Wenn der deutschen Naturforschung gelang, die Philosophie in ihre Schranken zurückzuweisen, dann durfte sie wohl hoffen die Nachbarvölker dereinst noch einzuholen. An Talenten gebrach es ihr schon jetzt nicht. Der Hallenser Meckel war in der vergleichenden Anatomie schon weit über Cuvier hinausgegangen; Soemmering in München hatte bereits im Jahre 1810 die Möglichkeit des elektrischen Telegraphen behauptet; und in Göt- tingen lebte schon, das Lehren verachtend, ganz in die letzten Probleme der reinen Theorie versunken, der Mathematiker Gauß, zu dessen Größe selbst Humboldt mit scheuer Ehrfurcht aufblickte -- einer jener zeitlosen Denker, deren Wirksamkeit erst in dem Leben der kommenden Geschlechter ganz empfunden wird. Er wußte, die Mathematik sei die Königin der Wissenschaften, und seine Zahlentheorie die Königin der Mathematik.
Wenn Hegel in jenen Tagen den Ausspruch that: die Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken gefaßt, so hatte er mindestens den Charakter seines Zeitalters recht verstanden. Fast in der gesammten geistigen Ar- beit der Epoche, in den phantastischen Verirrungen der Naturwissenschaft wie in den fruchtbaren Entdeckungen der Historiker verrieth sich der mäch- tige Einfluß der Ideen Schellings. Seine philosophische Lehre beherrschte noch die deutschen Gedanken, bis sie erst in den zwanziger Jahren durch Hegels System vom Throne gestoßen wurde; selbst die eigenthümlich vor- nehme Haltung dieser Gelehrtengeneration erinnert überall an das Vor- bild des stolzen Philosophen, der alle unheiligen Sohlen so herrisch von der Schwelle seines Tempels abwies. In der That konnte dem Denkerstolze der Deutschen kaum eine größere Genugthuung bereitet werden als durch die Lehre dieses unendlich empfänglichen Geistes, der die Einheit des Realen und Idealen behauptete, die Natur als den sichtbaren Geist, den Geist als die unsichtbare Natur erklärte. Das große Problem der deutschen Philosophie schien gelöst, die Identität von Sein und Denken endlich er- wiesen. Fichte hatte in der Natur nur die Bühne für das Ich gesehen, ohne ihr selbständiges Leben zu erklären; Schelling unternahm zu zeigen, wie sich Gott zweifach offenbare in den gleichlaufenden Sphären der Na- tur und der Geschichte. So ward ihm Alles was da war und ist und sein wird zu einer lebendigen Einheit; in der unendlichen Stufenfolge der Erscheinungen entfaltete sich das eine göttliche Selbstbewußtsein: "vom ersten Ringen dunkler Kräfte bis zum Erguß der höchsten Lebenssäfte ist eine Kraft, ein Wechselspiel und Weben, ein Trieb und Drang nach immer höh'rem Leben." Neben Fichtes einseitigem Idealismus erschien dies all- umfassende System ebenso großartig und überlegen, wie Goethe neben Schiller -- so lange man noch nicht bemerkte, daß der mächtige Gedanken- bau nicht auf sicheren Beweisen, sondern nur auf den kühnen Behaup- tungen eines genialen Kopfes ruhte.
Mit Schelling begann jene krankhafte Ueberhebung der Speculation, die nachher durch Hegel auf die Spitze getrieben und der Strenge unserer
6*
Schelling.
Wenn der deutſchen Naturforſchung gelang, die Philoſophie in ihre Schranken zurückzuweiſen, dann durfte ſie wohl hoffen die Nachbarvölker dereinſt noch einzuholen. An Talenten gebrach es ihr ſchon jetzt nicht. Der Hallenſer Meckel war in der vergleichenden Anatomie ſchon weit über Cuvier hinausgegangen; Soemmering in München hatte bereits im Jahre 1810 die Möglichkeit des elektriſchen Telegraphen behauptet; und in Göt- tingen lebte ſchon, das Lehren verachtend, ganz in die letzten Probleme der reinen Theorie verſunken, der Mathematiker Gauß, zu deſſen Größe ſelbſt Humboldt mit ſcheuer Ehrfurcht aufblickte — einer jener zeitloſen Denker, deren Wirkſamkeit erſt in dem Leben der kommenden Geſchlechter ganz empfunden wird. Er wußte, die Mathematik ſei die Königin der Wiſſenſchaften, und ſeine Zahlentheorie die Königin der Mathematik.
Wenn Hegel in jenen Tagen den Ausſpruch that: die Philoſophie iſt ihre Zeit in Gedanken gefaßt, ſo hatte er mindeſtens den Charakter ſeines Zeitalters recht verſtanden. Faſt in der geſammten geiſtigen Ar- beit der Epoche, in den phantaſtiſchen Verirrungen der Naturwiſſenſchaft wie in den fruchtbaren Entdeckungen der Hiſtoriker verrieth ſich der mäch- tige Einfluß der Ideen Schellings. Seine philoſophiſche Lehre beherrſchte noch die deutſchen Gedanken, bis ſie erſt in den zwanziger Jahren durch Hegels Syſtem vom Throne geſtoßen wurde; ſelbſt die eigenthümlich vor- nehme Haltung dieſer Gelehrtengeneration erinnert überall an das Vor- bild des ſtolzen Philoſophen, der alle unheiligen Sohlen ſo herriſch von der Schwelle ſeines Tempels abwies. In der That konnte dem Denkerſtolze der Deutſchen kaum eine größere Genugthuung bereitet werden als durch die Lehre dieſes unendlich empfänglichen Geiſtes, der die Einheit des Realen und Idealen behauptete, die Natur als den ſichtbaren Geiſt, den Geiſt als die unſichtbare Natur erklärte. Das große Problem der deutſchen Philoſophie ſchien gelöſt, die Identität von Sein und Denken endlich er- wieſen. Fichte hatte in der Natur nur die Bühne für das Ich geſehen, ohne ihr ſelbſtändiges Leben zu erklären; Schelling unternahm zu zeigen, wie ſich Gott zweifach offenbare in den gleichlaufenden Sphären der Na- tur und der Geſchichte. So ward ihm Alles was da war und iſt und ſein wird zu einer lebendigen Einheit; in der unendlichen Stufenfolge der Erſcheinungen entfaltete ſich das eine göttliche Selbſtbewußtſein: „vom erſten Ringen dunkler Kräfte bis zum Erguß der höchſten Lebensſäfte iſt eine Kraft, ein Wechſelſpiel und Weben, ein Trieb und Drang nach immer höh’rem Leben.“ Neben Fichtes einſeitigem Idealismus erſchien dies all- umfaſſende Syſtem ebenſo großartig und überlegen, wie Goethe neben Schiller — ſo lange man noch nicht bemerkte, daß der mächtige Gedanken- bau nicht auf ſicheren Beweiſen, ſondern nur auf den kühnen Behaup- tungen eines genialen Kopfes ruhte.
Mit Schelling begann jene krankhafte Ueberhebung der Speculation, die nachher durch Hegel auf die Spitze getrieben und der Strenge unſerer
6*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0097"n="83"/><fwplace="top"type="header">Schelling.</fw><lb/><p>Wenn der deutſchen Naturforſchung gelang, die Philoſophie in ihre<lb/>
Schranken zurückzuweiſen, dann durfte ſie wohl hoffen die Nachbarvölker<lb/>
dereinſt noch einzuholen. An Talenten gebrach es ihr ſchon jetzt nicht.<lb/>
Der Hallenſer Meckel war in der vergleichenden Anatomie ſchon weit über<lb/>
Cuvier hinausgegangen; Soemmering in München hatte bereits im Jahre<lb/>
1810 die Möglichkeit des elektriſchen Telegraphen behauptet; und in Göt-<lb/>
tingen lebte ſchon, das Lehren verachtend, ganz in die letzten Probleme<lb/>
der reinen Theorie verſunken, der Mathematiker Gauß, zu deſſen Größe<lb/>ſelbſt Humboldt mit ſcheuer Ehrfurcht aufblickte — einer jener zeitloſen<lb/>
Denker, deren Wirkſamkeit erſt in dem Leben der kommenden Geſchlechter<lb/>
ganz empfunden wird. Er wußte, die Mathematik ſei die Königin der<lb/>
Wiſſenſchaften, und ſeine Zahlentheorie die Königin der Mathematik.</p><lb/><p>Wenn Hegel in jenen Tagen den Ausſpruch that: die Philoſophie<lb/>
iſt ihre Zeit in Gedanken gefaßt, ſo hatte er mindeſtens den Charakter<lb/>ſeines Zeitalters recht verſtanden. Faſt in der geſammten geiſtigen Ar-<lb/>
beit der Epoche, in den phantaſtiſchen Verirrungen der Naturwiſſenſchaft<lb/>
wie in den fruchtbaren Entdeckungen der Hiſtoriker verrieth ſich der mäch-<lb/>
tige Einfluß der Ideen Schellings. Seine philoſophiſche Lehre beherrſchte<lb/>
noch die deutſchen Gedanken, bis ſie erſt in den zwanziger Jahren durch<lb/>
Hegels Syſtem vom Throne geſtoßen wurde; ſelbſt die eigenthümlich vor-<lb/>
nehme Haltung dieſer Gelehrtengeneration erinnert überall an das Vor-<lb/>
bild des ſtolzen Philoſophen, der alle unheiligen Sohlen ſo herriſch von der<lb/>
Schwelle ſeines Tempels abwies. In der That konnte dem Denkerſtolze<lb/>
der Deutſchen kaum eine größere Genugthuung bereitet werden als durch<lb/>
die Lehre dieſes unendlich empfänglichen Geiſtes, der die Einheit des Realen<lb/>
und Idealen behauptete, die Natur als den ſichtbaren Geiſt, den Geiſt<lb/>
als die unſichtbare Natur erklärte. Das große Problem der deutſchen<lb/>
Philoſophie ſchien gelöſt, die Identität von Sein und Denken endlich er-<lb/>
wieſen. Fichte hatte in der Natur nur die Bühne für das Ich geſehen,<lb/>
ohne ihr ſelbſtändiges Leben zu erklären; Schelling unternahm zu zeigen,<lb/>
wie ſich Gott zweifach offenbare in den gleichlaufenden Sphären der Na-<lb/>
tur und der Geſchichte. So ward ihm Alles was da war und iſt und<lb/>ſein wird zu einer lebendigen Einheit; in der unendlichen Stufenfolge<lb/>
der Erſcheinungen entfaltete ſich das eine göttliche Selbſtbewußtſein: „vom<lb/>
erſten Ringen dunkler Kräfte bis zum Erguß der höchſten Lebensſäfte iſt<lb/>
eine Kraft, ein Wechſelſpiel und Weben, ein Trieb und Drang nach immer<lb/>
höh’rem Leben.“ Neben Fichtes einſeitigem Idealismus erſchien dies all-<lb/>
umfaſſende Syſtem ebenſo großartig und überlegen, wie Goethe neben<lb/>
Schiller —ſo lange man noch nicht bemerkte, daß der mächtige Gedanken-<lb/>
bau nicht auf ſicheren Beweiſen, ſondern nur auf den kühnen Behaup-<lb/>
tungen eines genialen Kopfes ruhte.</p><lb/><p>Mit Schelling begann jene krankhafte Ueberhebung der Speculation,<lb/>
die nachher durch Hegel auf die Spitze getrieben und der Strenge unſerer<lb/><fwplace="bottom"type="sig">6*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[83/0097]
Schelling.
Wenn der deutſchen Naturforſchung gelang, die Philoſophie in ihre
Schranken zurückzuweiſen, dann durfte ſie wohl hoffen die Nachbarvölker
dereinſt noch einzuholen. An Talenten gebrach es ihr ſchon jetzt nicht.
Der Hallenſer Meckel war in der vergleichenden Anatomie ſchon weit über
Cuvier hinausgegangen; Soemmering in München hatte bereits im Jahre
1810 die Möglichkeit des elektriſchen Telegraphen behauptet; und in Göt-
tingen lebte ſchon, das Lehren verachtend, ganz in die letzten Probleme
der reinen Theorie verſunken, der Mathematiker Gauß, zu deſſen Größe
ſelbſt Humboldt mit ſcheuer Ehrfurcht aufblickte — einer jener zeitloſen
Denker, deren Wirkſamkeit erſt in dem Leben der kommenden Geſchlechter
ganz empfunden wird. Er wußte, die Mathematik ſei die Königin der
Wiſſenſchaften, und ſeine Zahlentheorie die Königin der Mathematik.
Wenn Hegel in jenen Tagen den Ausſpruch that: die Philoſophie
iſt ihre Zeit in Gedanken gefaßt, ſo hatte er mindeſtens den Charakter
ſeines Zeitalters recht verſtanden. Faſt in der geſammten geiſtigen Ar-
beit der Epoche, in den phantaſtiſchen Verirrungen der Naturwiſſenſchaft
wie in den fruchtbaren Entdeckungen der Hiſtoriker verrieth ſich der mäch-
tige Einfluß der Ideen Schellings. Seine philoſophiſche Lehre beherrſchte
noch die deutſchen Gedanken, bis ſie erſt in den zwanziger Jahren durch
Hegels Syſtem vom Throne geſtoßen wurde; ſelbſt die eigenthümlich vor-
nehme Haltung dieſer Gelehrtengeneration erinnert überall an das Vor-
bild des ſtolzen Philoſophen, der alle unheiligen Sohlen ſo herriſch von der
Schwelle ſeines Tempels abwies. In der That konnte dem Denkerſtolze
der Deutſchen kaum eine größere Genugthuung bereitet werden als durch
die Lehre dieſes unendlich empfänglichen Geiſtes, der die Einheit des Realen
und Idealen behauptete, die Natur als den ſichtbaren Geiſt, den Geiſt
als die unſichtbare Natur erklärte. Das große Problem der deutſchen
Philoſophie ſchien gelöſt, die Identität von Sein und Denken endlich er-
wieſen. Fichte hatte in der Natur nur die Bühne für das Ich geſehen,
ohne ihr ſelbſtändiges Leben zu erklären; Schelling unternahm zu zeigen,
wie ſich Gott zweifach offenbare in den gleichlaufenden Sphären der Na-
tur und der Geſchichte. So ward ihm Alles was da war und iſt und
ſein wird zu einer lebendigen Einheit; in der unendlichen Stufenfolge
der Erſcheinungen entfaltete ſich das eine göttliche Selbſtbewußtſein: „vom
erſten Ringen dunkler Kräfte bis zum Erguß der höchſten Lebensſäfte iſt
eine Kraft, ein Wechſelſpiel und Weben, ein Trieb und Drang nach immer
höh’rem Leben.“ Neben Fichtes einſeitigem Idealismus erſchien dies all-
umfaſſende Syſtem ebenſo großartig und überlegen, wie Goethe neben
Schiller — ſo lange man noch nicht bemerkte, daß der mächtige Gedanken-
bau nicht auf ſicheren Beweiſen, ſondern nur auf den kühnen Behaup-
tungen eines genialen Kopfes ruhte.
Mit Schelling begann jene krankhafte Ueberhebung der Speculation,
die nachher durch Hegel auf die Spitze getrieben und der Strenge unſerer
6*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/97>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.