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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Kapodistrias' Fall.
der Höfe des alten Jahrhunderts befangen blieb und sich nichts Schöneres
wußte als eine recht flache italienische Oper, so erschien es ihm sehr merk-
würdig, daß alle Liberalen die neue deutsche Musik vorzögen, der falsche
Geist und der schlechte Geschmack sich ewig beisammen fänden.

In Petersburg blieb der Rückschlag nicht aus. Kapodistrias verließ den
Hof im September mit unbestimmtem Urlaub -- für immer, wie er wohl
wußte. Auch Golowkin forderte seine Entlassung und wurde durch den glück-
lich überlisteten Tatistschew ersetzt. So waren sie denn Alle in Ungnade ge-
fallen, die bedeutenden Männer, die einst nach und neben einander das Ver-
trauen des Czaren gewonnen hatten: Speransky und Stein, Czartoryski,
Galitzin, Kapodistrias. Nur Einer behauptete sich vom Anfang bis zum
Ende dieser wechselreichen Regierung unerschütterlich in der Gunst des
Herrschers: der dumme, rohe, heimtückische General Araktschejew, ein Ka-
maschenheld gemeinsten Schlages, knechtisch nach oben, frech nach unten.
Wie sanfte, hingebende Frauen sich nicht selten zu einem völlig herzlosen
Manne dämonisch hingezogen fühlen, so konnte Alexanders weiche Natur
diesen bösen Gesellen nicht entbehren, der in seiner glücklichen Selbst-
gewißheit kein Erwägen und kein Schwanken kannte. Der allgemeine
Haß, welchen das herrische Gebahren dieses Günstlings hervorrief, fiel auch
auf seinen Beschützer zurück. Seit Alexander vor den Osmanen die Segel
gestrichen hatte, begann die Liebe des Volks sich von dem einst Vergöt-
terten abzuwenden, und je verlassener er sich unter seinen Russen fühlte,
um so fester klammerte er sich an den Bund der großen Mächte.

Der preußische Hof hatte während dieser Händel seine österreichischen
Freunde unterstützt, doch nur lau und nicht ohne Widerstreben; denn
obwohl er in seiner unbedingten Friedensliebe den Ausbruch des orien-
talischen Krieges zu verhindern wünschte, so konnte er sich doch der phil-
hellenischen Schwärmerei der öffentlichen Meinung nicht so gänzlich ent-
ziehen wie die Hofburg, die von Alters her darauf rechnen durfte, daß
ihre Völker sich niemals ein Urtheil über die auswärtige Politik erlaubten.
Ein türkenfreundlicher Fanatismus, wie ihn der Oesterreichische Beobachter
zur Schau trug, war in den Spalten der Berliner Staatszeitung un-
möglich, da fast die gesammte gute Gesellschaft, bis herauf zu dem Frhrrn.
vom Stein und dem hochkirchlichen westphälischen Adel, sich laut für die
Griechen aussprach. Einmal, im Juli 1821, wagte Ancillon sogar den Vor-
schlag, die christlichen Mächte sollten durch gemeinsame Verhandlungen bei
der Pforte den Griechen einigen Rechtsschutz sichern. Bernstorff beeilte sich
freilich, diese Denkschrift seines Freundes als eine Privatarbeit zu ver-
leugnen; er ermahnte sogar im September, auf Metternich's dringende
Bitte, die Höfe von München und Stuttgart zum Einschreiten gegen die
revolutionären Umtriebe der Philhellenen: unter den Aposteln der Frei-
heit, so schrieb er, habe keiner so viel Frechheit an den Tag gelegt wie
Professor Thiersch in München. Nunmehr wurden die öffentlichen Wer-

17*

Kapodiſtrias’ Fall.
der Höfe des alten Jahrhunderts befangen blieb und ſich nichts Schöneres
wußte als eine recht flache italieniſche Oper, ſo erſchien es ihm ſehr merk-
würdig, daß alle Liberalen die neue deutſche Muſik vorzögen, der falſche
Geiſt und der ſchlechte Geſchmack ſich ewig beiſammen fänden.

In Petersburg blieb der Rückſchlag nicht aus. Kapodiſtrias verließ den
Hof im September mit unbeſtimmtem Urlaub — für immer, wie er wohl
wußte. Auch Golowkin forderte ſeine Entlaſſung und wurde durch den glück-
lich überliſteten Tatiſtſchew erſetzt. So waren ſie denn Alle in Ungnade ge-
fallen, die bedeutenden Männer, die einſt nach und neben einander das Ver-
trauen des Czaren gewonnen hatten: Speransky und Stein, Czartoryski,
Galitzin, Kapodiſtrias. Nur Einer behauptete ſich vom Anfang bis zum
Ende dieſer wechſelreichen Regierung unerſchütterlich in der Gunſt des
Herrſchers: der dumme, rohe, heimtückiſche General Araktſchejew, ein Ka-
maſchenheld gemeinſten Schlages, knechtiſch nach oben, frech nach unten.
Wie ſanfte, hingebende Frauen ſich nicht ſelten zu einem völlig herzloſen
Manne dämoniſch hingezogen fühlen, ſo konnte Alexanders weiche Natur
dieſen böſen Geſellen nicht entbehren, der in ſeiner glücklichen Selbſt-
gewißheit kein Erwägen und kein Schwanken kannte. Der allgemeine
Haß, welchen das herriſche Gebahren dieſes Günſtlings hervorrief, fiel auch
auf ſeinen Beſchützer zurück. Seit Alexander vor den Osmanen die Segel
geſtrichen hatte, begann die Liebe des Volks ſich von dem einſt Vergöt-
terten abzuwenden, und je verlaſſener er ſich unter ſeinen Ruſſen fühlte,
um ſo feſter klammerte er ſich an den Bund der großen Mächte.

Der preußiſche Hof hatte während dieſer Händel ſeine öſterreichiſchen
Freunde unterſtützt, doch nur lau und nicht ohne Widerſtreben; denn
obwohl er in ſeiner unbedingten Friedensliebe den Ausbruch des orien-
taliſchen Krieges zu verhindern wünſchte, ſo konnte er ſich doch der phil-
helleniſchen Schwärmerei der öffentlichen Meinung nicht ſo gänzlich ent-
ziehen wie die Hofburg, die von Alters her darauf rechnen durfte, daß
ihre Völker ſich niemals ein Urtheil über die auswärtige Politik erlaubten.
Ein türkenfreundlicher Fanatismus, wie ihn der Oeſterreichiſche Beobachter
zur Schau trug, war in den Spalten der Berliner Staatszeitung un-
möglich, da faſt die geſammte gute Geſellſchaft, bis herauf zu dem Frhrrn.
vom Stein und dem hochkirchlichen weſtphäliſchen Adel, ſich laut für die
Griechen ausſprach. Einmal, im Juli 1821, wagte Ancillon ſogar den Vor-
ſchlag, die chriſtlichen Mächte ſollten durch gemeinſame Verhandlungen bei
der Pforte den Griechen einigen Rechtsſchutz ſichern. Bernſtorff beeilte ſich
freilich, dieſe Denkſchrift ſeines Freundes als eine Privatarbeit zu ver-
leugnen; er ermahnte ſogar im September, auf Metternich’s dringende
Bitte, die Höfe von München und Stuttgart zum Einſchreiten gegen die
revolutionären Umtriebe der Philhellenen: unter den Apoſteln der Frei-
heit, ſo ſchrieb er, habe keiner ſo viel Frechheit an den Tag gelegt wie
Profeſſor Thierſch in München. Nunmehr wurden die öffentlichen Wer-

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[259/0275] Kapodiſtrias’ Fall. der Höfe des alten Jahrhunderts befangen blieb und ſich nichts Schöneres wußte als eine recht flache italieniſche Oper, ſo erſchien es ihm ſehr merk- würdig, daß alle Liberalen die neue deutſche Muſik vorzögen, der falſche Geiſt und der ſchlechte Geſchmack ſich ewig beiſammen fänden. In Petersburg blieb der Rückſchlag nicht aus. Kapodiſtrias verließ den Hof im September mit unbeſtimmtem Urlaub — für immer, wie er wohl wußte. Auch Golowkin forderte ſeine Entlaſſung und wurde durch den glück- lich überliſteten Tatiſtſchew erſetzt. So waren ſie denn Alle in Ungnade ge- fallen, die bedeutenden Männer, die einſt nach und neben einander das Ver- trauen des Czaren gewonnen hatten: Speransky und Stein, Czartoryski, Galitzin, Kapodiſtrias. Nur Einer behauptete ſich vom Anfang bis zum Ende dieſer wechſelreichen Regierung unerſchütterlich in der Gunſt des Herrſchers: der dumme, rohe, heimtückiſche General Araktſchejew, ein Ka- maſchenheld gemeinſten Schlages, knechtiſch nach oben, frech nach unten. Wie ſanfte, hingebende Frauen ſich nicht ſelten zu einem völlig herzloſen Manne dämoniſch hingezogen fühlen, ſo konnte Alexanders weiche Natur dieſen böſen Geſellen nicht entbehren, der in ſeiner glücklichen Selbſt- gewißheit kein Erwägen und kein Schwanken kannte. Der allgemeine Haß, welchen das herriſche Gebahren dieſes Günſtlings hervorrief, fiel auch auf ſeinen Beſchützer zurück. Seit Alexander vor den Osmanen die Segel geſtrichen hatte, begann die Liebe des Volks ſich von dem einſt Vergöt- terten abzuwenden, und je verlaſſener er ſich unter ſeinen Ruſſen fühlte, um ſo feſter klammerte er ſich an den Bund der großen Mächte. Der preußiſche Hof hatte während dieſer Händel ſeine öſterreichiſchen Freunde unterſtützt, doch nur lau und nicht ohne Widerſtreben; denn obwohl er in ſeiner unbedingten Friedensliebe den Ausbruch des orien- taliſchen Krieges zu verhindern wünſchte, ſo konnte er ſich doch der phil- helleniſchen Schwärmerei der öffentlichen Meinung nicht ſo gänzlich ent- ziehen wie die Hofburg, die von Alters her darauf rechnen durfte, daß ihre Völker ſich niemals ein Urtheil über die auswärtige Politik erlaubten. Ein türkenfreundlicher Fanatismus, wie ihn der Oeſterreichiſche Beobachter zur Schau trug, war in den Spalten der Berliner Staatszeitung un- möglich, da faſt die geſammte gute Geſellſchaft, bis herauf zu dem Frhrrn. vom Stein und dem hochkirchlichen weſtphäliſchen Adel, ſich laut für die Griechen ausſprach. Einmal, im Juli 1821, wagte Ancillon ſogar den Vor- ſchlag, die chriſtlichen Mächte ſollten durch gemeinſame Verhandlungen bei der Pforte den Griechen einigen Rechtsſchutz ſichern. Bernſtorff beeilte ſich freilich, dieſe Denkſchrift ſeines Freundes als eine Privatarbeit zu ver- leugnen; er ermahnte ſogar im September, auf Metternich’s dringende Bitte, die Höfe von München und Stuttgart zum Einſchreiten gegen die revolutionären Umtriebe der Philhellenen: unter den Apoſteln der Frei- heit, ſo ſchrieb er, habe keiner ſo viel Frechheit an den Tag gelegt wie Profeſſor Thierſch in München. Nunmehr wurden die öffentlichen Wer- 17*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/275>, abgerufen am 22.11.2024.