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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Canning.
folgt hatte, meinte er kurzab, das sei der größte Lügner und Schuft des
Continents, und legte fortan alle die salbungsvollen politischen Sitten-
predigten der Hofburg mit einem trockenen Witze bei Seite. Er wußte wohl,
daß Englands kleines Heer kaum wagen durfte den Franzosen in Spanien
mit dem Schwerte zu begegnen. Dafür hielt er eine andere Waffe bereit, um
die Nachbarn, falls sie den Einmarsch wagten, empfindlich zu züchtigen:
wenn England die thatsächlich schon halb vollzogene Anerkennung der Un-
abhängigkeit Südamerikas zuerst förmlich aussprach, dann wurden die In-
teressen Frankreichs und Spaniens schwer geschädigt, die britische Flagge
gewann die Vorhand auf dem neu erschlossenen Markte und konnte sich
vielleicht dort im Westen ein anderes größeres Portugal, ein unermeßliches
Gebiet handelspolitischer Ausbeutung sichern.

Ebenso gut englisch war Canning's Urtheil über die orientalischen
Wirren. Er hatte sich schon als Student durch seine reiche classische
Bildung hervorgethan und vor Jahren sogar philhellenische Gedichte ge-
schrieben, wie er auch jetzt noch den griechischen Rebellen seine menschliche
Theilnahme nicht versagte. Darum war er doch keineswegs gewillt, die
drückende Gewaltherrschaft, welche sein England gegen die Hellenen der
ionischen Inseln ausübte, irgend zu mildern. Den Bestand des Türken-
reichs hielt er, gleich der ungeheueren Mehrzahl seiner Landsleute, für eine
europäische -- das will sagen, eine englische -- Nothwendigkeit, weil die
wirthschaftliche Hilflosigkeit der schlummernden Balkanvölker dem britischen
Kaufmann einen so bequemen Markt bot. Um diesen treuesten Bundes-
genossen Alt-Englands nicht zu schwächen, wollte er den Griechen niemals
mehr als die Rechte eines halbselbständigen Vasallenstaates, wie sie Ser-
bien bereits besaß, einräumen. Ungleich wichtiger als die Zukunft der
Hellenen war ihm der Kampf gegen Rußlands orientalische Politik. In
dem Mißtrauen gegen den Petersburger Hof stimmte er ganz mit Lon-
donderry und den Hochtorys überein, nur wollte er die russischen Pläne
durch Thaten, nicht blos, wie Metternich, durch Hinhalten und Zuwarten
bekämpfen.

Wohl war es ein Segen, daß endlich wieder der grelle Lichtstrahl
einer kräftigen nationalen Politik in die Nebelwelt der europäischen Re-
aktion hereinbrach. Und Canning schritt mit der Geschichte, er erkannte
doch einige der jugendlichen Kräfte, die sich im Völkerleben emporran-
gen, in ihrer Berechtigung an; die Gedanken seiner britischen Macht-
politik berührten sich, wenn auch nur zufällig, mit manchen Herzens-
wünschen der Liberalen des Festlands. Meisterhaft verstand er diesen
Vortheil zu benutzen. Wie einst die beiden Pitt das große Wort vom
europäischen Gleichgewicht verwendet hatten um die Interessenpolitik der
englischen Seeherrschaft rednerisch zu umhüllen, so gebrauchte jetzt ihr
Nachfolger das neue Schlagwort von der Freiheit der Völker, das späterhin
als bewährtes Erbstück in den Wörterschatz Lord Palmerston's überging.

Canning.
folgt hatte, meinte er kurzab, das ſei der größte Lügner und Schuft des
Continents, und legte fortan alle die ſalbungsvollen politiſchen Sitten-
predigten der Hofburg mit einem trockenen Witze bei Seite. Er wußte wohl,
daß Englands kleines Heer kaum wagen durfte den Franzoſen in Spanien
mit dem Schwerte zu begegnen. Dafür hielt er eine andere Waffe bereit, um
die Nachbarn, falls ſie den Einmarſch wagten, empfindlich zu züchtigen:
wenn England die thatſächlich ſchon halb vollzogene Anerkennung der Un-
abhängigkeit Südamerikas zuerſt förmlich ausſprach, dann wurden die In-
tereſſen Frankreichs und Spaniens ſchwer geſchädigt, die britiſche Flagge
gewann die Vorhand auf dem neu erſchloſſenen Markte und konnte ſich
vielleicht dort im Weſten ein anderes größeres Portugal, ein unermeßliches
Gebiet handelspolitiſcher Ausbeutung ſichern.

Ebenſo gut engliſch war Canning’s Urtheil über die orientaliſchen
Wirren. Er hatte ſich ſchon als Student durch ſeine reiche claſſiſche
Bildung hervorgethan und vor Jahren ſogar philhelleniſche Gedichte ge-
ſchrieben, wie er auch jetzt noch den griechiſchen Rebellen ſeine menſchliche
Theilnahme nicht verſagte. Darum war er doch keineswegs gewillt, die
drückende Gewaltherrſchaft, welche ſein England gegen die Hellenen der
ioniſchen Inſeln ausübte, irgend zu mildern. Den Beſtand des Türken-
reichs hielt er, gleich der ungeheueren Mehrzahl ſeiner Landsleute, für eine
europäiſche — das will ſagen, eine engliſche — Nothwendigkeit, weil die
wirthſchaftliche Hilfloſigkeit der ſchlummernden Balkanvölker dem britiſchen
Kaufmann einen ſo bequemen Markt bot. Um dieſen treueſten Bundes-
genoſſen Alt-Englands nicht zu ſchwächen, wollte er den Griechen niemals
mehr als die Rechte eines halbſelbſtändigen Vaſallenſtaates, wie ſie Ser-
bien bereits beſaß, einräumen. Ungleich wichtiger als die Zukunft der
Hellenen war ihm der Kampf gegen Rußlands orientaliſche Politik. In
dem Mißtrauen gegen den Petersburger Hof ſtimmte er ganz mit Lon-
donderry und den Hochtorys überein, nur wollte er die ruſſiſchen Pläne
durch Thaten, nicht blos, wie Metternich, durch Hinhalten und Zuwarten
bekämpfen.

Wohl war es ein Segen, daß endlich wieder der grelle Lichtſtrahl
einer kräftigen nationalen Politik in die Nebelwelt der europäiſchen Re-
aktion hereinbrach. Und Canning ſchritt mit der Geſchichte, er erkannte
doch einige der jugendlichen Kräfte, die ſich im Völkerleben emporran-
gen, in ihrer Berechtigung an; die Gedanken ſeiner britiſchen Macht-
politik berührten ſich, wenn auch nur zufällig, mit manchen Herzens-
wünſchen der Liberalen des Feſtlands. Meiſterhaft verſtand er dieſen
Vortheil zu benutzen. Wie einſt die beiden Pitt das große Wort vom
europäiſchen Gleichgewicht verwendet hatten um die Intereſſenpolitik der
engliſchen Seeherrſchaft redneriſch zu umhüllen, ſo gebrauchte jetzt ihr
Nachfolger das neue Schlagwort von der Freiheit der Völker, das ſpäterhin
als bewährtes Erbſtück in den Wörterſchatz Lord Palmerſton’s überging.

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[265/0281] Canning. folgt hatte, meinte er kurzab, das ſei der größte Lügner und Schuft des Continents, und legte fortan alle die ſalbungsvollen politiſchen Sitten- predigten der Hofburg mit einem trockenen Witze bei Seite. Er wußte wohl, daß Englands kleines Heer kaum wagen durfte den Franzoſen in Spanien mit dem Schwerte zu begegnen. Dafür hielt er eine andere Waffe bereit, um die Nachbarn, falls ſie den Einmarſch wagten, empfindlich zu züchtigen: wenn England die thatſächlich ſchon halb vollzogene Anerkennung der Un- abhängigkeit Südamerikas zuerſt förmlich ausſprach, dann wurden die In- tereſſen Frankreichs und Spaniens ſchwer geſchädigt, die britiſche Flagge gewann die Vorhand auf dem neu erſchloſſenen Markte und konnte ſich vielleicht dort im Weſten ein anderes größeres Portugal, ein unermeßliches Gebiet handelspolitiſcher Ausbeutung ſichern. Ebenſo gut engliſch war Canning’s Urtheil über die orientaliſchen Wirren. Er hatte ſich ſchon als Student durch ſeine reiche claſſiſche Bildung hervorgethan und vor Jahren ſogar philhelleniſche Gedichte ge- ſchrieben, wie er auch jetzt noch den griechiſchen Rebellen ſeine menſchliche Theilnahme nicht verſagte. Darum war er doch keineswegs gewillt, die drückende Gewaltherrſchaft, welche ſein England gegen die Hellenen der ioniſchen Inſeln ausübte, irgend zu mildern. Den Beſtand des Türken- reichs hielt er, gleich der ungeheueren Mehrzahl ſeiner Landsleute, für eine europäiſche — das will ſagen, eine engliſche — Nothwendigkeit, weil die wirthſchaftliche Hilfloſigkeit der ſchlummernden Balkanvölker dem britiſchen Kaufmann einen ſo bequemen Markt bot. Um dieſen treueſten Bundes- genoſſen Alt-Englands nicht zu ſchwächen, wollte er den Griechen niemals mehr als die Rechte eines halbſelbſtändigen Vaſallenſtaates, wie ſie Ser- bien bereits beſaß, einräumen. Ungleich wichtiger als die Zukunft der Hellenen war ihm der Kampf gegen Rußlands orientaliſche Politik. In dem Mißtrauen gegen den Petersburger Hof ſtimmte er ganz mit Lon- donderry und den Hochtorys überein, nur wollte er die ruſſiſchen Pläne durch Thaten, nicht blos, wie Metternich, durch Hinhalten und Zuwarten bekämpfen. Wohl war es ein Segen, daß endlich wieder der grelle Lichtſtrahl einer kräftigen nationalen Politik in die Nebelwelt der europäiſchen Re- aktion hereinbrach. Und Canning ſchritt mit der Geſchichte, er erkannte doch einige der jugendlichen Kräfte, die ſich im Völkerleben emporran- gen, in ihrer Berechtigung an; die Gedanken ſeiner britiſchen Macht- politik berührten ſich, wenn auch nur zufällig, mit manchen Herzens- wünſchen der Liberalen des Feſtlands. Meiſterhaft verſtand er dieſen Vortheil zu benutzen. Wie einſt die beiden Pitt das große Wort vom europäiſchen Gleichgewicht verwendet hatten um die Intereſſenpolitik der engliſchen Seeherrſchaft redneriſch zu umhüllen, ſo gebrauchte jetzt ihr Nachfolger das neue Schlagwort von der Freiheit der Völker, das ſpäterhin als bewährtes Erbſtück in den Wörterſchatz Lord Palmerſton’s überging.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/281>, abgerufen am 23.11.2024.