Der Wortlaut des Artikels erschien so dehnbar, daß sich jede der bestehen- den Verfassungen zur Noth damit vertrug und Baiern ebenso unbedenk- lich wie Sachsen und Hannover zustimmen konnte. An den vorhandenen Zuständen änderte die Verkündigung des monarchischen Princips nichts; nur mit dem System der reinen Parlamentsherrschaft, das in Deutsch- land erst vereinzelte, machtlose Anhänger fand, war sie unvereinbar.
Die nämliche Unklarheit der staatsrechtlichen Begriffe bekundete sich wieder, als die Conferenz über das Geldbewilligungsrecht der Landtage verhandelte. Die Berathenden ahnten dunkel, daß jede geordnete Staats- verwaltung unmöglich wird, sobald die Volksvertretung alle Posten der Staatsausgaben nach Gutdünken streichen kann. Aber die schwierige Frage des constitutionellen Budgetrechts war bisher weder von der Wissen- schaft noch in der Praxis gründlich erörtert worden. Noch hatte Nie- mand die einfache Frage aufgeworfen: ob denn wirklich das Etatgesetz der Rechtstitel sei, kraft dessen der constitutionelle Staat seine Ausgaben leiste? -- Niemand auf die unbestreitbare Thatsache hingewiesen, daß weitaus die meisten Ausgaben der deutschen Staaten, die regelmäßigen Besoldungen, die Zinsen der Staatsschulden u. s. f., auf älteren Gesetzen beruhten, und mithin den Volkskammern auch nicht das Recht zustehen konnte, diese Gesetze durch willkürliche Geldverweigerung einseitig aufzuheben. Unsicher tastend suchte die Conferenz nach einem Auswege. Marschall schlug vor, die Landstände sollten keine Leistungen verweigern dürfen, die zur Erfül- lung der bestehenden Verwaltungsgesetze nothwendig seien. Doch die Be- sonnenen fühlten, wie leicht sich dieser Antrag des Ultras zur Zerstörung des Budgetrechtes der Landtage mißbrauchen ließ. Schließlich fand man rathsam, die heikle Streitfrage mit Stillschweigen zu übergehen und ließ es bewenden bei der selbstverständlichen Bestimmung (Art. 58), daß die Souveräne durch keine landständische Verfassung in der Erfüllung ihrer bundesmäßigen Verpflichtungen beschränkt werden dürften.
Unter allen Vorschriften der neuen Verfassungen erschien keine der diplomatischen Seelenangst so gefährlich wie die Oeffentlichkeit der Land- tagsverhandlungen. Ueber die Verwerflichkeit dieses demagogischen Unfugs war man in Wien ebenso einig wie vordem in Karlsbad. Die Minister der constitutionellen Staaten ergingen sich in bitteren Klagen über die Zügellosigkeit der parlamentarischen Beredsamkeit;*) Alle gestanden zu, daß die unbeschränkte Veröffentlichung solcher Reden den heilsamen Vor- schriften des neuen Preßgesetzes widerspreche, und Metternich meinte, durch diesen Mißbrauch werde jeder Staat, der nicht mindestens 10 Mill. Ein- wohner zähle, unrettbar zu Grunde gerichtet. Gleichwohl trug Zentner Bedenken, sich auf eine Abänderung der bairischen Verfassung einzulassen. Die Ultras unterlagen auch diesmal, und man gelangte wieder nur zu
*) Bernstorff's Bericht, 12. Dec. 1819.
III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Der Wortlaut des Artikels erſchien ſo dehnbar, daß ſich jede der beſtehen- den Verfaſſungen zur Noth damit vertrug und Baiern ebenſo unbedenk- lich wie Sachſen und Hannover zuſtimmen konnte. An den vorhandenen Zuſtänden änderte die Verkündigung des monarchiſchen Princips nichts; nur mit dem Syſtem der reinen Parlamentsherrſchaft, das in Deutſch- land erſt vereinzelte, machtloſe Anhänger fand, war ſie unvereinbar.
Die nämliche Unklarheit der ſtaatsrechtlichen Begriffe bekundete ſich wieder, als die Conferenz über das Geldbewilligungsrecht der Landtage verhandelte. Die Berathenden ahnten dunkel, daß jede geordnete Staats- verwaltung unmöglich wird, ſobald die Volksvertretung alle Poſten der Staatsausgaben nach Gutdünken ſtreichen kann. Aber die ſchwierige Frage des conſtitutionellen Budgetrechts war bisher weder von der Wiſſen- ſchaft noch in der Praxis gründlich erörtert worden. Noch hatte Nie- mand die einfache Frage aufgeworfen: ob denn wirklich das Etatgeſetz der Rechtstitel ſei, kraft deſſen der conſtitutionelle Staat ſeine Ausgaben leiſte? — Niemand auf die unbeſtreitbare Thatſache hingewieſen, daß weitaus die meiſten Ausgaben der deutſchen Staaten, die regelmäßigen Beſoldungen, die Zinſen der Staatsſchulden u. ſ. f., auf älteren Geſetzen beruhten, und mithin den Volkskammern auch nicht das Recht zuſtehen konnte, dieſe Geſetze durch willkürliche Geldverweigerung einſeitig aufzuheben. Unſicher taſtend ſuchte die Conferenz nach einem Auswege. Marſchall ſchlug vor, die Landſtände ſollten keine Leiſtungen verweigern dürfen, die zur Erfül- lung der beſtehenden Verwaltungsgeſetze nothwendig ſeien. Doch die Be- ſonnenen fühlten, wie leicht ſich dieſer Antrag des Ultras zur Zerſtörung des Budgetrechtes der Landtage mißbrauchen ließ. Schließlich fand man rathſam, die heikle Streitfrage mit Stillſchweigen zu übergehen und ließ es bewenden bei der ſelbſtverſtändlichen Beſtimmung (Art. 58), daß die Souveräne durch keine landſtändiſche Verfaſſung in der Erfüllung ihrer bundesmäßigen Verpflichtungen beſchränkt werden dürften.
Unter allen Vorſchriften der neuen Verfaſſungen erſchien keine der diplomatiſchen Seelenangſt ſo gefährlich wie die Oeffentlichkeit der Land- tagsverhandlungen. Ueber die Verwerflichkeit dieſes demagogiſchen Unfugs war man in Wien ebenſo einig wie vordem in Karlsbad. Die Miniſter der conſtitutionellen Staaten ergingen ſich in bitteren Klagen über die Zügelloſigkeit der parlamentariſchen Beredſamkeit;*) Alle geſtanden zu, daß die unbeſchränkte Veröffentlichung ſolcher Reden den heilſamen Vor- ſchriften des neuen Preßgeſetzes widerſpreche, und Metternich meinte, durch dieſen Mißbrauch werde jeder Staat, der nicht mindeſtens 10 Mill. Ein- wohner zähle, unrettbar zu Grunde gerichtet. Gleichwohl trug Zentner Bedenken, ſich auf eine Abänderung der bairiſchen Verfaſſung einzulaſſen. Die Ultras unterlagen auch diesmal, und man gelangte wieder nur zu
*) Bernſtorff’s Bericht, 12. Dec. 1819.
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III. 1. Die Wiener Conferenzen.
Der Wortlaut des Artikels erſchien ſo dehnbar, daß ſich jede der beſtehen-
den Verfaſſungen zur Noth damit vertrug und Baiern ebenſo unbedenk-
lich wie Sachſen und Hannover zuſtimmen konnte. An den vorhandenen
Zuſtänden änderte die Verkündigung des monarchiſchen Princips nichts;
nur mit dem Syſtem der reinen Parlamentsherrſchaft, das in Deutſch-
land erſt vereinzelte, machtloſe Anhänger fand, war ſie unvereinbar.
Die nämliche Unklarheit der ſtaatsrechtlichen Begriffe bekundete ſich
wieder, als die Conferenz über das Geldbewilligungsrecht der Landtage
verhandelte. Die Berathenden ahnten dunkel, daß jede geordnete Staats-
verwaltung unmöglich wird, ſobald die Volksvertretung alle Poſten der
Staatsausgaben nach Gutdünken ſtreichen kann. Aber die ſchwierige Frage
des conſtitutionellen Budgetrechts war bisher weder von der Wiſſen-
ſchaft noch in der Praxis gründlich erörtert worden. Noch hatte Nie-
mand die einfache Frage aufgeworfen: ob denn wirklich das Etatgeſetz der
Rechtstitel ſei, kraft deſſen der conſtitutionelle Staat ſeine Ausgaben leiſte?
— Niemand auf die unbeſtreitbare Thatſache hingewieſen, daß weitaus
die meiſten Ausgaben der deutſchen Staaten, die regelmäßigen Beſoldungen,
die Zinſen der Staatsſchulden u. ſ. f., auf älteren Geſetzen beruhten, und
mithin den Volkskammern auch nicht das Recht zuſtehen konnte, dieſe
Geſetze durch willkürliche Geldverweigerung einſeitig aufzuheben. Unſicher
taſtend ſuchte die Conferenz nach einem Auswege. Marſchall ſchlug vor,
die Landſtände ſollten keine Leiſtungen verweigern dürfen, die zur Erfül-
lung der beſtehenden Verwaltungsgeſetze nothwendig ſeien. Doch die Be-
ſonnenen fühlten, wie leicht ſich dieſer Antrag des Ultras zur Zerſtörung
des Budgetrechtes der Landtage mißbrauchen ließ. Schließlich fand man
rathſam, die heikle Streitfrage mit Stillſchweigen zu übergehen und ließ
es bewenden bei der ſelbſtverſtändlichen Beſtimmung (Art. 58), daß die
Souveräne durch keine landſtändiſche Verfaſſung in der Erfüllung ihrer
bundesmäßigen Verpflichtungen beſchränkt werden dürften.
Unter allen Vorſchriften der neuen Verfaſſungen erſchien keine der
diplomatiſchen Seelenangſt ſo gefährlich wie die Oeffentlichkeit der Land-
tagsverhandlungen. Ueber die Verwerflichkeit dieſes demagogiſchen Unfugs
war man in Wien ebenſo einig wie vordem in Karlsbad. Die Miniſter
der conſtitutionellen Staaten ergingen ſich in bitteren Klagen über die
Zügelloſigkeit der parlamentariſchen Beredſamkeit; *) Alle geſtanden zu,
daß die unbeſchränkte Veröffentlichung ſolcher Reden den heilſamen Vor-
ſchriften des neuen Preßgeſetzes widerſpreche, und Metternich meinte, durch
dieſen Mißbrauch werde jeder Staat, der nicht mindeſtens 10 Mill. Ein-
wohner zähle, unrettbar zu Grunde gerichtet. Gleichwohl trug Zentner
Bedenken, ſich auf eine Abänderung der bairiſchen Verfaſſung einzulaſſen.
Die Ultras unterlagen auch diesmal, und man gelangte wieder nur zu
*) Bernſtorff’s Bericht, 12. Dec. 1819.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/38>, abgerufen am 22.12.2024.
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