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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
der neuen Lehre zu; Ernst von Lüneburg gesellte seinen Namen zu der
erlauchten Schaar der Bekennerfürsten des Evangeliums, aber in den
Entscheidungskämpfen der Zeit vermochte das zerspaltene Haus wenig aus-
zurichten. Auch nachdem die lutherische Lehre in allen welfischen Landen
zur Herrschaft gelangt war, überraschte der dreißigjährige Krieg die Welfen
wieder in rathloser Zwietracht; hin und her geschleudert zwischen den Par-
teien, liefen sie Gefahr, ihr Stammland an die Condottieri der katholi-
schen Liga zu verlieren oder ganz in die Botmäßigkeit Schwedens zu
gerathen.

Inmitten dieser Bedrängniß begann das Fürstengeschlecht sich endlich
wieder aufzuraffen. In Herzog Georg erstand der neuen calenbergischen
Linie ein kluger Stammhalter, der sein Land beisammen hielt und Han-
nover zur bleibenden Hauptstadt erhob. Wie in allen großen deutschen Für-
stengeschlechtern so ward auch im welfischen Hause durch ein seltsames
Spiel des Schicksals der jüngeren Linie die größere Macht beschieden. Auf
dem Westphälischen Friedenscongresse stritt der welfische Kanzler Lampa-
dius, mit Brandenburg vereint, tapfer für die unbedingte Gleichberechti-
gung der drei Bekenntnisse. Fortan hob sich das Ansehen des Geschlechts.
Seine Fürsten trieben im Reiche gemeinsam eine vorsichtige Hauspolitik,
die sich glatt zwischen Brandenburg und Schweden, Oesterreich und Frank-
reich hindurchwand und immer bemüht war "keine Ombrage zu geben."
Zugleich erstarkte die fürstliche Gewalt im Innern und deckte sich durch
ein stehendes Heer. Ernst August, der letzte Welfe, der noch etwas von
der staatsmännischen Kühnheit Heinrich's des Löwen geerbt hatte, erwarb
sodann den Kurhut, sicherte das Erbfolgerecht des Erstgebornen und be-
reitete durch ein gewandtes diplomatisches Spiel die neue Zeit des Glanzes
vor, welche unter seinem Nachfolger dem welfischen Hause aufgehen sollte.
Ueber die Schultern von vierundfünfzig näheren Verwandten hinweg be-
stieg Georg I. den Thron der Stuarts, und fast gleichzeitig ward sein
deutscher Kurstaat abgerundet, das Haus Lüneburg mit dem Calenbergi-
schen vereinigt, das wichtige Küstenland Bremen und Verden aus dem
Schiffbruch der schwedisch-deutschen Großmacht für Kurhannover erworben.

Mit stolzer Freude verfolgte das hannoversche Volk das Wiederauf-
steigen seines Fürstenhauses. Niemand bemerkte, wie wenig dies revolu-
tionäre Schattenkönigthum von Parlamentes Gnaden bedeutete, noch welche
klägliche Rolle die erbliche Mittelmäßigkeit der vier George in den Kämpfen
der britischen Adelsparteien spielte. Da die englische Aristokratie die äußere
Würde der Krone klug zu schonen wußte, und die Bevölkerung der kleinen
deutschen Territorien überhaupt noch keinen Staat kannte, sondern nur
Land und Leute fürstlicher Geschlechter, so wähnten die Hannoveraner alles
Ernstes, Englands Macht sei die Macht des welfischen Hauses. Die deut-
schen Großbritannier fühlten sich mit dem Inselvolke durch gemeinsame
Unterthanenschaft verbunden, sie sonnten sich behaglich an dem Glanze

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
der neuen Lehre zu; Ernſt von Lüneburg geſellte ſeinen Namen zu der
erlauchten Schaar der Bekennerfürſten des Evangeliums, aber in den
Entſcheidungskämpfen der Zeit vermochte das zerſpaltene Haus wenig aus-
zurichten. Auch nachdem die lutheriſche Lehre in allen welfiſchen Landen
zur Herrſchaft gelangt war, überraſchte der dreißigjährige Krieg die Welfen
wieder in rathloſer Zwietracht; hin und her geſchleudert zwiſchen den Par-
teien, liefen ſie Gefahr, ihr Stammland an die Condottieri der katholi-
ſchen Liga zu verlieren oder ganz in die Botmäßigkeit Schwedens zu
gerathen.

Inmitten dieſer Bedrängniß begann das Fürſtengeſchlecht ſich endlich
wieder aufzuraffen. In Herzog Georg erſtand der neuen calenbergiſchen
Linie ein kluger Stammhalter, der ſein Land beiſammen hielt und Han-
nover zur bleibenden Hauptſtadt erhob. Wie in allen großen deutſchen Für-
ſtengeſchlechtern ſo ward auch im welfiſchen Hauſe durch ein ſeltſames
Spiel des Schickſals der jüngeren Linie die größere Macht beſchieden. Auf
dem Weſtphäliſchen Friedenscongreſſe ſtritt der welfiſche Kanzler Lampa-
dius, mit Brandenburg vereint, tapfer für die unbedingte Gleichberechti-
gung der drei Bekenntniſſe. Fortan hob ſich das Anſehen des Geſchlechts.
Seine Fürſten trieben im Reiche gemeinſam eine vorſichtige Hauspolitik,
die ſich glatt zwiſchen Brandenburg und Schweden, Oeſterreich und Frank-
reich hindurchwand und immer bemüht war „keine Ombrage zu geben.“
Zugleich erſtarkte die fürſtliche Gewalt im Innern und deckte ſich durch
ein ſtehendes Heer. Ernſt Auguſt, der letzte Welfe, der noch etwas von
der ſtaatsmänniſchen Kühnheit Heinrich’s des Löwen geerbt hatte, erwarb
ſodann den Kurhut, ſicherte das Erbfolgerecht des Erſtgebornen und be-
reitete durch ein gewandtes diplomatiſches Spiel die neue Zeit des Glanzes
vor, welche unter ſeinem Nachfolger dem welfiſchen Hauſe aufgehen ſollte.
Ueber die Schultern von vierundfünfzig näheren Verwandten hinweg be-
ſtieg Georg I. den Thron der Stuarts, und faſt gleichzeitig ward ſein
deutſcher Kurſtaat abgerundet, das Haus Lüneburg mit dem Calenbergi-
ſchen vereinigt, das wichtige Küſtenland Bremen und Verden aus dem
Schiffbruch der ſchwediſch-deutſchen Großmacht für Kurhannover erworben.

Mit ſtolzer Freude verfolgte das hannoverſche Volk das Wiederauf-
ſteigen ſeines Fürſtenhauſes. Niemand bemerkte, wie wenig dies revolu-
tionäre Schattenkönigthum von Parlamentes Gnaden bedeutete, noch welche
klägliche Rolle die erbliche Mittelmäßigkeit der vier George in den Kämpfen
der britiſchen Adelsparteien ſpielte. Da die engliſche Ariſtokratie die äußere
Würde der Krone klug zu ſchonen wußte, und die Bevölkerung der kleinen
deutſchen Territorien überhaupt noch keinen Staat kannte, ſondern nur
Land und Leute fürſtlicher Geſchlechter, ſo wähnten die Hannoveraner alles
Ernſtes, Englands Macht ſei die Macht des welfiſchen Hauſes. Die deut-
ſchen Großbritannier fühlten ſich mit dem Inſelvolke durch gemeinſame
Unterthanenſchaft verbunden, ſie ſonnten ſich behaglich an dem Glanze

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[536/0552] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. der neuen Lehre zu; Ernſt von Lüneburg geſellte ſeinen Namen zu der erlauchten Schaar der Bekennerfürſten des Evangeliums, aber in den Entſcheidungskämpfen der Zeit vermochte das zerſpaltene Haus wenig aus- zurichten. Auch nachdem die lutheriſche Lehre in allen welfiſchen Landen zur Herrſchaft gelangt war, überraſchte der dreißigjährige Krieg die Welfen wieder in rathloſer Zwietracht; hin und her geſchleudert zwiſchen den Par- teien, liefen ſie Gefahr, ihr Stammland an die Condottieri der katholi- ſchen Liga zu verlieren oder ganz in die Botmäßigkeit Schwedens zu gerathen. Inmitten dieſer Bedrängniß begann das Fürſtengeſchlecht ſich endlich wieder aufzuraffen. In Herzog Georg erſtand der neuen calenbergiſchen Linie ein kluger Stammhalter, der ſein Land beiſammen hielt und Han- nover zur bleibenden Hauptſtadt erhob. Wie in allen großen deutſchen Für- ſtengeſchlechtern ſo ward auch im welfiſchen Hauſe durch ein ſeltſames Spiel des Schickſals der jüngeren Linie die größere Macht beſchieden. Auf dem Weſtphäliſchen Friedenscongreſſe ſtritt der welfiſche Kanzler Lampa- dius, mit Brandenburg vereint, tapfer für die unbedingte Gleichberechti- gung der drei Bekenntniſſe. Fortan hob ſich das Anſehen des Geſchlechts. Seine Fürſten trieben im Reiche gemeinſam eine vorſichtige Hauspolitik, die ſich glatt zwiſchen Brandenburg und Schweden, Oeſterreich und Frank- reich hindurchwand und immer bemüht war „keine Ombrage zu geben.“ Zugleich erſtarkte die fürſtliche Gewalt im Innern und deckte ſich durch ein ſtehendes Heer. Ernſt Auguſt, der letzte Welfe, der noch etwas von der ſtaatsmänniſchen Kühnheit Heinrich’s des Löwen geerbt hatte, erwarb ſodann den Kurhut, ſicherte das Erbfolgerecht des Erſtgebornen und be- reitete durch ein gewandtes diplomatiſches Spiel die neue Zeit des Glanzes vor, welche unter ſeinem Nachfolger dem welfiſchen Hauſe aufgehen ſollte. Ueber die Schultern von vierundfünfzig näheren Verwandten hinweg be- ſtieg Georg I. den Thron der Stuarts, und faſt gleichzeitig ward ſein deutſcher Kurſtaat abgerundet, das Haus Lüneburg mit dem Calenbergi- ſchen vereinigt, das wichtige Küſtenland Bremen und Verden aus dem Schiffbruch der ſchwediſch-deutſchen Großmacht für Kurhannover erworben. Mit ſtolzer Freude verfolgte das hannoverſche Volk das Wiederauf- ſteigen ſeines Fürſtenhauſes. Niemand bemerkte, wie wenig dies revolu- tionäre Schattenkönigthum von Parlamentes Gnaden bedeutete, noch welche klägliche Rolle die erbliche Mittelmäßigkeit der vier George in den Kämpfen der britiſchen Adelsparteien ſpielte. Da die engliſche Ariſtokratie die äußere Würde der Krone klug zu ſchonen wußte, und die Bevölkerung der kleinen deutſchen Territorien überhaupt noch keinen Staat kannte, ſondern nur Land und Leute fürſtlicher Geſchlechter, ſo wähnten die Hannoveraner alles Ernſtes, Englands Macht ſei die Macht des welfiſchen Hauſes. Die deut- ſchen Großbritannier fühlten ſich mit dem Inſelvolke durch gemeinſame Unterthanenſchaft verbunden, ſie ſonnten ſich behaglich an dem Glanze

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/552>, abgerufen am 22.11.2024.