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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Kursachsen als Haupt des Lutherthums.
sich zu verständigen suchten. Aber kaum hat der junge Kurfürst die Augen
geschlossen, so erhebt sich das harte Lutherthum des Hofes, der Landstände,
der Theologen zu einer blutigen Reaktion; dem Spruche eines böhmischen
Gerichtes preisgegeben muß der sächsische Kanzler mit seinem Kopfe dafür
büßen, daß er sich erdreistet hat, das fromme Kurhaus von dem Erzhause
abzuziehen. Seitdem stehen die Albertiner, den Reformirten tödlich ver-
feindet, beharrlich im österreichischen Lager; an jedem Sonntag bitten die
sächsischen Lutheraner ihren Gott, sie zu bewahren vor der Calvinisten
Teufelskünsten; es kommt so weit, daß der Dresdner Hof ernstlich daran
denkt, sich der katholischen Liga anzuschließen.

Als nun der dreißigjährige Krieg hereinbricht -- nicht ohne die schwere
Mitschuld der selbstmörderischen Politik dieses entarteten Lutherthums
-- da kämpft der mächtigste evangelische Kurfürst nur vier Jahre lang
für die Sache seines Glaubens. Unter den Jubelrufen der Dresdner
Hofprediger wird das Königthum der Pfälzer in Böhmen durch die katho-
lische Liga niedergeschmettert, mit Sachsens Hilfe unterwirft sich das Haus
Oesterreich die evangelischen Rebellen in Schlesien, und noch einmal
schallen durch die protestantische Welt die Zornreden wider den sächsischen
Judas, als Johann Georg I. durch den Prager Sonderfrieden seine Glau-
bensbrüder preisgiebt und zum Lohne den Besitz der Lausitzen erhält.

In den großen Katastrophen der Geschichte pflegen Schuld und Ver-
hängniß sich unzertrennlich zu verketten; dies Fürstenhaus aber verscherzte
sich allein durch seine eigene Verblendung und Zagheit den ersten Platz
unter den evangelischen Reichsständen. Der große Kurfürst ward sein
Erbe, er sicherte im Westphälischen Frieden den Reformirten die Duldung,
dem Widerspruche des Dresdner Hofes zum Trotz, er übernahm die Füh-
rung der deutschen Protestanten. Ebenso feindselig wie einst gegen Kur-
pfalz richtete sich fortan das Mißtrauen der kursächsischen Politik gegen
den aufstrebenden Brandenburgischen Nachbarn. Und wie die Macht des
Landes sank, so verknöcherte auch sein Verfassungsleben. Unter Moritz
und August hatte sich die altständische Libertät einem kraftvollen monar-
chischen Willen beugen müssen; unter dem schlaffen Regiment der beiden
Christiane und der vier Johann George reckte sie sich wieder behaglich
aus. Kursachsen wurde das klassische Land des altlutherischen Episcopal-
systems, das in dem Leipziger Benedikt Carpzov seinen wissenschaftlichen
Verherrlicher fand.

Unumschränkt schaltete in Staat und Kirche der Lehrstand verschwä-
gerter und vervetterter Theologengeschlechter; mit ihm fest verbündet der
Wehrstand, damals wie heute der hochmüthigste Adel des deutschen Reichs.
Dem geplagten Nährstande war auferlegt, in der Kirche die Heilswahr-
heit aus dem Munde der Heiligen des Herrn dankbar zu empfangen,
dem Staate nach den Beschlüssen des adlichen Landtags gehorsam die
Steuern zu zahlen. Wohl kam das Ansehen der Krone in den größeren

Kurſachſen als Haupt des Lutherthums.
ſich zu verſtändigen ſuchten. Aber kaum hat der junge Kurfürſt die Augen
geſchloſſen, ſo erhebt ſich das harte Lutherthum des Hofes, der Landſtände,
der Theologen zu einer blutigen Reaktion; dem Spruche eines böhmiſchen
Gerichtes preisgegeben muß der ſächſiſche Kanzler mit ſeinem Kopfe dafür
büßen, daß er ſich erdreiſtet hat, das fromme Kurhaus von dem Erzhauſe
abzuziehen. Seitdem ſtehen die Albertiner, den Reformirten tödlich ver-
feindet, beharrlich im öſterreichiſchen Lager; an jedem Sonntag bitten die
ſächſiſchen Lutheraner ihren Gott, ſie zu bewahren vor der Calviniſten
Teufelskünſten; es kommt ſo weit, daß der Dresdner Hof ernſtlich daran
denkt, ſich der katholiſchen Liga anzuſchließen.

Als nun der dreißigjährige Krieg hereinbricht — nicht ohne die ſchwere
Mitſchuld der ſelbſtmörderiſchen Politik dieſes entarteten Lutherthums
— da kämpft der mächtigſte evangeliſche Kurfürſt nur vier Jahre lang
für die Sache ſeines Glaubens. Unter den Jubelrufen der Dresdner
Hofprediger wird das Königthum der Pfälzer in Böhmen durch die katho-
liſche Liga niedergeſchmettert, mit Sachſens Hilfe unterwirft ſich das Haus
Oeſterreich die evangeliſchen Rebellen in Schleſien, und noch einmal
ſchallen durch die proteſtantiſche Welt die Zornreden wider den ſächſiſchen
Judas, als Johann Georg I. durch den Prager Sonderfrieden ſeine Glau-
bensbrüder preisgiebt und zum Lohne den Beſitz der Lauſitzen erhält.

In den großen Kataſtrophen der Geſchichte pflegen Schuld und Ver-
hängniß ſich unzertrennlich zu verketten; dies Fürſtenhaus aber verſcherzte
ſich allein durch ſeine eigene Verblendung und Zagheit den erſten Platz
unter den evangeliſchen Reichsſtänden. Der große Kurfürſt ward ſein
Erbe, er ſicherte im Weſtphäliſchen Frieden den Reformirten die Duldung,
dem Widerſpruche des Dresdner Hofes zum Trotz, er übernahm die Füh-
rung der deutſchen Proteſtanten. Ebenſo feindſelig wie einſt gegen Kur-
pfalz richtete ſich fortan das Mißtrauen der kurſächſiſchen Politik gegen
den aufſtrebenden Brandenburgiſchen Nachbarn. Und wie die Macht des
Landes ſank, ſo verknöcherte auch ſein Verfaſſungsleben. Unter Moritz
und Auguſt hatte ſich die altſtändiſche Libertät einem kraftvollen monar-
chiſchen Willen beugen müſſen; unter dem ſchlaffen Regiment der beiden
Chriſtiane und der vier Johann George reckte ſie ſich wieder behaglich
aus. Kurſachſen wurde das klaſſiſche Land des altlutheriſchen Epiſcopal-
ſyſtems, das in dem Leipziger Benedikt Carpzov ſeinen wiſſenſchaftlichen
Verherrlicher fand.

Unumſchränkt ſchaltete in Staat und Kirche der Lehrſtand verſchwä-
gerter und vervetterter Theologengeſchlechter; mit ihm feſt verbündet der
Wehrſtand, damals wie heute der hochmüthigſte Adel des deutſchen Reichs.
Dem geplagten Nährſtande war auferlegt, in der Kirche die Heilswahr-
heit aus dem Munde der Heiligen des Herrn dankbar zu empfangen,
dem Staate nach den Beſchlüſſen des adlichen Landtags gehorſam die
Steuern zu zahlen. Wohl kam das Anſehen der Krone in den größeren

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[491/0507] Kurſachſen als Haupt des Lutherthums. ſich zu verſtändigen ſuchten. Aber kaum hat der junge Kurfürſt die Augen geſchloſſen, ſo erhebt ſich das harte Lutherthum des Hofes, der Landſtände, der Theologen zu einer blutigen Reaktion; dem Spruche eines böhmiſchen Gerichtes preisgegeben muß der ſächſiſche Kanzler mit ſeinem Kopfe dafür büßen, daß er ſich erdreiſtet hat, das fromme Kurhaus von dem Erzhauſe abzuziehen. Seitdem ſtehen die Albertiner, den Reformirten tödlich ver- feindet, beharrlich im öſterreichiſchen Lager; an jedem Sonntag bitten die ſächſiſchen Lutheraner ihren Gott, ſie zu bewahren vor der Calviniſten Teufelskünſten; es kommt ſo weit, daß der Dresdner Hof ernſtlich daran denkt, ſich der katholiſchen Liga anzuſchließen. Als nun der dreißigjährige Krieg hereinbricht — nicht ohne die ſchwere Mitſchuld der ſelbſtmörderiſchen Politik dieſes entarteten Lutherthums — da kämpft der mächtigſte evangeliſche Kurfürſt nur vier Jahre lang für die Sache ſeines Glaubens. Unter den Jubelrufen der Dresdner Hofprediger wird das Königthum der Pfälzer in Böhmen durch die katho- liſche Liga niedergeſchmettert, mit Sachſens Hilfe unterwirft ſich das Haus Oeſterreich die evangeliſchen Rebellen in Schleſien, und noch einmal ſchallen durch die proteſtantiſche Welt die Zornreden wider den ſächſiſchen Judas, als Johann Georg I. durch den Prager Sonderfrieden ſeine Glau- bensbrüder preisgiebt und zum Lohne den Beſitz der Lauſitzen erhält. In den großen Kataſtrophen der Geſchichte pflegen Schuld und Ver- hängniß ſich unzertrennlich zu verketten; dies Fürſtenhaus aber verſcherzte ſich allein durch ſeine eigene Verblendung und Zagheit den erſten Platz unter den evangeliſchen Reichsſtänden. Der große Kurfürſt ward ſein Erbe, er ſicherte im Weſtphäliſchen Frieden den Reformirten die Duldung, dem Widerſpruche des Dresdner Hofes zum Trotz, er übernahm die Füh- rung der deutſchen Proteſtanten. Ebenſo feindſelig wie einſt gegen Kur- pfalz richtete ſich fortan das Mißtrauen der kurſächſiſchen Politik gegen den aufſtrebenden Brandenburgiſchen Nachbarn. Und wie die Macht des Landes ſank, ſo verknöcherte auch ſein Verfaſſungsleben. Unter Moritz und Auguſt hatte ſich die altſtändiſche Libertät einem kraftvollen monar- chiſchen Willen beugen müſſen; unter dem ſchlaffen Regiment der beiden Chriſtiane und der vier Johann George reckte ſie ſich wieder behaglich aus. Kurſachſen wurde das klaſſiſche Land des altlutheriſchen Epiſcopal- ſyſtems, das in dem Leipziger Benedikt Carpzov ſeinen wiſſenſchaftlichen Verherrlicher fand. Unumſchränkt ſchaltete in Staat und Kirche der Lehrſtand verſchwä- gerter und vervetterter Theologengeſchlechter; mit ihm feſt verbündet der Wehrſtand, damals wie heute der hochmüthigſte Adel des deutſchen Reichs. Dem geplagten Nährſtande war auferlegt, in der Kirche die Heilswahr- heit aus dem Munde der Heiligen des Herrn dankbar zu empfangen, dem Staate nach den Beſchlüſſen des adlichen Landtags gehorſam die Steuern zu zahlen. Wohl kam das Anſehen der Krone in den größeren

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 491. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/507>, abgerufen am 22.11.2024.