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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.
Constitution des Staates und die der Kirche einander bedingten. Auch der
König lehnte diese Gedanken anfangs nicht unbedingt ab. Er ließ im Jahre
1819 Provinzialsynoden zusammentreten und erklärte noch drei Jahre später
dem Cultusminister seine Absicht, eine Generalsynode von gewählten Geist-
lichen und Laien einzuberufen, welche, wie es in Baden geschehen war, eine
Unionsurkunde für die gesammte Landeskirche entwerfen sollte. Indeß
war er keineswegs gesonnen mit der Geschichte zu brechen und auf seine
Stellung an der Spitze der Landeskirche zu verzichten; nur ein Zusammen-
wirken der Synoden mit den bestehenden landesherrlichen Consistorien
wollte er zugeben. Darum begann er schon bedenklich zu werden, als
mehrere der Provinzialsynoden von 1819 sich in ihrer Unerfahrenheit zu
radikalen Beschlüssen verstiegen und geradezu die Aufhebung der Consi-
storialverfassung forderten; die brandenburgische Synode, die unter Schleier-
macher's beherrschendem Einfluß stand, wollte sogar das Cultusministerium
abschaffen und durch einen Ausschuß der Generalsynode ersetzen -- ein
Vorschlag, der bei der Zerfahrenheit der kirchlichen Parteiung augenblicklich
nur Unheil stiften, nur eine verderbliche Sektenbildung hervorrufen konnte.
Als nun der Kampf gegen die Agende begann, eine Fluth widersprechender
Beschwerden und Bedenken sich an die Stufen des Thrones heranwälzte,
da fürchtete Friedrich Wilhelm, eine Generalsynode, jetzt berufen, werde
die Verwirrung nur vermehren, vielleicht den Bestand der jungen Union
selbst gefährden. Auch politische Besorgnisse mochten ihn bedenklich stimmen.
Noch mißtrauischer betrachtete Altenstein die unbequemen ersten Regungen
kirchlicher Selbständigkeit; er blieb bei all seiner Duldsamkeit doch ganz
in staatskirchlichen Anschauungen befangen und that gar nichts um die
Synodalreform zu fördern, sondern ließ die Pläne des Monarchen, wie
Alles was ihm unbequem war, nach einigen unfruchtbaren Vorarbeiten
gemächlich einschlafen. Die Provinzialsynoden wurden nicht wieder ein-
berufen, nur die kleinen Kreissynoden der Geistlichen führten ihr unschein-
bares Dasein weiter. Da der Kirche also ein berechtigtes Organ zum
Aussprechen ihres Gesammtwillens noch fehlte, so beschloß der König als
oberster Bischof sein liturgisches Recht zu gebrauchen, wie er es nannte,
und ohne unmittelbaren Zwang doch das ganze Ansehen seiner Krone
für die Durchführung der Agende einzusetzen.

Nach seiner heiligen Ueberzeugung verfiel die Kirche ohne eine gleich-
mäßige Regel des Gottesdienstes rettungslos der Zersplitterung, und ihm
lag es ob, dem Verderben zu wehren. An den Rand einer Protestein-
gabe schrieb er eigenhändig: "Glaubens- und Gewissensfreiheit sind wohl zu
unterscheiden von Religionsfreiheit." Die Schriften einiger ungeschickten
Vertheidiger bestärkten ihn in solcher Ansicht. Der Theolog Augusti in
Bonn verfocht geradezu den furchtbaren Satz cujus regio ejus religio, der
doch in Preußen schon seit den Tagen Johann Sigismund's seine Herrschaft
verloren hatte, und Ammon in Dresden pflichtete ihm behutsam bei. Der

III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Conſtitution des Staates und die der Kirche einander bedingten. Auch der
König lehnte dieſe Gedanken anfangs nicht unbedingt ab. Er ließ im Jahre
1819 Provinzialſynoden zuſammentreten und erklärte noch drei Jahre ſpäter
dem Cultusminiſter ſeine Abſicht, eine Generalſynode von gewählten Geiſt-
lichen und Laien einzuberufen, welche, wie es in Baden geſchehen war, eine
Unionsurkunde für die geſammte Landeskirche entwerfen ſollte. Indeß
war er keineswegs geſonnen mit der Geſchichte zu brechen und auf ſeine
Stellung an der Spitze der Landeskirche zu verzichten; nur ein Zuſammen-
wirken der Synoden mit den beſtehenden landesherrlichen Conſiſtorien
wollte er zugeben. Darum begann er ſchon bedenklich zu werden, als
mehrere der Provinzialſynoden von 1819 ſich in ihrer Unerfahrenheit zu
radikalen Beſchlüſſen verſtiegen und geradezu die Aufhebung der Conſi-
ſtorialverfaſſung forderten; die brandenburgiſche Synode, die unter Schleier-
macher’s beherrſchendem Einfluß ſtand, wollte ſogar das Cultusminiſterium
abſchaffen und durch einen Ausſchuß der Generalſynode erſetzen — ein
Vorſchlag, der bei der Zerfahrenheit der kirchlichen Parteiung augenblicklich
nur Unheil ſtiften, nur eine verderbliche Sektenbildung hervorrufen konnte.
Als nun der Kampf gegen die Agende begann, eine Fluth widerſprechender
Beſchwerden und Bedenken ſich an die Stufen des Thrones heranwälzte,
da fürchtete Friedrich Wilhelm, eine Generalſynode, jetzt berufen, werde
die Verwirrung nur vermehren, vielleicht den Beſtand der jungen Union
ſelbſt gefährden. Auch politiſche Beſorgniſſe mochten ihn bedenklich ſtimmen.
Noch mißtrauiſcher betrachtete Altenſtein die unbequemen erſten Regungen
kirchlicher Selbſtändigkeit; er blieb bei all ſeiner Duldſamkeit doch ganz
in ſtaatskirchlichen Anſchauungen befangen und that gar nichts um die
Synodalreform zu fördern, ſondern ließ die Pläne des Monarchen, wie
Alles was ihm unbequem war, nach einigen unfruchtbaren Vorarbeiten
gemächlich einſchlafen. Die Provinzialſynoden wurden nicht wieder ein-
berufen, nur die kleinen Kreisſynoden der Geiſtlichen führten ihr unſchein-
bares Daſein weiter. Da der Kirche alſo ein berechtigtes Organ zum
Ausſprechen ihres Geſammtwillens noch fehlte, ſo beſchloß der König als
oberſter Biſchof ſein liturgiſches Recht zu gebrauchen, wie er es nannte,
und ohne unmittelbaren Zwang doch das ganze Anſehen ſeiner Krone
für die Durchführung der Agende einzuſetzen.

Nach ſeiner heiligen Ueberzeugung verfiel die Kirche ohne eine gleich-
mäßige Regel des Gottesdienſtes rettungslos der Zerſplitterung, und ihm
lag es ob, dem Verderben zu wehren. An den Rand einer Proteſtein-
gabe ſchrieb er eigenhändig: „Glaubens- und Gewiſſensfreiheit ſind wohl zu
unterſcheiden von Religionsfreiheit.“ Die Schriften einiger ungeſchickten
Vertheidiger beſtärkten ihn in ſolcher Anſicht. Der Theolog Auguſti in
Bonn verfocht geradezu den furchtbaren Satz cujus regio ejus religio, der
doch in Preußen ſchon ſeit den Tagen Johann Sigismund’s ſeine Herrſchaft
verloren hatte, und Ammon in Dresden pflichtete ihm behutſam bei. Der

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[398/0414] III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. Conſtitution des Staates und die der Kirche einander bedingten. Auch der König lehnte dieſe Gedanken anfangs nicht unbedingt ab. Er ließ im Jahre 1819 Provinzialſynoden zuſammentreten und erklärte noch drei Jahre ſpäter dem Cultusminiſter ſeine Abſicht, eine Generalſynode von gewählten Geiſt- lichen und Laien einzuberufen, welche, wie es in Baden geſchehen war, eine Unionsurkunde für die geſammte Landeskirche entwerfen ſollte. Indeß war er keineswegs geſonnen mit der Geſchichte zu brechen und auf ſeine Stellung an der Spitze der Landeskirche zu verzichten; nur ein Zuſammen- wirken der Synoden mit den beſtehenden landesherrlichen Conſiſtorien wollte er zugeben. Darum begann er ſchon bedenklich zu werden, als mehrere der Provinzialſynoden von 1819 ſich in ihrer Unerfahrenheit zu radikalen Beſchlüſſen verſtiegen und geradezu die Aufhebung der Conſi- ſtorialverfaſſung forderten; die brandenburgiſche Synode, die unter Schleier- macher’s beherrſchendem Einfluß ſtand, wollte ſogar das Cultusminiſterium abſchaffen und durch einen Ausſchuß der Generalſynode erſetzen — ein Vorſchlag, der bei der Zerfahrenheit der kirchlichen Parteiung augenblicklich nur Unheil ſtiften, nur eine verderbliche Sektenbildung hervorrufen konnte. Als nun der Kampf gegen die Agende begann, eine Fluth widerſprechender Beſchwerden und Bedenken ſich an die Stufen des Thrones heranwälzte, da fürchtete Friedrich Wilhelm, eine Generalſynode, jetzt berufen, werde die Verwirrung nur vermehren, vielleicht den Beſtand der jungen Union ſelbſt gefährden. Auch politiſche Beſorgniſſe mochten ihn bedenklich ſtimmen. Noch mißtrauiſcher betrachtete Altenſtein die unbequemen erſten Regungen kirchlicher Selbſtändigkeit; er blieb bei all ſeiner Duldſamkeit doch ganz in ſtaatskirchlichen Anſchauungen befangen und that gar nichts um die Synodalreform zu fördern, ſondern ließ die Pläne des Monarchen, wie Alles was ihm unbequem war, nach einigen unfruchtbaren Vorarbeiten gemächlich einſchlafen. Die Provinzialſynoden wurden nicht wieder ein- berufen, nur die kleinen Kreisſynoden der Geiſtlichen führten ihr unſchein- bares Daſein weiter. Da der Kirche alſo ein berechtigtes Organ zum Ausſprechen ihres Geſammtwillens noch fehlte, ſo beſchloß der König als oberſter Biſchof ſein liturgiſches Recht zu gebrauchen, wie er es nannte, und ohne unmittelbaren Zwang doch das ganze Anſehen ſeiner Krone für die Durchführung der Agende einzuſetzen. Nach ſeiner heiligen Ueberzeugung verfiel die Kirche ohne eine gleich- mäßige Regel des Gottesdienſtes rettungslos der Zerſplitterung, und ihm lag es ob, dem Verderben zu wehren. An den Rand einer Proteſtein- gabe ſchrieb er eigenhändig: „Glaubens- und Gewiſſensfreiheit ſind wohl zu unterſcheiden von Religionsfreiheit.“ Die Schriften einiger ungeſchickten Vertheidiger beſtärkten ihn in ſolcher Anſicht. Der Theolog Auguſti in Bonn verfocht geradezu den furchtbaren Satz cujus regio ejus religio, der doch in Preußen ſchon ſeit den Tagen Johann Sigismund’s ſeine Herrſchaft verloren hatte, und Ammon in Dresden pflichtete ihm behutſam bei. Der

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/414>, abgerufen am 24.11.2024.