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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Boeckh. G. Hermann.

Unter den Jüngeren, welche sich diese historische Auffassung aneigneten,
stand der Karlsruher August Boeckh obenan, der allbeliebte freimüthige
Lehrer der Berliner Studenten; der hatte in den Bacchanalien der Hei-
delberger Romantiker seinen gründlichen Fleiß nicht eingebüßt, nur seinen
Gesichtskreis erweitert, sein Verständniß für alles Menschliche freier aus-
gebildet. Viele Jahre hindurch trug er sich mit dem Plane, in einem
umfassenden Werke "Hellen" die Einheit des griechischen Lebens in allen
seinen Erscheinungen darzustellen. Der großgedachte Bau kam leider nie-
mals unter Dach. Nur ein Bruchstück erschien im Jahre 1817: "die
Staatshaushaltung der Athener" -- ein erster gelungener Versuch, auch
die griechische Geschichte, nach Niebuhrs Vorbild, als ein wirklich Ge-
schehenes und Erlebtes zu verstehen. Die Historiker frohlockten, da ihnen
hier aus vergessenen und übersehenen Quellen das verschlungene Getriebe
der attischen Volks- und Staatswirthschaft in seinem inneren Zusammen-
hange gezeigt wurde; die Nationalökonomen dagegen verstanden noch nicht,
von der induktiven Methode des geistvollen Philologen Vortheil zu ziehen.
Denn unter allen historischen Wissenschaften war die Volkswirthschafts-
lehre am Weitesten zurückgeblieben; sie ruhte noch aus auf der mißver-
standenen Doktrin Adam Smiths und wähnte noch nach der Weise des
Naturrechts das historische Leben der Völker in das Joch ewig giltiger
abstrakter Regeln spannen zu können.

Wie Lachmann neben Jakob Grimm so stand neben Boeckhs sachlich
historischer Richtung die Schule der formalen classischen Philologie, die
in Gottfried Hermanns Griechischer Gesellschaft zu Leipzig fast ein halbes
Jahrhundert hindurch ihre fruchtbare Pflanzstätte behielt. Hier blühten
Grammatik, Metrik, streng methodische Textkritik. In ihrem gefeierten
Lehrer vereinigte sich Alles, was die alte obersächsische Gelehrsamkeit aus-
zeichnete: gründliches Wissen und tief eindringender Scharfsinn, eiserner
Fleiß und urbane Duldsamkeit, aber auch ein nüchterner Rationalismus,
der von der geheimnißvollen Nachtseite des historischen Lebens grundsätzlich
nichts sehen wollte. Beide Schulen hatten von Wolf gelernt und Vieles
blieb ihnen gemeinsam; war doch auch der Berliner Immanuel Bekker
unter Wolfs Augen groß geworden, der wortkarge Meister der Kritik,
der mit sicherer Hand so viele griechische Texte auf diplomatischer Grund-
lage herstellte ohne sich je zu einer Erläuterung herabzulassen.

Selbständig neben beiden ging die hochromantische Schule der Sym-
boliker, von Friedrich Creuzer geführt, ihre wunderlichen Wege. Creuzers
rege Phantasie fühlte sich von frühauf mächtig hingezogen zu der Welt
des Uebersinnlichen und Geheimnißvollen. Schon zu Anfang der achtziger
Jahre, lange bevor die Romantik erwachte, begeisterte sich dieser geborne
Romantiker daheim in Marburg an dem Anblick der himmelanstrebenden
gothischen Pfeiler der Elisabethkirche; dann schloß er Freundschaft mit
Novalis, mit Görres, mit dem Heidelberger Dichterkreise, aber auch mit

Boeckh. G. Hermann.

Unter den Jüngeren, welche ſich dieſe hiſtoriſche Auffaſſung aneigneten,
ſtand der Karlsruher Auguſt Boeckh obenan, der allbeliebte freimüthige
Lehrer der Berliner Studenten; der hatte in den Bacchanalien der Hei-
delberger Romantiker ſeinen gründlichen Fleiß nicht eingebüßt, nur ſeinen
Geſichtskreis erweitert, ſein Verſtändniß für alles Menſchliche freier aus-
gebildet. Viele Jahre hindurch trug er ſich mit dem Plane, in einem
umfaſſenden Werke „Hellen“ die Einheit des griechiſchen Lebens in allen
ſeinen Erſcheinungen darzuſtellen. Der großgedachte Bau kam leider nie-
mals unter Dach. Nur ein Bruchſtück erſchien im Jahre 1817: „die
Staatshaushaltung der Athener“ — ein erſter gelungener Verſuch, auch
die griechiſche Geſchichte, nach Niebuhrs Vorbild, als ein wirklich Ge-
ſchehenes und Erlebtes zu verſtehen. Die Hiſtoriker frohlockten, da ihnen
hier aus vergeſſenen und überſehenen Quellen das verſchlungene Getriebe
der attiſchen Volks- und Staatswirthſchaft in ſeinem inneren Zuſammen-
hange gezeigt wurde; die Nationalökonomen dagegen verſtanden noch nicht,
von der induktiven Methode des geiſtvollen Philologen Vortheil zu ziehen.
Denn unter allen hiſtoriſchen Wiſſenſchaften war die Volkswirthſchafts-
lehre am Weiteſten zurückgeblieben; ſie ruhte noch aus auf der mißver-
ſtandenen Doktrin Adam Smiths und wähnte noch nach der Weiſe des
Naturrechts das hiſtoriſche Leben der Völker in das Joch ewig giltiger
abſtrakter Regeln ſpannen zu können.

Wie Lachmann neben Jakob Grimm ſo ſtand neben Boeckhs ſachlich
hiſtoriſcher Richtung die Schule der formalen claſſiſchen Philologie, die
in Gottfried Hermanns Griechiſcher Geſellſchaft zu Leipzig faſt ein halbes
Jahrhundert hindurch ihre fruchtbare Pflanzſtätte behielt. Hier blühten
Grammatik, Metrik, ſtreng methodiſche Textkritik. In ihrem gefeierten
Lehrer vereinigte ſich Alles, was die alte oberſächſiſche Gelehrſamkeit aus-
zeichnete: gründliches Wiſſen und tief eindringender Scharfſinn, eiſerner
Fleiß und urbane Duldſamkeit, aber auch ein nüchterner Rationalismus,
der von der geheimnißvollen Nachtſeite des hiſtoriſchen Lebens grundſätzlich
nichts ſehen wollte. Beide Schulen hatten von Wolf gelernt und Vieles
blieb ihnen gemeinſam; war doch auch der Berliner Immanuel Bekker
unter Wolfs Augen groß geworden, der wortkarge Meiſter der Kritik,
der mit ſicherer Hand ſo viele griechiſche Texte auf diplomatiſcher Grund-
lage herſtellte ohne ſich je zu einer Erläuterung herabzulaſſen.

Selbſtändig neben beiden ging die hochromantiſche Schule der Sym-
boliker, von Friedrich Creuzer geführt, ihre wunderlichen Wege. Creuzers
rege Phantaſie fühlte ſich von frühauf mächtig hingezogen zu der Welt
des Ueberſinnlichen und Geheimnißvollen. Schon zu Anfang der achtziger
Jahre, lange bevor die Romantik erwachte, begeiſterte ſich dieſer geborne
Romantiker daheim in Marburg an dem Anblick der himmelanſtrebenden
gothiſchen Pfeiler der Eliſabethkirche; dann ſchloß er Freundſchaft mit
Novalis, mit Görres, mit dem Heidelberger Dichterkreiſe, aber auch mit

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[73/0087] Boeckh. G. Hermann. Unter den Jüngeren, welche ſich dieſe hiſtoriſche Auffaſſung aneigneten, ſtand der Karlsruher Auguſt Boeckh obenan, der allbeliebte freimüthige Lehrer der Berliner Studenten; der hatte in den Bacchanalien der Hei- delberger Romantiker ſeinen gründlichen Fleiß nicht eingebüßt, nur ſeinen Geſichtskreis erweitert, ſein Verſtändniß für alles Menſchliche freier aus- gebildet. Viele Jahre hindurch trug er ſich mit dem Plane, in einem umfaſſenden Werke „Hellen“ die Einheit des griechiſchen Lebens in allen ſeinen Erſcheinungen darzuſtellen. Der großgedachte Bau kam leider nie- mals unter Dach. Nur ein Bruchſtück erſchien im Jahre 1817: „die Staatshaushaltung der Athener“ — ein erſter gelungener Verſuch, auch die griechiſche Geſchichte, nach Niebuhrs Vorbild, als ein wirklich Ge- ſchehenes und Erlebtes zu verſtehen. Die Hiſtoriker frohlockten, da ihnen hier aus vergeſſenen und überſehenen Quellen das verſchlungene Getriebe der attiſchen Volks- und Staatswirthſchaft in ſeinem inneren Zuſammen- hange gezeigt wurde; die Nationalökonomen dagegen verſtanden noch nicht, von der induktiven Methode des geiſtvollen Philologen Vortheil zu ziehen. Denn unter allen hiſtoriſchen Wiſſenſchaften war die Volkswirthſchafts- lehre am Weiteſten zurückgeblieben; ſie ruhte noch aus auf der mißver- ſtandenen Doktrin Adam Smiths und wähnte noch nach der Weiſe des Naturrechts das hiſtoriſche Leben der Völker in das Joch ewig giltiger abſtrakter Regeln ſpannen zu können. Wie Lachmann neben Jakob Grimm ſo ſtand neben Boeckhs ſachlich hiſtoriſcher Richtung die Schule der formalen claſſiſchen Philologie, die in Gottfried Hermanns Griechiſcher Geſellſchaft zu Leipzig faſt ein halbes Jahrhundert hindurch ihre fruchtbare Pflanzſtätte behielt. Hier blühten Grammatik, Metrik, ſtreng methodiſche Textkritik. In ihrem gefeierten Lehrer vereinigte ſich Alles, was die alte oberſächſiſche Gelehrſamkeit aus- zeichnete: gründliches Wiſſen und tief eindringender Scharfſinn, eiſerner Fleiß und urbane Duldſamkeit, aber auch ein nüchterner Rationalismus, der von der geheimnißvollen Nachtſeite des hiſtoriſchen Lebens grundſätzlich nichts ſehen wollte. Beide Schulen hatten von Wolf gelernt und Vieles blieb ihnen gemeinſam; war doch auch der Berliner Immanuel Bekker unter Wolfs Augen groß geworden, der wortkarge Meiſter der Kritik, der mit ſicherer Hand ſo viele griechiſche Texte auf diplomatiſcher Grund- lage herſtellte ohne ſich je zu einer Erläuterung herabzulaſſen. Selbſtändig neben beiden ging die hochromantiſche Schule der Sym- boliker, von Friedrich Creuzer geführt, ihre wunderlichen Wege. Creuzers rege Phantaſie fühlte ſich von frühauf mächtig hingezogen zu der Welt des Ueberſinnlichen und Geheimnißvollen. Schon zu Anfang der achtziger Jahre, lange bevor die Romantik erwachte, begeiſterte ſich dieſer geborne Romantiker daheim in Marburg an dem Anblick der himmelanſtrebenden gothiſchen Pfeiler der Eliſabethkirche; dann ſchloß er Freundſchaft mit Novalis, mit Görres, mit dem Heidelberger Dichterkreiſe, aber auch mit

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/87>, abgerufen am 23.11.2024.