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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.
tief begründet in den Bedürfnissen der modernen Gesellschaft und reich
an eigenthümlichen sittlichen Kräften: denn die Mathematik duldet keine
Lücke des Fleißes, sie erweckt dem Schüler frühe schon den frohen Glauben,
daß der Mensch absolute Wahrheiten zu finden vermag, und die meisten
der technisch gebildeten jungen Leute gingen ins Leben mit einer dreisten
Zuversicht, welche das Gymnasium seinen Schülern nicht immer verleiht,
sie fühlten sich stolz an der Spitze der Civilisation zu schreiten. Diese
realistische Bildung blieb gesund und wohlberechtigt, so lange sie bescheiden
ihre Schranken einhielt und noch nicht den anmaßenden Anspruch erhob,
die Universitäten und Gymnasien von der freien Höhe ihrer classisch-histo-
rischen Weltanschauung herabzustürzen. Alexander Humboldt und der
Königsberger Astronom Bessel begrüßten die Wandlung mit Freuden.
Goethe aber schrieb befriedigt, als er Klöden's erstes Programm empfing:
diese Schrift "belehrt uns von der umfassenden Sorgfalt, womit der preu-
ßische Staat sich gegen die unaufhaltsam fortstrebende Technik unserer
Nachbarn ins Gleichgewicht zu stellen trachtet."

Keck und fröhlich äußerte sich der Lebensmuth dieses neuen Geschlechts,
wenn Beuth im Gewerbevereine "seine Leibgarde" um sich versammelte,
wie der Kronprinz sie nannte. Da war Egells, der Lehrer Borsig's, und
Feilner, der den Norddeutschen ihren unentbehrlichen Hausfreund, den
großen weißglasirten Ofen schenkte; der Vergolder Hossauer, der die plat-
tirten Metallwaaren nach Deutschland brachte, und viele andere auf-
strebende technische Talente, allesammt sehr anspruchslos nach unseren
Begriffen, aber voll thatkräftiger Schaffenslust und im Grunde glücklicher
als die reicheren Nachkommen. Denn noch war die Welt nicht vertheilt,
das Massenelend und die erdrückende Uebermacht des großen Capitals
kaum bemerkbar; weit leichter als heutzutage konnte ein armer Klempner-
gesell wie Hossauer durch die Kraft seines Kopfes und seiner fleißigen
Hände zu glänzendem Reichthum gelangen. Ohne die feste Ueberzeugung,
daß die Welt dem Tüchtigen gehöre, hätte dies verarmte Geschlecht nie
vermocht den Cyclopen unserer heutigen Fabriken ihre Essen anzuzünden.

Am langsamsten erholte sich die Rhederei von den Schlägen des
Krieges. Die Handelsflotte hatte im Kriege von 1806 durch die Eng-
länder schwere Verluste erlitten, und als Neuvorpommern an Preußen
fiel, behielten viele der dortigen Schiffe die schwedische Flagge bei, weil sie
einigen Schutz gegen die Barbaresken bot. Im Jahre 1820 besaß Preußen
nur noch 705 meist alte und baufällige Schiffe mit 72,435 Last Trag-
fähigkeit; vor den Kriegen hatte man an der Küste von Barth bis Memel
ihrer 1102 gezählt. Während der letzten Kriegsjahre war die preußische
Flagge von der hohen See fast verschwunden; jetzt galt es ihren tief ge-
schädigten Ruf herzustellen, einen Stamm von tüchtigen Seeleuten zu er-
ziehen. Dies gelang der neu gegründeten Navigationsschule in Danzig
und den Schifffahrts-Elementarschulen von Memel, Pillau, Stettin,

III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
tief begründet in den Bedürfniſſen der modernen Geſellſchaft und reich
an eigenthümlichen ſittlichen Kräften: denn die Mathematik duldet keine
Lücke des Fleißes, ſie erweckt dem Schüler frühe ſchon den frohen Glauben,
daß der Menſch abſolute Wahrheiten zu finden vermag, und die meiſten
der techniſch gebildeten jungen Leute gingen ins Leben mit einer dreiſten
Zuverſicht, welche das Gymnaſium ſeinen Schülern nicht immer verleiht,
ſie fühlten ſich ſtolz an der Spitze der Civiliſation zu ſchreiten. Dieſe
realiſtiſche Bildung blieb geſund und wohlberechtigt, ſo lange ſie beſcheiden
ihre Schranken einhielt und noch nicht den anmaßenden Anſpruch erhob,
die Univerſitäten und Gymnaſien von der freien Höhe ihrer claſſiſch-hiſto-
riſchen Weltanſchauung herabzuſtürzen. Alexander Humboldt und der
Königsberger Aſtronom Beſſel begrüßten die Wandlung mit Freuden.
Goethe aber ſchrieb befriedigt, als er Klöden’s erſtes Programm empfing:
dieſe Schrift „belehrt uns von der umfaſſenden Sorgfalt, womit der preu-
ßiſche Staat ſich gegen die unaufhaltſam fortſtrebende Technik unſerer
Nachbarn ins Gleichgewicht zu ſtellen trachtet.“

Keck und fröhlich äußerte ſich der Lebensmuth dieſes neuen Geſchlechts,
wenn Beuth im Gewerbevereine „ſeine Leibgarde“ um ſich verſammelte,
wie der Kronprinz ſie nannte. Da war Egells, der Lehrer Borſig’s, und
Feilner, der den Norddeutſchen ihren unentbehrlichen Hausfreund, den
großen weißglaſirten Ofen ſchenkte; der Vergolder Hoſſauer, der die plat-
tirten Metallwaaren nach Deutſchland brachte, und viele andere auf-
ſtrebende techniſche Talente, alleſammt ſehr anſpruchslos nach unſeren
Begriffen, aber voll thatkräftiger Schaffensluſt und im Grunde glücklicher
als die reicheren Nachkommen. Denn noch war die Welt nicht vertheilt,
das Maſſenelend und die erdrückende Uebermacht des großen Capitals
kaum bemerkbar; weit leichter als heutzutage konnte ein armer Klempner-
geſell wie Hoſſauer durch die Kraft ſeines Kopfes und ſeiner fleißigen
Hände zu glänzendem Reichthum gelangen. Ohne die feſte Ueberzeugung,
daß die Welt dem Tüchtigen gehöre, hätte dies verarmte Geſchlecht nie
vermocht den Cyclopen unſerer heutigen Fabriken ihre Eſſen anzuzünden.

Am langſamſten erholte ſich die Rhederei von den Schlägen des
Krieges. Die Handelsflotte hatte im Kriege von 1806 durch die Eng-
länder ſchwere Verluſte erlitten, und als Neuvorpommern an Preußen
fiel, behielten viele der dortigen Schiffe die ſchwediſche Flagge bei, weil ſie
einigen Schutz gegen die Barbaresken bot. Im Jahre 1820 beſaß Preußen
nur noch 705 meiſt alte und baufällige Schiffe mit 72,435 Laſt Trag-
fähigkeit; vor den Kriegen hatte man an der Küſte von Barth bis Memel
ihrer 1102 gezählt. Während der letzten Kriegsjahre war die preußiſche
Flagge von der hohen See faſt verſchwunden; jetzt galt es ihren tief ge-
ſchädigten Ruf herzuſtellen, einen Stamm von tüchtigen Seeleuten zu er-
ziehen. Dies gelang der neu gegründeten Navigationsſchule in Danzig
und den Schifffahrts-Elementarſchulen von Memel, Pillau, Stettin,

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[468/0484] III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. tief begründet in den Bedürfniſſen der modernen Geſellſchaft und reich an eigenthümlichen ſittlichen Kräften: denn die Mathematik duldet keine Lücke des Fleißes, ſie erweckt dem Schüler frühe ſchon den frohen Glauben, daß der Menſch abſolute Wahrheiten zu finden vermag, und die meiſten der techniſch gebildeten jungen Leute gingen ins Leben mit einer dreiſten Zuverſicht, welche das Gymnaſium ſeinen Schülern nicht immer verleiht, ſie fühlten ſich ſtolz an der Spitze der Civiliſation zu ſchreiten. Dieſe realiſtiſche Bildung blieb geſund und wohlberechtigt, ſo lange ſie beſcheiden ihre Schranken einhielt und noch nicht den anmaßenden Anſpruch erhob, die Univerſitäten und Gymnaſien von der freien Höhe ihrer claſſiſch-hiſto- riſchen Weltanſchauung herabzuſtürzen. Alexander Humboldt und der Königsberger Aſtronom Beſſel begrüßten die Wandlung mit Freuden. Goethe aber ſchrieb befriedigt, als er Klöden’s erſtes Programm empfing: dieſe Schrift „belehrt uns von der umfaſſenden Sorgfalt, womit der preu- ßiſche Staat ſich gegen die unaufhaltſam fortſtrebende Technik unſerer Nachbarn ins Gleichgewicht zu ſtellen trachtet.“ Keck und fröhlich äußerte ſich der Lebensmuth dieſes neuen Geſchlechts, wenn Beuth im Gewerbevereine „ſeine Leibgarde“ um ſich verſammelte, wie der Kronprinz ſie nannte. Da war Egells, der Lehrer Borſig’s, und Feilner, der den Norddeutſchen ihren unentbehrlichen Hausfreund, den großen weißglaſirten Ofen ſchenkte; der Vergolder Hoſſauer, der die plat- tirten Metallwaaren nach Deutſchland brachte, und viele andere auf- ſtrebende techniſche Talente, alleſammt ſehr anſpruchslos nach unſeren Begriffen, aber voll thatkräftiger Schaffensluſt und im Grunde glücklicher als die reicheren Nachkommen. Denn noch war die Welt nicht vertheilt, das Maſſenelend und die erdrückende Uebermacht des großen Capitals kaum bemerkbar; weit leichter als heutzutage konnte ein armer Klempner- geſell wie Hoſſauer durch die Kraft ſeines Kopfes und ſeiner fleißigen Hände zu glänzendem Reichthum gelangen. Ohne die feſte Ueberzeugung, daß die Welt dem Tüchtigen gehöre, hätte dies verarmte Geſchlecht nie vermocht den Cyclopen unſerer heutigen Fabriken ihre Eſſen anzuzünden. Am langſamſten erholte ſich die Rhederei von den Schlägen des Krieges. Die Handelsflotte hatte im Kriege von 1806 durch die Eng- länder ſchwere Verluſte erlitten, und als Neuvorpommern an Preußen fiel, behielten viele der dortigen Schiffe die ſchwediſche Flagge bei, weil ſie einigen Schutz gegen die Barbaresken bot. Im Jahre 1820 beſaß Preußen nur noch 705 meiſt alte und baufällige Schiffe mit 72,435 Laſt Trag- fähigkeit; vor den Kriegen hatte man an der Küſte von Barth bis Memel ihrer 1102 gezählt. Während der letzten Kriegsjahre war die preußiſche Flagge von der hohen See faſt verſchwunden; jetzt galt es ihren tief ge- ſchädigten Ruf herzuſtellen, einen Stamm von tüchtigen Seeleuten zu er- ziehen. Dies gelang der neu gegründeten Navigationsſchule in Danzig und den Schifffahrts-Elementarſchulen von Memel, Pillau, Stettin,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/484>, abgerufen am 22.11.2024.