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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Sächsischer Preußenhaß.
wissenschaft, das der schreibselige Krug auf Grund seiner unblutigen Waffen-
thaten sofort herausgab. Während Preußens gesammtes Volk für Deutsch-
land focht, verharrten viele brave junge Sachsen noch in den philisterhaften
Anschauungen des altüberlieferten Standesdünkels und vermochten den
Gedanken gar nicht zu fassen, daß ein gebildeter Mann die Flinte tragen
könne. Recht aus dem Herzen seiner Leipziger Standesgenossen heraus
schrieb der gelehrte junge Astronom Möbius im Sommer 1814: "Ich
halte es gradezu für unmöglich, daß man mich, einen habilitirten Magister
der Leipziger Universität, zum Rekruten sollte machen können. Es ist der
abscheulichste Gedanke, den ich kenne, und wer es wagen, sich unterstehen,
erkühnen, erdreisten, erfrechen sollte, der soll vor Erdolchung nicht sicher
sein. Ich gehöre ja nicht zu den Preußen, ich bin in sächsischen Diensten."

Als nun die Landestheilung so viele altgewohnte nachbarliche Ver-
hältnisse roh zerstörte, da war die Erinnerung an den Freiheitskrieg
und die Unthaten der Franzosen bald völlig vernichtet. Niemand fragte
mehr, was Preußen auch für die Befreiung Sachsens gethan; Niemand
bedachte, daß Talleyrand und Metternich die Theilung des Landes ver-
schuldet, Preußen sie nur widerwillig angenommen hatte. Ein maßloser
Haß richtete sich, menschlich genug, gegen den nordischen Nachbar, und
er ward fast zur Wuth als die entsetzliche Kunde von der Lütticher Meuterei
eintraf. Der sächsische Particularismus war nicht mehr stolz, wie in den
Zeiten der Kurfürsten Moritz und August, sondern giftig, verbissen und
verkniffen, ganz gegen die natürliche Art des gutherzigen Stammes. Wer
ein guter Sachse war, mußte von Zeit zu Zeit einmal durch eine kräf-
tige Herzensergießung wider Preußen beweisen, daß der meißnische Dialekt
in der Grobheit ebenso ausdrucksvoll und wortreich ist wie in der Höf-
lichkeit. Lange Jahre hindurch blieb es eine sächsische Eigenthümlichkeit,
daß man dort überall gescheidte und ehrlich deutsch gesinnte Männer traf,
mit denen man über Alles vernünftig sprechen konnte, nur nicht über
Preußen.

In der ersten Zeit nach der Theilung bekundete sich diese Gesin-
nung noch durch einige häßliche Libelle. So erschien ein offenbar ge-
fälschtes Schreiben der sächsischen Grenadiere, das den "Waffengefährten
aller teutschen Nationen" die "schauderhaften Verbrechen" der preußischen
"Seelenverkäufer" bei Lüttich schilderte. Eine andere Flugschrift unter
dem ebenfalls erfundenen Titel "Rechtfertigung des aus sächsischem in
preußische Dienste übergetretenen Raths N." entwickelte den sauberen Plan:
die altsächsischen Beamten in der Provinz Sachsen sollten unter der Hand
"die Erschlaffung sächsischer Nationalität und die Amalgamation mit
Preußen" zu verhindern suchen um das Volk auf "die Morgenröthe besserer
Tage" vorzubereiten. "Oesterreichs Kaiserhaus hat gewiß nicht ohne den
tiefsten Schmerz jetzt dem Drange der Umstände nachgegeben und in die
Erniedrigung der ihm befreundeten Familie gewilligt, Oesterreichs Cabinet

Sächſiſcher Preußenhaß.
wiſſenſchaft, das der ſchreibſelige Krug auf Grund ſeiner unblutigen Waffen-
thaten ſofort herausgab. Während Preußens geſammtes Volk für Deutſch-
land focht, verharrten viele brave junge Sachſen noch in den philiſterhaften
Anſchauungen des altüberlieferten Standesdünkels und vermochten den
Gedanken gar nicht zu faſſen, daß ein gebildeter Mann die Flinte tragen
könne. Recht aus dem Herzen ſeiner Leipziger Standesgenoſſen heraus
ſchrieb der gelehrte junge Aſtronom Möbius im Sommer 1814: „Ich
halte es gradezu für unmöglich, daß man mich, einen habilitirten Magiſter
der Leipziger Univerſität, zum Rekruten ſollte machen können. Es iſt der
abſcheulichſte Gedanke, den ich kenne, und wer es wagen, ſich unterſtehen,
erkühnen, erdreiſten, erfrechen ſollte, der ſoll vor Erdolchung nicht ſicher
ſein. Ich gehöre ja nicht zu den Preußen, ich bin in ſächſiſchen Dienſten.“

Als nun die Landestheilung ſo viele altgewohnte nachbarliche Ver-
hältniſſe roh zerſtörte, da war die Erinnerung an den Freiheitskrieg
und die Unthaten der Franzoſen bald völlig vernichtet. Niemand fragte
mehr, was Preußen auch für die Befreiung Sachſens gethan; Niemand
bedachte, daß Talleyrand und Metternich die Theilung des Landes ver-
ſchuldet, Preußen ſie nur widerwillig angenommen hatte. Ein maßloſer
Haß richtete ſich, menſchlich genug, gegen den nordiſchen Nachbar, und
er ward faſt zur Wuth als die entſetzliche Kunde von der Lütticher Meuterei
eintraf. Der ſächſiſche Particularismus war nicht mehr ſtolz, wie in den
Zeiten der Kurfürſten Moritz und Auguſt, ſondern giftig, verbiſſen und
verkniffen, ganz gegen die natürliche Art des gutherzigen Stammes. Wer
ein guter Sachſe war, mußte von Zeit zu Zeit einmal durch eine kräf-
tige Herzensergießung wider Preußen beweiſen, daß der meißniſche Dialekt
in der Grobheit ebenſo ausdrucksvoll und wortreich iſt wie in der Höf-
lichkeit. Lange Jahre hindurch blieb es eine ſächſiſche Eigenthümlichkeit,
daß man dort überall geſcheidte und ehrlich deutſch geſinnte Männer traf,
mit denen man über Alles vernünftig ſprechen konnte, nur nicht über
Preußen.

In der erſten Zeit nach der Theilung bekundete ſich dieſe Geſin-
nung noch durch einige häßliche Libelle. So erſchien ein offenbar ge-
fälſchtes Schreiben der ſächſiſchen Grenadiere, das den „Waffengefährten
aller teutſchen Nationen“ die „ſchauderhaften Verbrechen“ der preußiſchen
„Seelenverkäufer“ bei Lüttich ſchilderte. Eine andere Flugſchrift unter
dem ebenfalls erfundenen Titel „Rechtfertigung des aus ſächſiſchem in
preußiſche Dienſte übergetretenen Raths N.“ entwickelte den ſauberen Plan:
die altſächſiſchen Beamten in der Provinz Sachſen ſollten unter der Hand
„die Erſchlaffung ſächſiſcher Nationalität und die Amalgamation mit
Preußen“ zu verhindern ſuchen um das Volk auf „die Morgenröthe beſſerer
Tage“ vorzubereiten. „Oeſterreichs Kaiſerhaus hat gewiß nicht ohne den
tiefſten Schmerz jetzt dem Drange der Umſtände nachgegeben und in die
Erniedrigung der ihm befreundeten Familie gewilligt, Oeſterreichs Cabinet

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[501/0517] Sächſiſcher Preußenhaß. wiſſenſchaft, das der ſchreibſelige Krug auf Grund ſeiner unblutigen Waffen- thaten ſofort herausgab. Während Preußens geſammtes Volk für Deutſch- land focht, verharrten viele brave junge Sachſen noch in den philiſterhaften Anſchauungen des altüberlieferten Standesdünkels und vermochten den Gedanken gar nicht zu faſſen, daß ein gebildeter Mann die Flinte tragen könne. Recht aus dem Herzen ſeiner Leipziger Standesgenoſſen heraus ſchrieb der gelehrte junge Aſtronom Möbius im Sommer 1814: „Ich halte es gradezu für unmöglich, daß man mich, einen habilitirten Magiſter der Leipziger Univerſität, zum Rekruten ſollte machen können. Es iſt der abſcheulichſte Gedanke, den ich kenne, und wer es wagen, ſich unterſtehen, erkühnen, erdreiſten, erfrechen ſollte, der ſoll vor Erdolchung nicht ſicher ſein. Ich gehöre ja nicht zu den Preußen, ich bin in ſächſiſchen Dienſten.“ Als nun die Landestheilung ſo viele altgewohnte nachbarliche Ver- hältniſſe roh zerſtörte, da war die Erinnerung an den Freiheitskrieg und die Unthaten der Franzoſen bald völlig vernichtet. Niemand fragte mehr, was Preußen auch für die Befreiung Sachſens gethan; Niemand bedachte, daß Talleyrand und Metternich die Theilung des Landes ver- ſchuldet, Preußen ſie nur widerwillig angenommen hatte. Ein maßloſer Haß richtete ſich, menſchlich genug, gegen den nordiſchen Nachbar, und er ward faſt zur Wuth als die entſetzliche Kunde von der Lütticher Meuterei eintraf. Der ſächſiſche Particularismus war nicht mehr ſtolz, wie in den Zeiten der Kurfürſten Moritz und Auguſt, ſondern giftig, verbiſſen und verkniffen, ganz gegen die natürliche Art des gutherzigen Stammes. Wer ein guter Sachſe war, mußte von Zeit zu Zeit einmal durch eine kräf- tige Herzensergießung wider Preußen beweiſen, daß der meißniſche Dialekt in der Grobheit ebenſo ausdrucksvoll und wortreich iſt wie in der Höf- lichkeit. Lange Jahre hindurch blieb es eine ſächſiſche Eigenthümlichkeit, daß man dort überall geſcheidte und ehrlich deutſch geſinnte Männer traf, mit denen man über Alles vernünftig ſprechen konnte, nur nicht über Preußen. In der erſten Zeit nach der Theilung bekundete ſich dieſe Geſin- nung noch durch einige häßliche Libelle. So erſchien ein offenbar ge- fälſchtes Schreiben der ſächſiſchen Grenadiere, das den „Waffengefährten aller teutſchen Nationen“ die „ſchauderhaften Verbrechen“ der preußiſchen „Seelenverkäufer“ bei Lüttich ſchilderte. Eine andere Flugſchrift unter dem ebenfalls erfundenen Titel „Rechtfertigung des aus ſächſiſchem in preußiſche Dienſte übergetretenen Raths N.“ entwickelte den ſauberen Plan: die altſächſiſchen Beamten in der Provinz Sachſen ſollten unter der Hand „die Erſchlaffung ſächſiſcher Nationalität und die Amalgamation mit Preußen“ zu verhindern ſuchen um das Volk auf „die Morgenröthe beſſerer Tage“ vorzubereiten. „Oeſterreichs Kaiſerhaus hat gewiß nicht ohne den tiefſten Schmerz jetzt dem Drange der Umſtände nachgegeben und in die Erniedrigung der ihm befreundeten Familie gewilligt, Oeſterreichs Cabinet

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 501. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/517>, abgerufen am 22.11.2024.