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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
Schuldencommission, welche als einziger Ueberrest der alten Verfassung
noch fortbestand, war völlig machtlos; sie vermochte nicht einmal zu ver-
hindern, daß die Steuern gelegentlich eigenmächtig erhöht wurden. Ein-
fluß besaß Niemand, nur in Geldsachen wurde Amschel Rothschild's be-
währter Rath gern berücksichtigt; selbst Hassenpflug's Macht reichte nur so
weit, daß er seinem strebsamen Sohne Hans Daniel die Anfänge eines
wechselreichen Dienstlebens erleichtern konnte. Jedes Hessen Wohl und
Wehe hing allein ab von den unberechenbaren Tücken des greisen Fürsten,
der jetzt kränkelnd immer grilliger und auffahrender wurde. Als er seinem
Lande die Karlsbader Beschlüsse mittheilte, fügte er die grimmige Drohung
hinzu: "Ich erkläre hiermit denjenigen meiner Unterthanen, welcher der
Theilnahme an jenen aufrührerischen Verbindungen schuldig erklärt werden
sollte, des Namens eines Hessen für unwürdig, mithin für immer ausge-
stoßen aus der Mitte meines biederen Volkes und der bürgerlichen Rechte
in seinem Vaterlande verlustig."*)

Das Volk blieb bei dem stillen Begräbniß seiner alten Verfassung
über Erwarten ruhig, obgleich die Stände in einer gedruckten Denkschrift
über ihre geheimen Verhandlungen Bericht erstatteten. Die Stadt Kassel
sprach dem scheidenden Landtage ihren Dank aus, und als der Kurfürst
im Jahre 1817 eigenmächtig ein Hausgesetz erließ, beabsichtigten einige
Landstände eine Rechtsverwahrung bei den deutschen Großmächten einzu-
legen.**) Doch der Plan kam nicht zur Ausführung. Man hatte zu
hoffen verlernt, und wo blieb auch Zeit für politische Gedanken in der
wirthschaftlichen Noth dieses verkümmerten und verwahrlosten Landes? Wenn
der Wanderer zuerst die Wälder und die rothen Felsen des Werra- oder
des Fuldathals erblickte mit dem glitzernden Fluß dazwischen, oder die
malerischen Basaltkuppen an der Eder und Schwalm, dann meinte er
hier den stillen Frieden zu finden, der den Zauber aller dieser mittel-
deutschen Hügellandschaften ausmacht. In den ärmlichen Dörfern aber
überraschte ihn die seltsame Ernsthaftigkeit der Menschen; zumal in den
vergrämten Gesichtern der alten Bauerfrauen, in den strengen großen
Augen, die aus den schwarzen Hauben hervorblickten, lag oft ein tragi-
scher Zug, der von einer langen Leidensgeschichte erzählte.

An Helden der Kunst und Wissenschaft war dieser Stamm nie sehr
reich, seine Stärke lag von jeher in der Tapferkeit und dem unbeugsamen
Rechtsgefühl; kam freilich einmal die Kraft des Genies empor, wie in dem
Hause der Grimm, dann zeigte sie auch die unverstümmelte Großheit des
ursprünglichen germanischen Wesens. So still wie jetzt war das geistige
Leben des Landes doch kaum je gewesen. Die Universität Marburg erwarb
sich damals, da sie rasch nach einander Savigny, Creuzer, Tiedemann ver-

*) Ansprache des Kurfürsten an die Hessen, 30. Sept. 1819.
**) Hänlein's Bericht, 17. März 1817.

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Schuldencommiſſion, welche als einziger Ueberreſt der alten Verfaſſung
noch fortbeſtand, war völlig machtlos; ſie vermochte nicht einmal zu ver-
hindern, daß die Steuern gelegentlich eigenmächtig erhöht wurden. Ein-
fluß beſaß Niemand, nur in Geldſachen wurde Amſchel Rothſchild’s be-
währter Rath gern berückſichtigt; ſelbſt Haſſenpflug’s Macht reichte nur ſo
weit, daß er ſeinem ſtrebſamen Sohne Hans Daniel die Anfänge eines
wechſelreichen Dienſtlebens erleichtern konnte. Jedes Heſſen Wohl und
Wehe hing allein ab von den unberechenbaren Tücken des greiſen Fürſten,
der jetzt kränkelnd immer grilliger und auffahrender wurde. Als er ſeinem
Lande die Karlsbader Beſchlüſſe mittheilte, fügte er die grimmige Drohung
hinzu: „Ich erkläre hiermit denjenigen meiner Unterthanen, welcher der
Theilnahme an jenen aufrühreriſchen Verbindungen ſchuldig erklärt werden
ſollte, des Namens eines Heſſen für unwürdig, mithin für immer ausge-
ſtoßen aus der Mitte meines biederen Volkes und der bürgerlichen Rechte
in ſeinem Vaterlande verluſtig.“*)

Das Volk blieb bei dem ſtillen Begräbniß ſeiner alten Verfaſſung
über Erwarten ruhig, obgleich die Stände in einer gedruckten Denkſchrift
über ihre geheimen Verhandlungen Bericht erſtatteten. Die Stadt Kaſſel
ſprach dem ſcheidenden Landtage ihren Dank aus, und als der Kurfürſt
im Jahre 1817 eigenmächtig ein Hausgeſetz erließ, beabſichtigten einige
Landſtände eine Rechtsverwahrung bei den deutſchen Großmächten einzu-
legen.**) Doch der Plan kam nicht zur Ausführung. Man hatte zu
hoffen verlernt, und wo blieb auch Zeit für politiſche Gedanken in der
wirthſchaftlichen Noth dieſes verkümmerten und verwahrloſten Landes? Wenn
der Wanderer zuerſt die Wälder und die rothen Felſen des Werra- oder
des Fuldathals erblickte mit dem glitzernden Fluß dazwiſchen, oder die
maleriſchen Baſaltkuppen an der Eder und Schwalm, dann meinte er
hier den ſtillen Frieden zu finden, der den Zauber aller dieſer mittel-
deutſchen Hügellandſchaften ausmacht. In den ärmlichen Dörfern aber
überraſchte ihn die ſeltſame Ernſthaftigkeit der Menſchen; zumal in den
vergrämten Geſichtern der alten Bauerfrauen, in den ſtrengen großen
Augen, die aus den ſchwarzen Hauben hervorblickten, lag oft ein tragi-
ſcher Zug, der von einer langen Leidensgeſchichte erzählte.

An Helden der Kunſt und Wiſſenſchaft war dieſer Stamm nie ſehr
reich, ſeine Stärke lag von jeher in der Tapferkeit und dem unbeugſamen
Rechtsgefühl; kam freilich einmal die Kraft des Genies empor, wie in dem
Hauſe der Grimm, dann zeigte ſie auch die unverſtümmelte Großheit des
urſprünglichen germaniſchen Weſens. So ſtill wie jetzt war das geiſtige
Leben des Landes doch kaum je geweſen. Die Univerſität Marburg erwarb
ſich damals, da ſie raſch nach einander Savigny, Creuzer, Tiedemann ver-

*) Anſprache des Kurfürſten an die Heſſen, 30. Sept. 1819.
**) Hänlein’s Bericht, 17. März 1817.
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[528/0544] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. Schuldencommiſſion, welche als einziger Ueberreſt der alten Verfaſſung noch fortbeſtand, war völlig machtlos; ſie vermochte nicht einmal zu ver- hindern, daß die Steuern gelegentlich eigenmächtig erhöht wurden. Ein- fluß beſaß Niemand, nur in Geldſachen wurde Amſchel Rothſchild’s be- währter Rath gern berückſichtigt; ſelbſt Haſſenpflug’s Macht reichte nur ſo weit, daß er ſeinem ſtrebſamen Sohne Hans Daniel die Anfänge eines wechſelreichen Dienſtlebens erleichtern konnte. Jedes Heſſen Wohl und Wehe hing allein ab von den unberechenbaren Tücken des greiſen Fürſten, der jetzt kränkelnd immer grilliger und auffahrender wurde. Als er ſeinem Lande die Karlsbader Beſchlüſſe mittheilte, fügte er die grimmige Drohung hinzu: „Ich erkläre hiermit denjenigen meiner Unterthanen, welcher der Theilnahme an jenen aufrühreriſchen Verbindungen ſchuldig erklärt werden ſollte, des Namens eines Heſſen für unwürdig, mithin für immer ausge- ſtoßen aus der Mitte meines biederen Volkes und der bürgerlichen Rechte in ſeinem Vaterlande verluſtig.“ *) Das Volk blieb bei dem ſtillen Begräbniß ſeiner alten Verfaſſung über Erwarten ruhig, obgleich die Stände in einer gedruckten Denkſchrift über ihre geheimen Verhandlungen Bericht erſtatteten. Die Stadt Kaſſel ſprach dem ſcheidenden Landtage ihren Dank aus, und als der Kurfürſt im Jahre 1817 eigenmächtig ein Hausgeſetz erließ, beabſichtigten einige Landſtände eine Rechtsverwahrung bei den deutſchen Großmächten einzu- legen. **) Doch der Plan kam nicht zur Ausführung. Man hatte zu hoffen verlernt, und wo blieb auch Zeit für politiſche Gedanken in der wirthſchaftlichen Noth dieſes verkümmerten und verwahrloſten Landes? Wenn der Wanderer zuerſt die Wälder und die rothen Felſen des Werra- oder des Fuldathals erblickte mit dem glitzernden Fluß dazwiſchen, oder die maleriſchen Baſaltkuppen an der Eder und Schwalm, dann meinte er hier den ſtillen Frieden zu finden, der den Zauber aller dieſer mittel- deutſchen Hügellandſchaften ausmacht. In den ärmlichen Dörfern aber überraſchte ihn die ſeltſame Ernſthaftigkeit der Menſchen; zumal in den vergrämten Geſichtern der alten Bauerfrauen, in den ſtrengen großen Augen, die aus den ſchwarzen Hauben hervorblickten, lag oft ein tragi- ſcher Zug, der von einer langen Leidensgeſchichte erzählte. An Helden der Kunſt und Wiſſenſchaft war dieſer Stamm nie ſehr reich, ſeine Stärke lag von jeher in der Tapferkeit und dem unbeugſamen Rechtsgefühl; kam freilich einmal die Kraft des Genies empor, wie in dem Hauſe der Grimm, dann zeigte ſie auch die unverſtümmelte Großheit des urſprünglichen germaniſchen Weſens. So ſtill wie jetzt war das geiſtige Leben des Landes doch kaum je geweſen. Die Univerſität Marburg erwarb ſich damals, da ſie raſch nach einander Savigny, Creuzer, Tiedemann ver- *) Anſprache des Kurfürſten an die Heſſen, 30. Sept. 1819. **) Hänlein’s Bericht, 17. März 1817.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 528. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/544>, abgerufen am 22.11.2024.