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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.
formen dem persönlichen Gutdünken der Geistlichen anheimgefallen; fast
jeder Pfarrer legte sich nach Belieben seine eigene Agende zurecht. Wie
ward dem frommen Karl v. Raumer zu Muthe, als er in Halle an der
Bahre eines geliebten Sohnes stand und der Prediger, statt der Bibel-
worte, nach denen das Herz des Vaters schmachtete, aus Witschel's "An-
dachten" ein fades Gedicht über die Vergänglichkeit vorlas. Bei der
Trauung pflegten die aufgeklärten Geistlichen die Mahnung "und er soll
dein Herr sein" gemeinhin wegzulassen, weil sie ihnen zu ungalant klang.

Der Anblick dieser Anarchie mußte den Glaubensernst des Königs
ebenso peinlich berühren wie seinen militärischen Ordnungssinn; unter
allen schlimmen Dingen auf der Welt, sagte er zu Eylert, ist das schlimmste
die Willkür. Wie er vor Kurzem den Geistlichen anbefohlen hatte, statt
der geschmacklosen Modefräcke und Spitzhüte, die in jüngster Zeit aufge-
kommen waren, den würdigen lutherischen Talar wieder anzunehmen, so
meinte er sich auch verpflichtet, kraft seines oberstbischöflichen Rechtes die
Einheit des Cultus, deren jede geordnete Religionsgemeinschaft bedarf, seiner
Landeskirche wiederzugeben. Durch die Erneuerung der Agende Martin
Luther's, den er als den theuern Gottesmann, als den größten aller Refor-
matoren verehrte, wollte er das Werk der Union sichern, die evangelische
Kirche zu ihrem ursprünglichen Lehrbegriffe zurückführen, den erbaulichen
Gebeten und Gesängen wieder ihr gutes Recht neben der Lehre gewähren
und "seine evangelischen Unterthanen gegen den Mißbrauch einer regel-
losen, Zweifelsucht und Indifferentismus erzeugenden Willkür schützen."

Da er sich bewußt war kirchlicher zu denken als der Durchschnitt
der Geistlichen, so ging er mit ungewohnter Entschlossenheit selber vor und
gab zunächst den Garnisonskirchen seiner beiden Residenzen eine Liturgie,
die er sodann (1821) zu einer vollständigen Agende erweiterte und sämmt-
lichen Gemeinden der Landeskirche anempfehlen ließ. Die neue Agende
war ein schönes Werk evangelischer Frömmigkeit; sie schloß sich treu an
die ersten liturgischen Arbeiten der Reformationszeit an und stand mit
den Bekenntnißschriften des Protestantismus durchaus im Einklang. Mit
peinlicher Gewissenhaftigkeit hatte Friedrich Wilhelm bei der Ueberarbeitung
allen Bedenken und Rathschlägen, die ihm aus kirchlichen Kreisen zu-
kamen, gerecht zu werden gesucht. Alle seine guten Stunden widmete
er dieser Arbeit, die unter den Pflichten seines Herrscherberufs seinem
Herzen am nächsten stand. Er ward nicht müde die Frage immer von
Neuem gründlich zu erörtern, nicht blos mit seinen Hoftheologen, auch
mit Witzleben, auch mit Bunsen in Rom, der durch sein reiches liturgi-
sches Wissen damals zuerst das Vertrauen des Monarchen gewann. Was
sich von alten Agenden in dem zersplitterten evangelischen Deutschland
nur irgend auftreiben ließ, ward in den Zimmern des Königs zusammen-
getragen; er las und prüfte Alles, bis er endlich den massenhaften Stoff
vollständiger beherrschte als irgend einer seiner Theologen, und erwartete

III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
formen dem perſönlichen Gutdünken der Geiſtlichen anheimgefallen; faſt
jeder Pfarrer legte ſich nach Belieben ſeine eigene Agende zurecht. Wie
ward dem frommen Karl v. Raumer zu Muthe, als er in Halle an der
Bahre eines geliebten Sohnes ſtand und der Prediger, ſtatt der Bibel-
worte, nach denen das Herz des Vaters ſchmachtete, aus Witſchel’s „An-
dachten“ ein fades Gedicht über die Vergänglichkeit vorlas. Bei der
Trauung pflegten die aufgeklärten Geiſtlichen die Mahnung „und er ſoll
dein Herr ſein“ gemeinhin wegzulaſſen, weil ſie ihnen zu ungalant klang.

Der Anblick dieſer Anarchie mußte den Glaubensernſt des Königs
ebenſo peinlich berühren wie ſeinen militäriſchen Ordnungsſinn; unter
allen ſchlimmen Dingen auf der Welt, ſagte er zu Eylert, iſt das ſchlimmſte
die Willkür. Wie er vor Kurzem den Geiſtlichen anbefohlen hatte, ſtatt
der geſchmackloſen Modefräcke und Spitzhüte, die in jüngſter Zeit aufge-
kommen waren, den würdigen lutheriſchen Talar wieder anzunehmen, ſo
meinte er ſich auch verpflichtet, kraft ſeines oberſtbiſchöflichen Rechtes die
Einheit des Cultus, deren jede geordnete Religionsgemeinſchaft bedarf, ſeiner
Landeskirche wiederzugeben. Durch die Erneuerung der Agende Martin
Luther’s, den er als den theuern Gottesmann, als den größten aller Refor-
matoren verehrte, wollte er das Werk der Union ſichern, die evangeliſche
Kirche zu ihrem urſprünglichen Lehrbegriffe zurückführen, den erbaulichen
Gebeten und Geſängen wieder ihr gutes Recht neben der Lehre gewähren
und „ſeine evangeliſchen Unterthanen gegen den Mißbrauch einer regel-
loſen, Zweifelſucht und Indifferentismus erzeugenden Willkür ſchützen.“

Da er ſich bewußt war kirchlicher zu denken als der Durchſchnitt
der Geiſtlichen, ſo ging er mit ungewohnter Entſchloſſenheit ſelber vor und
gab zunächſt den Garniſonskirchen ſeiner beiden Reſidenzen eine Liturgie,
die er ſodann (1821) zu einer vollſtändigen Agende erweiterte und ſämmt-
lichen Gemeinden der Landeskirche anempfehlen ließ. Die neue Agende
war ein ſchönes Werk evangeliſcher Frömmigkeit; ſie ſchloß ſich treu an
die erſten liturgiſchen Arbeiten der Reformationszeit an und ſtand mit
den Bekenntnißſchriften des Proteſtantismus durchaus im Einklang. Mit
peinlicher Gewiſſenhaftigkeit hatte Friedrich Wilhelm bei der Ueberarbeitung
allen Bedenken und Rathſchlägen, die ihm aus kirchlichen Kreiſen zu-
kamen, gerecht zu werden geſucht. Alle ſeine guten Stunden widmete
er dieſer Arbeit, die unter den Pflichten ſeines Herrſcherberufs ſeinem
Herzen am nächſten ſtand. Er ward nicht müde die Frage immer von
Neuem gründlich zu erörtern, nicht blos mit ſeinen Hoftheologen, auch
mit Witzleben, auch mit Bunſen in Rom, der durch ſein reiches liturgi-
ſches Wiſſen damals zuerſt das Vertrauen des Monarchen gewann. Was
ſich von alten Agenden in dem zerſplitterten evangeliſchen Deutſchland
nur irgend auftreiben ließ, ward in den Zimmern des Königs zuſammen-
getragen; er las und prüfte Alles, bis er endlich den maſſenhaften Stoff
vollſtändiger beherrſchte als irgend einer ſeiner Theologen, und erwartete

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[396/0412] III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. formen dem perſönlichen Gutdünken der Geiſtlichen anheimgefallen; faſt jeder Pfarrer legte ſich nach Belieben ſeine eigene Agende zurecht. Wie ward dem frommen Karl v. Raumer zu Muthe, als er in Halle an der Bahre eines geliebten Sohnes ſtand und der Prediger, ſtatt der Bibel- worte, nach denen das Herz des Vaters ſchmachtete, aus Witſchel’s „An- dachten“ ein fades Gedicht über die Vergänglichkeit vorlas. Bei der Trauung pflegten die aufgeklärten Geiſtlichen die Mahnung „und er ſoll dein Herr ſein“ gemeinhin wegzulaſſen, weil ſie ihnen zu ungalant klang. Der Anblick dieſer Anarchie mußte den Glaubensernſt des Königs ebenſo peinlich berühren wie ſeinen militäriſchen Ordnungsſinn; unter allen ſchlimmen Dingen auf der Welt, ſagte er zu Eylert, iſt das ſchlimmſte die Willkür. Wie er vor Kurzem den Geiſtlichen anbefohlen hatte, ſtatt der geſchmackloſen Modefräcke und Spitzhüte, die in jüngſter Zeit aufge- kommen waren, den würdigen lutheriſchen Talar wieder anzunehmen, ſo meinte er ſich auch verpflichtet, kraft ſeines oberſtbiſchöflichen Rechtes die Einheit des Cultus, deren jede geordnete Religionsgemeinſchaft bedarf, ſeiner Landeskirche wiederzugeben. Durch die Erneuerung der Agende Martin Luther’s, den er als den theuern Gottesmann, als den größten aller Refor- matoren verehrte, wollte er das Werk der Union ſichern, die evangeliſche Kirche zu ihrem urſprünglichen Lehrbegriffe zurückführen, den erbaulichen Gebeten und Geſängen wieder ihr gutes Recht neben der Lehre gewähren und „ſeine evangeliſchen Unterthanen gegen den Mißbrauch einer regel- loſen, Zweifelſucht und Indifferentismus erzeugenden Willkür ſchützen.“ Da er ſich bewußt war kirchlicher zu denken als der Durchſchnitt der Geiſtlichen, ſo ging er mit ungewohnter Entſchloſſenheit ſelber vor und gab zunächſt den Garniſonskirchen ſeiner beiden Reſidenzen eine Liturgie, die er ſodann (1821) zu einer vollſtändigen Agende erweiterte und ſämmt- lichen Gemeinden der Landeskirche anempfehlen ließ. Die neue Agende war ein ſchönes Werk evangeliſcher Frömmigkeit; ſie ſchloß ſich treu an die erſten liturgiſchen Arbeiten der Reformationszeit an und ſtand mit den Bekenntnißſchriften des Proteſtantismus durchaus im Einklang. Mit peinlicher Gewiſſenhaftigkeit hatte Friedrich Wilhelm bei der Ueberarbeitung allen Bedenken und Rathſchlägen, die ihm aus kirchlichen Kreiſen zu- kamen, gerecht zu werden geſucht. Alle ſeine guten Stunden widmete er dieſer Arbeit, die unter den Pflichten ſeines Herrſcherberufs ſeinem Herzen am nächſten ſtand. Er ward nicht müde die Frage immer von Neuem gründlich zu erörtern, nicht blos mit ſeinen Hoftheologen, auch mit Witzleben, auch mit Bunſen in Rom, der durch ſein reiches liturgi- ſches Wiſſen damals zuerſt das Vertrauen des Monarchen gewann. Was ſich von alten Agenden in dem zerſplitterten evangeliſchen Deutſchland nur irgend auftreiben ließ, ward in den Zimmern des Königs zuſammen- getragen; er las und prüfte Alles, bis er endlich den maſſenhaften Stoff vollſtändiger beherrſchte als irgend einer ſeiner Theologen, und erwartete

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/412>, abgerufen am 24.11.2024.