Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod. durch den Zudrang frischer Kräfte aus allen Schichten der Gesellschaft.Durch das Beamtenthum erfuhr die Krone was im Volke vorging und das Volk was Rechtens war; denn von dem öffentlichen Rechte des Landes, selbst von solchen Gesetzen, welche Jeden unmittelbar angingen, besaß die Masse noch gar keine Kenntniß, sie befolgte was die Behörden anordneten und beruhigte sich bei dem kindlichen Glauben, der auch selten getäuscht wurde, daß im königlichen Dienste Alles mit rechten Dingen zugehe. Mit gutem Grunde sagte man in den Beamtenkreisen: in Preußen macht der Staatsdienst fast die Verfassung selber aus. Im Staatsdienst allein konnte der Ehrgeiz des politischen Talents seine Thatkraft erproben; sehr selten fand sich in den höheren Ständen ein guter Kopf, der nicht einmal auf längere oder kürzere Zeit ein Staatsamt bekleidet hätte. Durch Rechtschaffenheit, Pflichttreue, gründliche Bildung übertraf der preußische Beamtenstand in dieser seiner klassischen Epoche jede andere regierende Klasse in Europa. Selber ohne wirthschaftliche Klassenselbstsucht, vermochte er, wie das Königthum, dem er diente, die Interessenkämpfe der bürger- lichen Gesellschaft gerecht und unbefangen zu betrachten. Aber er stand dem Leben zu fern, er gewann in der Stille seiner Amtsstuben nur selten ein vollständiges Bild von den Wünschen und Bedürfnissen des arbeiten- den Volks, er vergeudete viel gute Kraft in formenseliger Papierthätigkeit und trug ein Selbstgefühl zur Schau, das den Deutschen draußen im Reich ein Gräuel war. Wenn die steifen, sparsamen Berliner Geheimen Räthe im Sommer nach Karlsbad oder Ems kamen, um sich von den Plagen des arbeitsreichen Winters zu erholen, dann ärgerte sich der ge- müthliche süddeutsche Badegast an dem scharf absprechenden Wesen der gestrengen Herren um so gründlicher, da er ihnen die geistige Ueberlegen- heit selten bestreiten konnte. Der Stolz der Beamten stand niemals höher als in diesen Tagen, da ihr Staat in der großen Politik eine so bescheidene Rolle spielte, und vertrug sich sehr wohl mit dem altpreußischen Erbfehler der Tadelsucht. Ganz unleidlich erklang das Selbstlob der Bureaukratie in der Schrift III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. durch den Zudrang friſcher Kräfte aus allen Schichten der Geſellſchaft.Durch das Beamtenthum erfuhr die Krone was im Volke vorging und das Volk was Rechtens war; denn von dem öffentlichen Rechte des Landes, ſelbſt von ſolchen Geſetzen, welche Jeden unmittelbar angingen, beſaß die Maſſe noch gar keine Kenntniß, ſie befolgte was die Behörden anordneten und beruhigte ſich bei dem kindlichen Glauben, der auch ſelten getäuſcht wurde, daß im königlichen Dienſte Alles mit rechten Dingen zugehe. Mit gutem Grunde ſagte man in den Beamtenkreiſen: in Preußen macht der Staatsdienſt faſt die Verfaſſung ſelber aus. Im Staatsdienſt allein konnte der Ehrgeiz des politiſchen Talents ſeine Thatkraft erproben; ſehr ſelten fand ſich in den höheren Ständen ein guter Kopf, der nicht einmal auf längere oder kürzere Zeit ein Staatsamt bekleidet hätte. Durch Rechtſchaffenheit, Pflichttreue, gründliche Bildung übertraf der preußiſche Beamtenſtand in dieſer ſeiner klaſſiſchen Epoche jede andere regierende Klaſſe in Europa. Selber ohne wirthſchaftliche Klaſſenſelbſtſucht, vermochte er, wie das Königthum, dem er diente, die Intereſſenkämpfe der bürger- lichen Geſellſchaft gerecht und unbefangen zu betrachten. Aber er ſtand dem Leben zu fern, er gewann in der Stille ſeiner Amtsſtuben nur ſelten ein vollſtändiges Bild von den Wünſchen und Bedürfniſſen des arbeiten- den Volks, er vergeudete viel gute Kraft in formenſeliger Papierthätigkeit und trug ein Selbſtgefühl zur Schau, das den Deutſchen draußen im Reich ein Gräuel war. Wenn die ſteifen, ſparſamen Berliner Geheimen Räthe im Sommer nach Karlsbad oder Ems kamen, um ſich von den Plagen des arbeitsreichen Winters zu erholen, dann ärgerte ſich der ge- müthliche ſüddeutſche Badegaſt an dem ſcharf abſprechenden Weſen der geſtrengen Herren um ſo gründlicher, da er ihnen die geiſtige Ueberlegen- heit ſelten beſtreiten konnte. Der Stolz der Beamten ſtand niemals höher als in dieſen Tagen, da ihr Staat in der großen Politik eine ſo beſcheidene Rolle ſpielte, und vertrug ſich ſehr wohl mit dem altpreußiſchen Erbfehler der Tadelſucht. Ganz unleidlich erklang das Selbſtlob der Bureaukratie in der Schrift <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0440" n="424"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> 6. 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III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
durch den Zudrang friſcher Kräfte aus allen Schichten der Geſellſchaft.
Durch das Beamtenthum erfuhr die Krone was im Volke vorging und
das Volk was Rechtens war; denn von dem öffentlichen Rechte des Landes,
ſelbſt von ſolchen Geſetzen, welche Jeden unmittelbar angingen, beſaß die
Maſſe noch gar keine Kenntniß, ſie befolgte was die Behörden anordneten
und beruhigte ſich bei dem kindlichen Glauben, der auch ſelten getäuſcht
wurde, daß im königlichen Dienſte Alles mit rechten Dingen zugehe.
Mit gutem Grunde ſagte man in den Beamtenkreiſen: in Preußen
macht der Staatsdienſt faſt die Verfaſſung ſelber aus. Im Staatsdienſt
allein konnte der Ehrgeiz des politiſchen Talents ſeine Thatkraft erproben;
ſehr ſelten fand ſich in den höheren Ständen ein guter Kopf, der nicht
einmal auf längere oder kürzere Zeit ein Staatsamt bekleidet hätte. Durch
Rechtſchaffenheit, Pflichttreue, gründliche Bildung übertraf der preußiſche
Beamtenſtand in dieſer ſeiner klaſſiſchen Epoche jede andere regierende
Klaſſe in Europa. Selber ohne wirthſchaftliche Klaſſenſelbſtſucht, vermochte
er, wie das Königthum, dem er diente, die Intereſſenkämpfe der bürger-
lichen Geſellſchaft gerecht und unbefangen zu betrachten. Aber er ſtand
dem Leben zu fern, er gewann in der Stille ſeiner Amtsſtuben nur ſelten
ein vollſtändiges Bild von den Wünſchen und Bedürfniſſen des arbeiten-
den Volks, er vergeudete viel gute Kraft in formenſeliger Papierthätigkeit
und trug ein Selbſtgefühl zur Schau, das den Deutſchen draußen im
Reich ein Gräuel war. Wenn die ſteifen, ſparſamen Berliner Geheimen
Räthe im Sommer nach Karlsbad oder Ems kamen, um ſich von den
Plagen des arbeitsreichen Winters zu erholen, dann ärgerte ſich der ge-
müthliche ſüddeutſche Badegaſt an dem ſcharf abſprechenden Weſen der
geſtrengen Herren um ſo gründlicher, da er ihnen die geiſtige Ueberlegen-
heit ſelten beſtreiten konnte. Der Stolz der Beamten ſtand niemals höher
als in dieſen Tagen, da ihr Staat in der großen Politik eine ſo beſcheidene
Rolle ſpielte, und vertrug ſich ſehr wohl mit dem altpreußiſchen Erbfehler
der Tadelſucht.
Ganz unleidlich erklang das Selbſtlob der Bureaukratie in der Schrift
des Regierungsraths Wehnert über den Geiſt der preußiſchen Staatsorga-
niſation. Mit dem unfehlbaren Dünkel eines Standes, „der wiſſenſchaft-
liche Cultur und Erfahrung des Geſchäftslebens“ in ſich vereinigte, ſah
der geſcheidte und wohlmeinende Beamte hernieder auf „die öde Pedanterie
und die gewagte Speculation einſeitiger Gelehrten.“ Er erklärte das Be-
amtenthum für „die eigentliche ideelle Kraft des Volksgeiſtes“ und ver-
ſicherte herablaſſend: „der Widerſtreit der Verfaſſungsformen, der heute
die Welt erſchüttert, geht an Preußen vorüber“: erſt wenn die Provinzial-
ſtände in ihrem beſcheidenen Wirkungskreiſe die nöthige Reife erlangt
hätten, wollte er dereinſt einmal die Reichsſtände berufen ſehen. So wenig
ahnte man in dieſen Beamtenkreiſen von der revolutionären Macht der
conſtitutionellen Ideen.
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