Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. wurde nicht nur der Begründer der neuen kritischen Geschichtschreibungdurch die geniale Selbständigkeit seiner Forschung, die überall bis zu den letzten Quellen der Ueberlieferung vordrang, er stellte auch den Staat wieder, wie ihm gebührt, breit in die Mitte der historischen Bühne und bewährte durch die That die Ansicht der Griechen, daß der Historiker vor Allem ein politischer Kopf sein soll. Er wußte, wie rasch die Cultur und die sittliche Kraft der Völker dahinwelkt, wenn ihnen die Macht fehlt sich die Achtung der Welt zu erzwingen, und schilderte mit schonungsloser Härte die Verkümmerung des deutschen Charakters durch das leere Scheinleben der Kleinstaaterei: wie kleinlich, afterrednerisch, verunglimpfend sei dies Geschlecht geworden, "Ehren ist ihm ein entsetzlich drückendes Gefühl." In der engen Welt des Alterthums und des Mittelalters konnten kleine Staaten sich als Träger der Gesittung behaupten; heutzutage "ist nur noch in großen Staaten, die das Gleichartige zusammenfassen, volles Leben möglich". Seine Ansicht vom Staate hatte er sich durch das Leben gebildet, durch das Anschauen der uralten Bauernfreiheit seiner Heimath Ditmarschen, durch Reisen in England und Holland, durch lange Thätig- keit als Bankdirektor und Verwaltungsbeamter. So ward er wie Stein ein abgesagter Feind aller politischen Systemsucht und fand wie Jener den Eckstein der Freiheit in der Selbstverwaltung, die den Bürger ge- wöhne mannhaft auf eigenen Füßen zu stehen und das Regieren, nach der Weise der Alten, handanlegend zu lernen. Es kommt, so schloß er, mehr darauf an, ob die Unterthanen in den einzelnen Gemeinden sich unmündig befinden, als darauf, ob die Grenzen zwischen der Gewalt der Regierung und der Repräsentation etwas weiter vorwärts oder zurück ge- zogen sind. Daher erkannte er sogleich, daß Frankreich trotz der Charte der Bourbonen noch immer ein Land des Despotismus war, da die napoleonische Verwaltungsordnung unverändert fortbestand. Um seine Landsleute vor der einseitigen Ueberschätzung der constitutionellen Staats- formen zu warnen und sie wieder an die gesunden Grundgedanken des Steinschen Reformwerks zu erinnern, gab er gleich nach dem Frieden jene Abhandlung Vinckes über die englische Verwaltung, die einst unter Steins Augen entstanden war *), heraus und sagte in seinem Vorwort, zum Entsetzen der liberalen Welt, rundweg: "die Freiheit beruht ungleich mehr auf der Verwaltung als auf der Verfassung." Auch seine Römische Geschichte war ebenso sehr ein erlebtes Werk *) I. 274.
II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. wurde nicht nur der Begründer der neuen kritiſchen Geſchichtſchreibungdurch die geniale Selbſtändigkeit ſeiner Forſchung, die überall bis zu den letzten Quellen der Ueberlieferung vordrang, er ſtellte auch den Staat wieder, wie ihm gebührt, breit in die Mitte der hiſtoriſchen Bühne und bewährte durch die That die Anſicht der Griechen, daß der Hiſtoriker vor Allem ein politiſcher Kopf ſein ſoll. Er wußte, wie raſch die Cultur und die ſittliche Kraft der Völker dahinwelkt, wenn ihnen die Macht fehlt ſich die Achtung der Welt zu erzwingen, und ſchilderte mit ſchonungsloſer Härte die Verkümmerung des deutſchen Charakters durch das leere Scheinleben der Kleinſtaaterei: wie kleinlich, afterredneriſch, verunglimpfend ſei dies Geſchlecht geworden, „Ehren iſt ihm ein entſetzlich drückendes Gefühl.“ In der engen Welt des Alterthums und des Mittelalters konnten kleine Staaten ſich als Träger der Geſittung behaupten; heutzutage „iſt nur noch in großen Staaten, die das Gleichartige zuſammenfaſſen, volles Leben möglich“. Seine Anſicht vom Staate hatte er ſich durch das Leben gebildet, durch das Anſchauen der uralten Bauernfreiheit ſeiner Heimath Ditmarſchen, durch Reiſen in England und Holland, durch lange Thätig- keit als Bankdirektor und Verwaltungsbeamter. So ward er wie Stein ein abgeſagter Feind aller politiſchen Syſtemſucht und fand wie Jener den Eckſtein der Freiheit in der Selbſtverwaltung, die den Bürger ge- wöhne mannhaft auf eigenen Füßen zu ſtehen und das Regieren, nach der Weiſe der Alten, handanlegend zu lernen. Es kommt, ſo ſchloß er, mehr darauf an, ob die Unterthanen in den einzelnen Gemeinden ſich unmündig befinden, als darauf, ob die Grenzen zwiſchen der Gewalt der Regierung und der Repräſentation etwas weiter vorwärts oder zurück ge- zogen ſind. Daher erkannte er ſogleich, daß Frankreich trotz der Charte der Bourbonen noch immer ein Land des Despotismus war, da die napoleoniſche Verwaltungsordnung unverändert fortbeſtand. Um ſeine Landsleute vor der einſeitigen Ueberſchätzung der conſtitutionellen Staats- formen zu warnen und ſie wieder an die geſunden Grundgedanken des Steinſchen Reformwerks zu erinnern, gab er gleich nach dem Frieden jene Abhandlung Vinckes über die engliſche Verwaltung, die einſt unter Steins Augen entſtanden war *), heraus und ſagte in ſeinem Vorwort, zum Entſetzen der liberalen Welt, rundweg: „die Freiheit beruht ungleich mehr auf der Verwaltung als auf der Verfaſſung.“ Auch ſeine Römiſche Geſchichte war ebenſo ſehr ein erlebtes Werk *) I. 274.
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II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
wurde nicht nur der Begründer der neuen kritiſchen Geſchichtſchreibung
durch die geniale Selbſtändigkeit ſeiner Forſchung, die überall bis zu den
letzten Quellen der Ueberlieferung vordrang, er ſtellte auch den Staat
wieder, wie ihm gebührt, breit in die Mitte der hiſtoriſchen Bühne und
bewährte durch die That die Anſicht der Griechen, daß der Hiſtoriker vor
Allem ein politiſcher Kopf ſein ſoll. Er wußte, wie raſch die Cultur und
die ſittliche Kraft der Völker dahinwelkt, wenn ihnen die Macht fehlt ſich
die Achtung der Welt zu erzwingen, und ſchilderte mit ſchonungsloſer Härte
die Verkümmerung des deutſchen Charakters durch das leere Scheinleben
der Kleinſtaaterei: wie kleinlich, afterredneriſch, verunglimpfend ſei dies
Geſchlecht geworden, „Ehren iſt ihm ein entſetzlich drückendes Gefühl.“
In der engen Welt des Alterthums und des Mittelalters konnten kleine
Staaten ſich als Träger der Geſittung behaupten; heutzutage „iſt nur
noch in großen Staaten, die das Gleichartige zuſammenfaſſen, volles
Leben möglich“. Seine Anſicht vom Staate hatte er ſich durch das Leben
gebildet, durch das Anſchauen der uralten Bauernfreiheit ſeiner Heimath
Ditmarſchen, durch Reiſen in England und Holland, durch lange Thätig-
keit als Bankdirektor und Verwaltungsbeamter. So ward er wie Stein
ein abgeſagter Feind aller politiſchen Syſtemſucht und fand wie Jener
den Eckſtein der Freiheit in der Selbſtverwaltung, die den Bürger ge-
wöhne mannhaft auf eigenen Füßen zu ſtehen und das Regieren, nach
der Weiſe der Alten, handanlegend zu lernen. Es kommt, ſo ſchloß er,
mehr darauf an, ob die Unterthanen in den einzelnen Gemeinden ſich
unmündig befinden, als darauf, ob die Grenzen zwiſchen der Gewalt der
Regierung und der Repräſentation etwas weiter vorwärts oder zurück ge-
zogen ſind. Daher erkannte er ſogleich, daß Frankreich trotz der Charte
der Bourbonen noch immer ein Land des Despotismus war, da die
napoleoniſche Verwaltungsordnung unverändert fortbeſtand. Um ſeine
Landsleute vor der einſeitigen Ueberſchätzung der conſtitutionellen Staats-
formen zu warnen und ſie wieder an die geſunden Grundgedanken des
Steinſchen Reformwerks zu erinnern, gab er gleich nach dem Frieden
jene Abhandlung Vinckes über die engliſche Verwaltung, die einſt unter
Steins Augen entſtanden war *), heraus und ſagte in ſeinem Vorwort,
zum Entſetzen der liberalen Welt, rundweg: „die Freiheit beruht ungleich
mehr auf der Verwaltung als auf der Verfaſſung.“
Auch ſeine Römiſche Geſchichte war ebenſo ſehr ein erlebtes Werk
als ein Erzeugniß der gelehrten Forſchung; darum zählten ſie ſchon die
Zeitgenoſſen zu jenen claſſiſchen Büchern, welche niemals überwunden
werden auch wenn ſie in jedem einzelnen Satze widerlegt ſind. Indem
er das Verſchwundene ins Daſein zurückrief genoß er die Seligkeit des
Schaffens; und wie er niemals nur mit einer Kraft ſeiner Seele thätig
ſein konnte, ſo legte er auch die ganze Innigkeit ſeiner leidenſchaftlichen
*) I. 274.
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