zahlreichen wundersamen Naturallieferungen auf 10,000 Thlr. und mehr belaufen konnte. Von der Hauptstadt aus störte man die Amt- leute selten; ein landläufiges Sprichwort sagte, es sei zwar sehr schwer in ein hannoversches Amt hineinzugelangen aber unmöglich daraus ent- fernt zu werden. Gleichwohl war Ueberfluß an trefflichen Beamten; so gescheidte Männer wie der Landdrost v. Bar, der Schüler Justus Möser's in Osnabrück, oder F. E. v. Bülow und Jacobi, die Förderer des land- wirtschaftlichen Vereins in Celle, bewährten auch ohne Aufsicht die alte Geschäftstüchtigkeit der Niedersachsen. In Celle, dem hannoverschen Wetzlar, blühte eine schwer gelehrte, aber abstrakte, dem politischen Leben entfremdete Rechtskunde; niemals trat dies welfische Oberappellationsgericht, wie das kurhessische, den Uebergriffen der Polizeigewalt entgegen.
Auch die Georgia Augusta hielt sich den politischen Kämpfen fern. Sie lebte ihrem weltbürgerlichen wissenschaftlichen Ruhme; für die prak- tischen Bedürfnisse des Landes leistete sie so wenig, daß man fast alle höheren Schulstellen mit auswärtigen Kräften besetzen mußte. Obwohl sie das Recht der Berufungen nicht besaß, befand sie sich sehr glücklich unter der väterlichen Obhut des vornehmen, rücksichtsvollen Beamten- thums; denn der Todfeind der Gelehrtenrepubliken, die bureaukratische Schablone war hierzulande unbekannt. In den ersten hundertundzehn Jahren ihres Bestandes leiteten -- mit der kurzen Unterbrechung der west-
III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
den, die Gewerbsprivilegien der Städte, die Patrimonialgerichte, das heim- liche Gerichtsverfahren mitſammt der Folter, die man allerdings nicht mehr anzuwenden wagte, die Vermiſchung von Juſtiz und Verwaltung, die geſtrenge Cenſurordnung vom Jahre 1705. Sogar in Hildesheim mußte die Ablöſung der bäuerlichen Laſten ſofort eingeſtellt werden, ob- gleich dies Land von der Krone Preußen durch förmlichen Vertrag an das Königreich Weſtphalen gelangt war und die fremdländiſche Geſetzgebung hier mithin zu Recht beſtand. Gegen Perſonen und wohlerworbene Rechte verfuhr die Reſtauration nach Landesbrauch rückſichtsvoll. Grobes Un- recht ward wohl nur einmal geübt: gegen den edlen Franzoſen Charles von Villers, der in den napoleoniſchen Tagen muthig für die Rechte der deutſchen Nation eingetreten war und nun, zur Entrüſtung der geſammten gelehrten Welt, ſeine Göttinger Aemter aufgeben mußte. Die regierenden Klaſſen richteten ſich wieder bequemlich ein im deutſchen China, wie der Freiherr vom Stein das Welfenland zu nennen pflegte.
Der Schwerpunkt der Verwaltung lag in den 155 Aemtern, den warmen Neſtern der kleinen Bureaukratie; ein halbſtändiſches Landraths- amt, wie in Altpreußen, war hier unmöglich, da der anſpruchsvolle wel- fiſche Adel nur etwa 7 Procent des Bodens beſaß. In dieſen winzigen Bezirken ſorgte der Oberamtmann (war er von Adel, ſo hieß er Ober- hauptmann) patriarchaliſch für Rechtspflege und Verwaltung; oft war er zugleich Pächter der königlichen Domänen, ſo daß ſich ſein Amtseinkommen mitſammt den zahlreichen wunderſamen Naturallieferungen auf 10,000 Thlr. und mehr belaufen konnte. Von der Hauptſtadt aus ſtörte man die Amt- leute ſelten; ein landläufiges Sprichwort ſagte, es ſei zwar ſehr ſchwer in ein hannoverſches Amt hineinzugelangen aber unmöglich daraus ent- fernt zu werden. Gleichwohl war Ueberfluß an trefflichen Beamten; ſo geſcheidte Männer wie der Landdroſt v. Bar, der Schüler Juſtus Möſer’s in Osnabrück, oder F. E. v. Bülow und Jacobi, die Förderer des land- wirtſchaftlichen Vereins in Celle, bewährten auch ohne Aufſicht die alte Geſchäftstüchtigkeit der Niederſachſen. In Celle, dem hannoverſchen Wetzlar, blühte eine ſchwer gelehrte, aber abſtrakte, dem politiſchen Leben entfremdete Rechtskunde; niemals trat dies welfiſche Oberappellationsgericht, wie das kurheſſiſche, den Uebergriffen der Polizeigewalt entgegen.
Auch die Georgia Auguſta hielt ſich den politiſchen Kämpfen fern. Sie lebte ihrem weltbürgerlichen wiſſenſchaftlichen Ruhme; für die prak- tiſchen Bedürfniſſe des Landes leiſtete ſie ſo wenig, daß man faſt alle höheren Schulſtellen mit auswärtigen Kräften beſetzen mußte. Obwohl ſie das Recht der Berufungen nicht beſaß, befand ſie ſich ſehr glücklich unter der väterlichen Obhut des vornehmen, rückſichtsvollen Beamten- thums; denn der Todfeind der Gelehrtenrepubliken, die bureaukratiſche Schablone war hierzulande unbekannt. In den erſten hundertundzehn Jahren ihres Beſtandes leiteten — mit der kurzen Unterbrechung der weſt-
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III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
den, die Gewerbsprivilegien der Städte, die Patrimonialgerichte, das heim-
liche Gerichtsverfahren mitſammt der Folter, die man allerdings nicht
mehr anzuwenden wagte, die Vermiſchung von Juſtiz und Verwaltung,
die geſtrenge Cenſurordnung vom Jahre 1705. Sogar in Hildesheim
mußte die Ablöſung der bäuerlichen Laſten ſofort eingeſtellt werden, ob-
gleich dies Land von der Krone Preußen durch förmlichen Vertrag an das
Königreich Weſtphalen gelangt war und die fremdländiſche Geſetzgebung
hier mithin zu Recht beſtand. Gegen Perſonen und wohlerworbene Rechte
verfuhr die Reſtauration nach Landesbrauch rückſichtsvoll. Grobes Un-
recht ward wohl nur einmal geübt: gegen den edlen Franzoſen Charles
von Villers, der in den napoleoniſchen Tagen muthig für die Rechte der
deutſchen Nation eingetreten war und nun, zur Entrüſtung der geſammten
gelehrten Welt, ſeine Göttinger Aemter aufgeben mußte. Die regierenden
Klaſſen richteten ſich wieder bequemlich ein im deutſchen China, wie der
Freiherr vom Stein das Welfenland zu nennen pflegte.
Der Schwerpunkt der Verwaltung lag in den 155 Aemtern, den
warmen Neſtern der kleinen Bureaukratie; ein halbſtändiſches Landraths-
amt, wie in Altpreußen, war hier unmöglich, da der anſpruchsvolle wel-
fiſche Adel nur etwa 7 Procent des Bodens beſaß. In dieſen winzigen
Bezirken ſorgte der Oberamtmann (war er von Adel, ſo hieß er Ober-
hauptmann) patriarchaliſch für Rechtspflege und Verwaltung; oft war er
zugleich Pächter der königlichen Domänen, ſo daß ſich ſein Amtseinkommen
mitſammt den zahlreichen wunderſamen Naturallieferungen auf 10,000 Thlr.
und mehr belaufen konnte. Von der Hauptſtadt aus ſtörte man die Amt-
leute ſelten; ein landläufiges Sprichwort ſagte, es ſei zwar ſehr ſchwer
in ein hannoverſches Amt hineinzugelangen aber unmöglich daraus ent-
fernt zu werden. Gleichwohl war Ueberfluß an trefflichen Beamten; ſo
geſcheidte Männer wie der Landdroſt v. Bar, der Schüler Juſtus Möſer’s
in Osnabrück, oder F. E. v. Bülow und Jacobi, die Förderer des land-
wirtſchaftlichen Vereins in Celle, bewährten auch ohne Aufſicht die alte
Geſchäftstüchtigkeit der Niederſachſen. In Celle, dem hannoverſchen Wetzlar,
blühte eine ſchwer gelehrte, aber abſtrakte, dem politiſchen Leben entfremdete
Rechtskunde; niemals trat dies welfiſche Oberappellationsgericht, wie das
kurheſſiſche, den Uebergriffen der Polizeigewalt entgegen.
Auch die Georgia Auguſta hielt ſich den politiſchen Kämpfen fern.
Sie lebte ihrem weltbürgerlichen wiſſenſchaftlichen Ruhme; für die prak-
tiſchen Bedürfniſſe des Landes leiſtete ſie ſo wenig, daß man faſt alle
höheren Schulſtellen mit auswärtigen Kräften beſetzen mußte. Obwohl
ſie das Recht der Berufungen nicht beſaß, befand ſie ſich ſehr glücklich
unter der väterlichen Obhut des vornehmen, rückſichtsvollen Beamten-
thums; denn der Todfeind der Gelehrtenrepubliken, die bureaukratiſche
Schablone war hierzulande unbekannt. In den erſten hundertundzehn
Jahren ihres Beſtandes leiteten — mit der kurzen Unterbrechung der weſt-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/564>, abgerufen am 25.11.2024.
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