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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
auf deutschem Boden heimisch; sie lernte, daß der Kern unseres Volks-
thums trotz der Mannichfaltigkeit der Lebensformen in allen deutschen
Gauen derselbe ist, und sah mit wachsendem Unwillen auf die künstlichen
trennenden Schranken, welche die Politik mitten durch dies einige Volk
gezogen hatte. Leider wurden fast nur die Norddeutschen dieser Erkennt-
niß theilhaftig. Da Niederdeutschland von den romantischen Herrlichkeiten,
welche diesem Geschlechte allein als sehenswerth galten, nur wenig bot,
so kamen die Süddeutschen selten aus ihren schönen heimischen Bergen her-
aus. Während im Norden bald kaum ein gebildeter Mann mehr lebte,
der nicht etwas von Land und Leuten des Südens gesehen, blühte im
Oberlande die particularistische Selbstgefälligkeit, das Kind der Unkennt-
niß. Süddeutschland blieb noch auf lange hinaus die Hochburg der ge-
hässigen Stammesvorurtheile. Im Norden fanden sich, außerhalb Ber-
lins, immer nur einzelne Thoren, die den Süddeutschen Verstand und
Bildung absprachen. Weit häufiger hörte man im Süden die Lästerrede,
den Norddeutschen fehle das Gemüth; mancher wackere Oberländer stellte
sich die Landschaften nördlich des Mains wie eine endlose traurige Ebene
vor und meinte, unter diesem winterlichen Himmel gedeihe nur noch Sand
und ästhetischer Thee, Kritik und Junkerthum.


Der mächtige Umschwung der gesammten Weltanschauung, der sich
innerhalb der deutschen Wissenschaft, seit ihrer Einkehr in das historische
Leben, zu vollziehen begann, der ganze Gegensatz des alten und neuen
Jahrhunderts fand schon zur Zeit des Wiener Congresses einen denk-
würdigen Ausdruck in einem gelehrten Streite, dessen tiefer Sinn im
Ausland noch gar nicht, in Deutschland selbst nur von Wenigen ganz
begriffen wurde. Die ersehnte Wiederaufrichtung des deutschen Reichs
war durch den raschen Verlauf des Krieges vereitelt worden. Um so lei-
denschaftlicher hielten die enttäuschten Patrioten an den Hoffnungen fest,
deren Erfüllung man auch unter dem Deutschen Bunde noch als möglich
ansah; und von diesen erschien keine so billig, so bescheiden wie das Ver-
langen nach Einheit des nationalen Rechts. Ueber die nothwendige Be-
seitigung des aufgedrungenen Code Napoleon waren Regierungen und
Regierte in jenem Augenblicke einig. Sollte man nun statt der franzö-
sischen Gesetzbücher das alte gemeine Recht wieder einführen, jenes Recht
der römischen Juristen, das die teutonischen Eiferer als den Todfeind
germanischer Gemeinfreiheit betrachteten? und dazu jenen Wust von Lokal-
Rechten, dessen buntscheckige Mannichfaltigkeit den Patrioten wie den Phi-
losophen gleich anstößig war? Die Stunde schien gekommen, durch ein
nationales Gesetzbuch das fremdländische Wesen und den Particularis-
mus zugleich zu überwinden. Waren doch die großen Grundgedanken des

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
auf deutſchem Boden heimiſch; ſie lernte, daß der Kern unſeres Volks-
thums trotz der Mannichfaltigkeit der Lebensformen in allen deutſchen
Gauen derſelbe iſt, und ſah mit wachſendem Unwillen auf die künſtlichen
trennenden Schranken, welche die Politik mitten durch dies einige Volk
gezogen hatte. Leider wurden faſt nur die Norddeutſchen dieſer Erkennt-
niß theilhaftig. Da Niederdeutſchland von den romantiſchen Herrlichkeiten,
welche dieſem Geſchlechte allein als ſehenswerth galten, nur wenig bot,
ſo kamen die Süddeutſchen ſelten aus ihren ſchönen heimiſchen Bergen her-
aus. Während im Norden bald kaum ein gebildeter Mann mehr lebte,
der nicht etwas von Land und Leuten des Südens geſehen, blühte im
Oberlande die particulariſtiſche Selbſtgefälligkeit, das Kind der Unkennt-
niß. Süddeutſchland blieb noch auf lange hinaus die Hochburg der ge-
häſſigen Stammesvorurtheile. Im Norden fanden ſich, außerhalb Ber-
lins, immer nur einzelne Thoren, die den Süddeutſchen Verſtand und
Bildung abſprachen. Weit häufiger hörte man im Süden die Läſterrede,
den Norddeutſchen fehle das Gemüth; mancher wackere Oberländer ſtellte
ſich die Landſchaften nördlich des Mains wie eine endloſe traurige Ebene
vor und meinte, unter dieſem winterlichen Himmel gedeihe nur noch Sand
und äſthetiſcher Thee, Kritik und Junkerthum.


Der mächtige Umſchwung der geſammten Weltanſchauung, der ſich
innerhalb der deutſchen Wiſſenſchaft, ſeit ihrer Einkehr in das hiſtoriſche
Leben, zu vollziehen begann, der ganze Gegenſatz des alten und neuen
Jahrhunderts fand ſchon zur Zeit des Wiener Congreſſes einen denk-
würdigen Ausdruck in einem gelehrten Streite, deſſen tiefer Sinn im
Ausland noch gar nicht, in Deutſchland ſelbſt nur von Wenigen ganz
begriffen wurde. Die erſehnte Wiederaufrichtung des deutſchen Reichs
war durch den raſchen Verlauf des Krieges vereitelt worden. Um ſo lei-
denſchaftlicher hielten die enttäuſchten Patrioten an den Hoffnungen feſt,
deren Erfüllung man auch unter dem Deutſchen Bunde noch als möglich
anſah; und von dieſen erſchien keine ſo billig, ſo beſcheiden wie das Ver-
langen nach Einheit des nationalen Rechts. Ueber die nothwendige Be-
ſeitigung des aufgedrungenen Code Napoleon waren Regierungen und
Regierte in jenem Augenblicke einig. Sollte man nun ſtatt der franzö-
ſiſchen Geſetzbücher das alte gemeine Recht wieder einführen, jenes Recht
der römiſchen Juriſten, das die teutoniſchen Eiferer als den Todfeind
germaniſcher Gemeinfreiheit betrachteten? und dazu jenen Wuſt von Lokal-
Rechten, deſſen buntſcheckige Mannichfaltigkeit den Patrioten wie den Phi-
loſophen gleich anſtößig war? Die Stunde ſchien gekommen, durch ein
nationales Geſetzbuch das fremdländiſche Weſen und den Particularis-
mus zugleich zu überwinden. Waren doch die großen Grundgedanken des

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[58/0072] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. auf deutſchem Boden heimiſch; ſie lernte, daß der Kern unſeres Volks- thums trotz der Mannichfaltigkeit der Lebensformen in allen deutſchen Gauen derſelbe iſt, und ſah mit wachſendem Unwillen auf die künſtlichen trennenden Schranken, welche die Politik mitten durch dies einige Volk gezogen hatte. Leider wurden faſt nur die Norddeutſchen dieſer Erkennt- niß theilhaftig. Da Niederdeutſchland von den romantiſchen Herrlichkeiten, welche dieſem Geſchlechte allein als ſehenswerth galten, nur wenig bot, ſo kamen die Süddeutſchen ſelten aus ihren ſchönen heimiſchen Bergen her- aus. Während im Norden bald kaum ein gebildeter Mann mehr lebte, der nicht etwas von Land und Leuten des Südens geſehen, blühte im Oberlande die particulariſtiſche Selbſtgefälligkeit, das Kind der Unkennt- niß. Süddeutſchland blieb noch auf lange hinaus die Hochburg der ge- häſſigen Stammesvorurtheile. Im Norden fanden ſich, außerhalb Ber- lins, immer nur einzelne Thoren, die den Süddeutſchen Verſtand und Bildung abſprachen. Weit häufiger hörte man im Süden die Läſterrede, den Norddeutſchen fehle das Gemüth; mancher wackere Oberländer ſtellte ſich die Landſchaften nördlich des Mains wie eine endloſe traurige Ebene vor und meinte, unter dieſem winterlichen Himmel gedeihe nur noch Sand und äſthetiſcher Thee, Kritik und Junkerthum. Der mächtige Umſchwung der geſammten Weltanſchauung, der ſich innerhalb der deutſchen Wiſſenſchaft, ſeit ihrer Einkehr in das hiſtoriſche Leben, zu vollziehen begann, der ganze Gegenſatz des alten und neuen Jahrhunderts fand ſchon zur Zeit des Wiener Congreſſes einen denk- würdigen Ausdruck in einem gelehrten Streite, deſſen tiefer Sinn im Ausland noch gar nicht, in Deutſchland ſelbſt nur von Wenigen ganz begriffen wurde. Die erſehnte Wiederaufrichtung des deutſchen Reichs war durch den raſchen Verlauf des Krieges vereitelt worden. Um ſo lei- denſchaftlicher hielten die enttäuſchten Patrioten an den Hoffnungen feſt, deren Erfüllung man auch unter dem Deutſchen Bunde noch als möglich anſah; und von dieſen erſchien keine ſo billig, ſo beſcheiden wie das Ver- langen nach Einheit des nationalen Rechts. Ueber die nothwendige Be- ſeitigung des aufgedrungenen Code Napoleon waren Regierungen und Regierte in jenem Augenblicke einig. Sollte man nun ſtatt der franzö- ſiſchen Geſetzbücher das alte gemeine Recht wieder einführen, jenes Recht der römiſchen Juriſten, das die teutoniſchen Eiferer als den Todfeind germaniſcher Gemeinfreiheit betrachteten? und dazu jenen Wuſt von Lokal- Rechten, deſſen buntſcheckige Mannichfaltigkeit den Patrioten wie den Phi- loſophen gleich anſtößig war? Die Stunde ſchien gekommen, durch ein nationales Geſetzbuch das fremdländiſche Weſen und den Particularis- mus zugleich zu überwinden. Waren doch die großen Grundgedanken des

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/72>, abgerufen am 24.11.2024.